Wie seht ihr euch selbst? Würdet ihr euch als Israelis bezeichnen, die in Berlin leben oder aber als Einwanderer?
Esti Amrami: Ja, als Israelis, die in Berlin leben.
Yael Reuveny: Wie könnten wir uns als etwas anderes definieren?
Esti Amrami: Ich kann mit der Bezeichnung Immigration nichts anfangen. Einen solchen Begriff würde ich nie verwenden, er hört sich so endgültig an. Auch wenn ich ein Immigrant bin, würde ich mich nie so nennen. Das würde ja bedeuten, dass ich mein ganzes Leben lang hier bleiben möchte.
Welche Rolle spielen die deutsch-jüdische Geschichte und besonders der Holocaust für euch als Israelis in Deutschland in eurem Alltag?
Yael Reuveny: Nach neun Jahren in Berlin spielen die deutsch-jüdische Geschichte und der Holocaust fast keine Rolle mehr in meinem Alltag. Am Anfang haben mich diese Themen sehr beschäftigt, aber jetzt wird es weniger und weniger.
Esti Amrami: In Israel hat die Geschichte eine große Rolle in meinem Leben eingenommen, hier gar nicht. Ich lebe im Hier und Jetzt. Berlin ist Alltag für mich.
Könnt ihr nachvollziehen, weshalb der Holocaust bzw. die deutsch-jüdische Geschichte für jüdische Gemeinden in Deutschland wesentlicher Bestandteil des eigenen Selbstverständnis sind?
Esti Amrami: Ich denke, dass es einen Unterschied zwischen Juden in der Diaspora und Israelis gibt. Ich fühle mich beispielsweise weniger von Religion und vom Judentum angezogen. Ich lebe in einer deutsch-israelischen Beziehung und fühle mich davon befreit, weil ich Israeli bin. Ich weiß, dass es für Juden, die hier in der Diaspora geboren sind, anders ist.
Yael Reuveni: Ich denke es ist auch anderes für amerikanische Juden. Sie fühlen noch einmal anders als die europäischen Juden. Hier ist israelisch zu sein eine Art Luxus.
Habt ihr also das Gefühl, dass der Unterschied zwischen euch als Israelis und den deutschen Juden die Beziehung zum Judentum als religiöse Praxis ist?
Yael Reuveny: Unter anderem. Ich habe das Gefühl, einer Mehrheitsgesellschaft anzugehören. Das ist Teil meiner Identität als Israeli. In Israel leben Juden nicht als Minderheit, wir sind sozusagen die Spitze der Pyramide.
Seid ihr selbstbewusster?
Esti Amrami: Ja, wir sind ganz selbstverständlich als Juden aufgewachsen und haben unsere jüdische Identität nicht hinterfragt. Ich denke das ist anders für Juden, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ich habe vor einigen Tagen eine russische Jüdin in einem Cafe kennen gelernt. Sie hat sich so gefreut, als sie mich hebräisch reden hörte. Sie ist mit einem deutschen Juden verheiratet. Für sie ist es ganz selbstverständlich, einen Juden zu heiraten. Beiden ist es sehr wichtig sich an viele der religiösen Traditionen zu halten. Damit zelebrieren sie ihre jüdische Identität.
Yael Reuveny: Es gibt einen Unterschied zwischen Juden, die in einem christlichen Land aufgewachsen sind, und uns. Für uns bedeutet jüdisch sein, einer Nation und einer Kultur anzugehören. Unsere jüdische Identität hat nichts mit Religion zu tun. Wir beide sind überhaupt nicht religiös.
Esti Amrami: Fragen in Bezug auf meine jüdische Identität beschäftigen mich nicht, weil es ganz selbstverständlich für mich ist, jüdisch zu sein. Dafür spielt die israelische Identität, insbesondere in Berlin, eine Rolle in unserem Alltag. Was bedeutet es Israeli zu sein, was wird es der nächsten Generation bedeuten?
In euren Filmen spielen Heimat und Fragen nach der eigenen Herkunft eine zentrale Rolle. Ist das etwas Spezifisches für euch als Israelis der dritten Generation?
