Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
Herr Pinchevski, wenn es um die Bedeutung der Shoah in der israelischen Gesellschaft geht, fällt oft der Begriff „kollektives“ bzw. „kulturelles Trauma“. Können Sie dieses Konzept näher beschreiben? Was bedeutet es für die israelische Gesellschaft?
„Kollektives Trauma“ oder „kulturelles Trauma“ ist ein Begriff, der von Soziologen verwendet wird, um Ereignisse zu beschreiben, deren Erfahrung zu einem Trauma (griechisch Wunde) einer ganzen Gesellschaft führt. Der soziologische Traumabegriff unterscheidet sich dabei von der psychologischen oder psychiatrischen Definition, die für gewöhnlich die Beeinträchtigung der individuellen Psyche meint. Das Trauma einer Gesellschaft muss hingegen keine Auswirkungen auf jedes einzelne Individuum haben, wohl aber auf die Gesellschaft als Ganzes. Oder präziser: Es beeinflusst das soziale Gefüge, die Erwartungen, die Ideen und die Normen – all jene Teile, die eine Gesellschaft zusammenhalten. In diesem Sinne ist das kollektive Trauma das Ergebnis von Vermittlung und Repräsentation, und nicht einer direkten Belastung. Es handelt sich nicht um einen individuellen, sondern um einen sozialen Prozess. Das bedeutet, dass Ereignisse nicht von sich aus traumatisch für eine Gesellschaft sind, sondern erst als traumatisch dargestellt werden. So sind etwa die Ereignisse von 9/11 ein eindeutiges Beispiel für ein kollektives Trauma. Es ist zudem genauso möglich, dass Ereignisse retrospektiv zum kollektiven Trauma werden, also wenn sie bereits in der Vergangenheit liegen. Es gibt eine Latenz bei der Bewältigung der Vergangenheit und dieser Prozess selbst kann in einem kulturellen Trauma münden. Somit können vermutlich die gestaltenden Erzählungen aller Gesellschaften auf die eine oder andere Weise als kollektives Trauma bezeichnet werden.
Hinsichtlich der israelischen Gesellschaft glaube ich, dass der Holocaust auf kollektiver Ebene erst nach einer gewissen Zeit und nicht direkt nach dem Krieg als traumatisierend empfunden wurde. Der Eichmann-Prozess spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Einige Historiker argumentieren, dass der Prozess eine Periode des kollektiven Schweigens beendete. Dies mag in anbetracht der Tatsache, dass Überlebende schon lange vorher über ihre Erlebnisse sprachen und schrieben als übertrieben erscheinen. Trotzdem hatte der Prozess einen maßgeblichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs in Israel. Es war das erste Mal, dass Holocaustüberlebende über ihre Erfahrungen in der Öffentlichkeit sprachen – und ihnen zugehört wurde. Der Sechstagekrieg von 1967 und der Yom-Kippur-Krieg von 1973 waren weitere Vorfälle, die dazu beitrugen, die Erinnerung an den Holocaust als traumatisches Ereignis in das Bewusstsein zurückzurufen. Dies war die Zeit, in der die Kinder der Überlebenden, die zweite Generation nach dem Holocaust, selbst anfingen darüber zu berichten, wie die traumatischen Erinnerungen ihrer Eltern ihr eigenes Leben beeinflussten. Dieser Prozess hält bis heute an, nun in der dritten Generation.
Der Eichmann-Prozess war wie noch kein Gerichtsprozess zuvor ein internationales Medienereignis. In Ihrem Aufsatz Severed Voices: Radio and the Mediation of Trauma in the Eichmann Trial betonen Sie die Rolle, die das Radio während des Prozesses gespielt hat. Können Sie erklären, wie dieses Medium die Art und Weise beeinflusst hat, wie die Shoah in der israelischen Gesellschaft verstanden und diskutiert wurde?