Esti Amrami: Womöglich ist es für uns ein wesentlicher Aspekt, weil wir unsere Heimat verlassen haben. Es kommt aber nicht darauf an, ob man aus Israel oder aus einem anderen Land kommt. Ich habe festgestellt, dass meine Filme auch relevant sind für Menschen anderer Nationalitäten, die ihr Heimatland verlassen haben. Ich denke, dass jeder, der den Ort an dem er geboren wurde, verlässt, sich notwendigerweise mit dieser Frage – was ist Heimat? – auseinandersetzt. Ich glaube nicht, dass es etwas speziell mit uns als Israelis zu tun hat.
Yael Reuveny: Für die dritte Generation steht unsere Geschichte nicht notwendigerweise in Verbindung mit dem Holocaust und doch war der Holocaust auf die ein oder andere Weise Thema in unserer Kindheit. Aus Israel wegzuziehen ist nicht dasselbe, wie wenn ein Franzose Frankreich verlässt. Wenn ich einen französischen Freund frage, warum er in Berlin ist, dann kommt als Antwort: Mein Leben ist besser hier, ich mag es, und es ist netter für mich in Berlin als in Frankreich. Wir Israelis können keine so einfache Antwort geben, weil die Beziehung zu unserem Land anders ist. Wir haben auch eine Art von Schuldgefühl, nicht in Israel zu leben, so als hätten wir eine besondere Verantwortung. Man wird mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das Land gerade erst aufgebaut wurde und man es bereits wieder verlässt.
Würdet ihr euch überhaupt als dritte Generation bezeichnen? Die Idee in euren Filmen, die eigene Familiengeschichte darzustellen, ist das repräsentativ für eure Generation oder ist das etwas, was aufgekommen ist, weil ihr Israel verlassen habt und nach Deutschland gekommen seid?
Yael Reuveny: Ja, ich denke, es ist repräsentativ. In den 80ern gab es in Israel einen richtigen Boom in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Holocaust durch die zweite Generation, ähnlich wie in Deutschland. Es gab einige wichtige Dokumentationen und Bücher. Die zweite Generation suchte nach einer Möglichkeit, um über ihre Identität, über die Geschichten ihrer Eltern und ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. Es hat aber sicher auch etwas mit dem Alter zu tun, in dem wir jetzt sind. Wir haben mittlerweile die Möglichkeit, eigene Projekte zu realisieren. Der Holocaust ist noch immer ein sehr brisantes Thema für viele Menschen. Meine Generation versucht, die Geschichte von einer anderen Perspektive, unserer eigenen, aus zu betrachten. Obwohl wir über dieselbe Geschichte sprechen, handelt es sich doch um eine andere. Die Geschichte deiner Mutter ist nicht deine eigene.
Ging es dabei noch hauptsächlich um die Frage nach dem Holocaust oder auch um die Diaspora und Europa, ein Thema, das in Israel lange vermieden wurde?
Esti Amrami: Ich bringe den Holocaust hauptsächlich mit der Diaspora in Verbindung. In meinen Filmen sollte der Holocaust nicht die zentrale Rolle spielen. Dennoch ist der Holocaust immer präsent. Ich wollte es nicht in den Vordergrund stellen. Der Holocaust ist für mich etwas Unvorstellbares und das zieht mich an. Manchmal sitze ich da und plötzlich schießen mir diese Gedanken durch den Kopf wie schrecklich der Holocaust war. Es ist, als würde ich den Holocaust vergessen haben und plötzlich erinnere ich mich daran, dass es wirklich passiert ist. Man kann den Holocaust nicht bewältigen. Der Holocaust war ein so extremes Ereignis und ich kann es immer noch nicht verstehen. Unabhängig davon, wie viel ich darüber lese, wie viele Filme ich sehe oder wieviel ich darüber spreche. Ich spreche, ehrlich gesagt, nicht so viel darüber. Dennoch hält es mich gefangen. Ich kann einfach nicht glauben, dass es passiert ist.
Mein letzter Film hat das Thema Holocaust erst geöffnet. Ich habe das Thema Heimat in dem Film für mich abgeschlossen. Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken mehr. Man sollte Grenzen ignorieren, weil sie ohnehin nicht wirklich existieren. Aber das Thema Holocaust hat sich mir noch nicht voll und ganz erschlossen. Ich rede nicht nur vom Schicksal der Juden während des Holocaust, sondern überhaupt von dem gesamten Ereignis und anderen Opfergruppen. Es ist nicht nur das Schicksal der Juden, sondern alles. Ich kann mich an dieses Thema nicht einmal herantasten. Es ist zu groß und zu viel für mich!
Yael Reuveny: Ich denke, dass mein Film den Kreis schließt. Wir, als dritte Generation, werden mit dem Holocaust häufig über den institutionellen Weg konfrontiert. Israel benutzt den Holocaust und politisiert ihn. Damit wird er zu einer politischen Erinnerung, auch ohne familiäre Anbindung. Der Holocaust wurde zu einem nationalen Trauma, vor allem seit man Anfang der 80er Jahre damit angefangen hat, den Holocaust als Unterrichtstoff in der Schule zu thematisieren. Seitdem ich meinen Film vollendet habe, habe ich das Gefühl, als hätte ich das Thema für mich abgeschlossen. Für mich ist das Aufwachsen in einer zionistischen Ideologie das wichtigere Thema. Dort wurde uns erklärt, dass die Diaspora das Schlimmste ist, was dir passieren kann und mit dem Ende der Diaspora alle Probleme der Juden gelöst werden können. Diaspora ist immer noch ein Wort mit negativer Konnotation. Man hat kaum die Möglichkeit zu sagen, dass es für einen selbst vielleicht die bessere Wahl ist, in der Diaspora zu leben.
Esti Amrami: Ich habe schon das Gefühl, dass es jetzt mehr Toleranz gibt für Lebensentwürfe im Ausland. Früher war das wirklich ein No-Go, wie Verrat! Aber jetzt gibt es immer mehr Verständnis. Und das lustige ist, je weniger das kritisiert wird, umso mehr benutzen es Politiker auf zynische Weise. Dennoch ist man offener und toleranter. Wir leben in einer Welt, in der die Grenzen nicht mehr klar definiert sind. In Israel sind sie natürlich klarer definiert, aber man wird immer offener für das Konzept der Diaspora.
Yael Reuveny: Aber man muss sich immer noch entschuldigen. Man kann nicht einfach sagen, es ist schön hier.
Warum wollen so viele Israelis in Deutschlandleben? Warum ist Berlin so faszinierend?
Yael Reuveny: Es gibt so viele Auswanderer hier.
Esti Amrami: Ja, so viele Leute aus Spanien, Portugal und anderswo. Es ist wirklich ein faszinierender Ort. Berlin befindet sich im Wandel. Es gab genug Platz, um hierher zu kommen und man hatte die Möglichkeit, ein Teil der Veränderungen zu werden. Es ist nicht nur etwas Einzigartiges für Israelis oder für Israelis mit osteuropäischem oder deutschem Hintergrund, sondern für alle. Für mich war es nicht die Geschichte, die mich hierher gebracht hat, sondern die faszinierende Stadt an sich. Ich hatte hier wirklich das Gefühl, Platz zum atmen zu haben. Natürlich kann ich die Geschichte nicht ignorieren. Ich habe Berlin gewählt und nicht Krakau, obwohl man dort auch billig leben kann.
Yael Reuveny: Aber dort gibt es kaum Auswanderer. Niemand geht nach Krakau, sondern alle nach Berlin. Wenn man mich fragt, was mich hierher gebracht hat, sage ich immer etwas zwischen Hitler und David Bowie. Diese Stadt hat etwas Anziehendes für junge Leute. So viele Leute haben hier schon gelebt und diese Stadt zu einem besonderen Platz gemacht.
Könnt ihr die Vorbehalte der Israelis, vor allem der älteren Generationen, verstehen?