Zuersteinmal muss daran erinnert werden, dass das Radio im Jahre 1961 das einzige übertragende Medium in Israel war – der Fernseher stand erst eine Dekade später zur Verfügung. Bereits ab dem ersten Gerichtstag wurden Prozess-Berichte über das Radio gesendet. Noch heute erinnern sich viele Israelis an die Live-Übertragungen aus dem Gerichtsraum und sind davon überzeugt, dass diese täglich stattfanden – ein Detail, das auch in Geschichtsbüchern auftaucht. Tatsächlich gab es allerdings insgesamt nur zwölf bis fünfzehn Live-Übertragungen aus dem Gerichtsaal, der Rest waren Zusammenschnitte für die Abendnachrichten. Aber diese falsche Erinnerung birgt eine versteckte Wahrheit: die Gerichtsverhandlung hatte über ihre viermonatige Dauer einen derartigen Einfluss auf das Alltagsleben, dass viele, wenn sie an diese Zeit zurückdenken, davon überzeugt sind, es hätte tägliche Live-Übertragungen gegeben.
Das Radio prägte die Erinnerung an den Prozess überdies auf einer tieferen Ebene. Die Überlebenden der Shoah wurden vor dem Prozess in der Öffentlichkeit als sprachlose, traumatisierte Personen wahrgenommen, die manchmal am Rande der Gesellschaft lebten (eine aufschlussreiche Beschreibung findet sich in David Grossmans Roman Stichwort: Liebe). Das Radio ermöglichte eine Loslösung vom Bild des sprachlosen Überlebenden indem es einen Zustand der „entkörperten Sprache“ ermöglichte. Die Überführung in den Äther bringt eine Neugestaltung der Ausdrucksmöglichkeiten mit sich. Das Radio schuf die Basis, jenen zuzuhören, denen zuvor die Stimme vorenthalten wurde.
Das Bild Eichmanns in dem Glaskasten wurde zu einer weltweiten Medienikone. Es ist kein Zufall, dass die Erinnerung an den Prozess in Israel auch akustische Assoziationen aufweist. Das Radio spielte eine Schlüsselrolle in dem Vorgang, der die Überlebenden dazu brachte, öffentlich Zeugnis abzulegen und das erste Mal in Israel gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren.
Können Sie skizzieren, wie die Shoah heute in den israelischen Medien dargestellt und in der Öffentlichkeit diskutiert wird?
Es gibt viele und verschiedene Darstellungen des Holocaust in den israelischen Medien und es bedürfte einer längeren Diskussion, um aktuelle Trends herauszuarbeiten. Die Erinnerung an den Holocaust ist eine konstante Referenzquelle israelischer Politik, dies zeigen beispielsweise die wiederholten Vergleiche zwischen Nazi-Deutschland und dem heutigen Iran, die der israelische Ministerpräsident Netanyahu zog – besonders während seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag. Das nationale Narrativ des Holocaust ist auch in den israelischen Mainstream-Medien zu erkennen, speziell im Fernsehprogramm am Holocaust-Gedenktag. An dieser Stelle wären aber auch neue Stimmen im Dokumentarfilmbereich zu nennen: Filme von Regisseuren aus der dritten Generation, wie The Flat (Arnon Goldfinger, 2011), Farewell, Herr Schwartz (Yael Reuveny, 2014) und A Film Unfinished (Yael Hersonski, 2010), die die intergenerationelle Übertragung der traumatischen Erfahrungen des Holocaust in Israel reflektieren.
Das Interview wurde im August 2015 von Alexander Steder geführt. Alexander Steder studiert Geschichte in Marburg und absolviert derzeit ein Praktikum am German Desk der International School for Holocaust Studies.
The good news:
The Yad Vashem website had recently undergone a major upgrade!
The less good news:
The page you are looking for has apparently been moved.
We are therefore redirecting you to what we hope will be a useful landing page.
For any questions/clarifications/problems, please contact: webmaster@yadvashem.org.il
Press the X button to continue