Yael Reuveny: Ich denke nicht, dass es sich hier um Gefühle der ersten Generation handelt. Die Generation der Überlebenden hat damit kein Problem. Es ist vielmehr die Generation unserer Eltern. Jemand hat ihnen gesagt, dass sie dagegen sein sollten. Es war Teil der Mentalität, dass man mit dem israelischen Pass nicht nach Deutschland reisen konnte. Und auch dieses ganze Gerede darüber, dass man keine deutschen Produkte kaufen soll.
Esti Amrami: Aber jetzt haben diejenigen, die sagen, dass man nicht nach Deutschland gehen sollte, auch ein Problem damit, nach Frankreich oder Holland zu ziehen...
Es ist nicht die Generation der Überlebenden. Die war offener dafür, weil sie selbst in anderen Ländern gelebt haben, oft sogar in mehreren. Meine Großmutter würde niemals denken, dass ihre beste Freundin, die nach Amerika gezogen ist, eine schlechtere oder unmoralische Wahl getroffen hat. Aber die zweite Generation ist bereits eine Art israelisches Produkt. Sie sind geprägt vom israelischen Erziehungssystem und ihrer Zeit in der Armee. Sie denken, dass sie hier in Israel bleiben müssen, und es nie wieder verlassen sollten. Das ist ihr Weg ein guter Bürger Israels zu sein.
Yael Reuveny: Vor allem die junge Generation ist sehr nationalistisch und zionistisch. Für mich wäre wichtig, und das war auch Teil der sozialen Bewegung der letzten Jahre, dass Israel nicht länger als der „letzte Platz für Juden“ dargestellt wird. Ich denke: Versucht nicht, mich zum Bleiben zu bewegen, weil es keinen anderen Platz für Juden auf der Welt gibt, sondern weil hier ein guter Platz zum Leben ist.
Wir reden über Israel, als wäre der Holocaust das einzige Problem. Aber man muss sich vor Augen halten, dass wir in einem Land aufgewachsen sind, wo Krieg immer ein Teil des Lebens war. Das ist ein sehr komplizierter Teil unserer Identität. Der Holocaust ist eine Art Erklärung, warum wir akzeptieren müssen, in einer ständigen Kriegssituation zu leben. Das ist auf der anderen Seite auch eine sehr dominante Begleiterscheinung unserer Identität.
Esti Amrami: Heutzutage ist es so, dass der Holocaust in jeder Rede verwendet wird. Das war in der Vergangenheit nicht so. Beispielweise während des Yom Kippur Krieges war das noch ganz anderes. Da haben viele Israelis versucht, zurück nach Israel zu fliegen, um hier für ihre Heimat zu kämpfen, aber niemand hat ständig den Holocaust als Erklärung oder Rechtfertigung verwendet.
Ihr habt gemeint, dass ihr euch als dritte Generation begreift. Wo liegt der Unterschied zwischen der zweiten und dritten Generation?
Yael Reuveny: Wir sind noch mit einer sehr ruhigen und stillen Umgangsweise mit dem Holocaust aufgewachsen, als etwas ganz Privates. Wenn darüber überhaupt gesprochen worden ist, dann nur Zuhause. Es war eine private Angelegenheit, nicht so institutionalisiert wie der heutige Umgang mit dem Holocaust.
Esti Amrami: Vielleicht ist die dritte Generation extremer in beide Richtungen. Sie ist toleranter, liberaler und offener. Aber sie ist auch nationalistischer. Ich würde das nicht einmal als Zionismus bezeichnen, weil ich nicht denke, dass das Zionismus ist.
Wo seht ihr euren Platz in der deutschen Gesellschaft? Und wie nehmt ihr die deutsch-israelische Beziehung wahr?
Yael Reuveny: Ich empfinde es nicht so, als hätte ich einen Platz in der deutschen Gesellschaft. Ich habe beispielweise keinerlei politische Macht. Alle meine sozialen Beziehungen sind hier. Mein Ruhepol ist hier. Auf eine sehr private Weise ist das mein Zuhause, aber ich würde hier beispielsweise nicht auf eine Demonstration gehen. Ich weiß nicht, ob ich mich hier politisch engagieren könnte. Was hier passiert, ist nicht mein Problem. Es hat nichts mehr mit mir zu tun.