In Deutschland ist kürzlich der Prozess gegen John Demjanjuk zu Ende gegangen. In das Verfahren gegen Demjanjuk in Israel zwischen 1987 und 1993 waren auch Sie involviert. Wie haben Sie dieses Verfahren gegen Demjanjuk wahrgenommen?
Ich war zu diesem Zeitpunkt schon Richter und hätte auch einer der Richter beim Obersten Gericht bei der Berufung sein sollen. Das habe ich allerdings abgelehnt und gebeten mich auszuwechseln, da ich in Israel als der Ankläger von Eichmann bekannt bin. Ich wollte nicht, dass der Verteidiger in diese Richtung argumentieren konnte. Demjanjuk war damals von den USA an Israel ausgeliefert worden, weil man der Meinung war, dass er Ivan der Schreckliche von Treblinka gewesen sei. Dafür wurde er im ersten Prozess verurteilt, ging aber anschließend in Revision. Einer der Staatsanwälte fuhr dann – das war relativ bald nach 1989 – in die ehemalige Sowjetunion, in der Hoffung dort in den gerade geöffneten Archiven neues Beweismaterial zu finden. Was er allerdings fand, waren schriftliche Zeugenaussagen, die nicht bestätigen konnten, dass Demjanjuk und Ivan der Schreckliche von Treblinka identisch waren. Es gab dann eine Debatte, ob man ihn nicht wegen seiner Verbrechen in Sobibor anklagen solle, denn es gab durchaus Hinweise darauf, dass er dort gewesen sei. Dies lehnten die verantwortlichen Richter jedoch ab, da Demjanjuk nicht wegen Sobibor angeklagt war und dementsprechend auch keine Verteidigung vorbereitet hatte.
Warum wurde ein Sobibor-Prozess gegen Demjanjuk in Israel wiederholt abgelehnt?
Die Überlebenden von Sobibor wandten sich an den Gerichtshof, um die Ablehnung dieses möglichen Prozesses rückgängig zu machen. Ich habe damals das Urteil geschrieben und einen Sobibor-Prozess abgelehnt. Dies habe ich vor allem aus folgendem Grund getan: In Israel gab es zu diesem Zeitpunkt neun Überlebende aus Sobibor, die allerdings alle nicht Demjanjuk oder einen schrecklichen Ivan in Sobibor identifizieren konnten. Das gleiche galt für 29 Sobibor-Überlebende, die von den Anwälten, die die Überlebenden vertraten, im Ausland ausfindig gemacht wurden. Es gab also einfach nicht genug Beweise, weshalb es nicht sinnvoll gewesen wäre einen weiteren Prozess anzustrengen. Vor dem Prozess in Deutschland hat man ja weiteres Material gefunden, das dann eine Verurteilung möglich machte.
Der vielleicht wichtigste Prozess, an dem Sie beteiligt waren, war der Eichmann-Prozess. Wie sah die Vorbereitung für diesen Prozess aus?
Am Anfang stand eine geradezu elektrifizierende Mitteilung von Ben Gurion im Radio, dass Eichmann in Israel sei, nachdem man ihn aus Argentinien entführt hatte. Zwei Tage danach hat mich der damalige Justizminister gerufen und zu mir gesagt, dass ich einer der Ankläger sein werde. Außerdem bat er mich, den Prozess mit dem Polizeibüro vorzubereiten. Neun Monate hat die Vorbereitung gedauert.
In dieser Zeit habe ich von vielen Schicksalen erfahren, doch manche haben mich ganz besonders berührt, auch wenn sie vielleicht für den Prozess nicht relevant waren. Ich will nicht theoretisch bleiben, ich würde gerne ein Beispiel geben: Es gab immer Versuche – auch von Nationalsozialisten – eine jüdische Familie, oder eine jüdische Persönlichkeit zu retten. Eines Tages während der Vorbereitung und Recherche wurde mir ein Dokument, ein Telegramm, von einem deutschen General der Wehrmacht (dem Kommandanten von Paris) vorgelegt. Der schrieb damals an Eichmann es gäbe einen jüdischen Prof. Weiss, der habe wichtige Patente, wichtige Erfindungen gemacht. Es handele sich um Radartechnik, das wäre sehr nützlich für die deutsche Armee. Aus diesem Grund solle man Prof. Weiss und seine Frau nicht deportieren. Darauf antwortete Eichmann: Aus prinzipiellen Erwägungen könne er nicht darauf eingehen. Einige Tage später rief der General bei Eichmann an und sagte: Wie können Sie es wagen, ich bin General der Wehrmacht, wie wagen Sie es, meinen Anforderungen nicht nachzugehen? Eichmann: Ich bin Obersturmbannführer der SS, es interessiert mich nicht, was Sie für einen Rang haben in der Armee. Ein Brief Eichmanns an den General ist für einige Tage später dokumentiert: Ich habe die Sache Weiss weiter untersucht und festgestellt, dass die Patente von diesem Weiss schon von der deutschen Armee übernommen worden sind. Deswegen sehe ich keinen Grund die Deportation auch nur einen Tag zu verschieben. Diese Episode haben wir dann auch tatsächlich in den Prozess aufgenommen. Während des Verfahrens kam meine Sekretärin zu mir und sagte: Herr Bach, da steht ein junges Mädchen vor der Tür, die würde Sie gerne sprechen. Ihr Name ist Weiss. Ich bat sie herein, sie trat in mein Büro und sagte, ich bin die Tochter von Prof. Weiss. Sie war noch ein Baby als man ihre Eltern abgeholt hat. Die Nachbarn hatten sie aufgezogen und sie anschließend nach Amerika geschickt. Da lebte sie auch jetzt noch und war extra gekommen, weil sie von dem Prozess und den eingereichten Dokumenten über ihre Eltern erfahren hatte. Sie hatte nicht einmal ein Foto von diesen und bat mich um einen Ratschlag wie eins zu bekommen sei.
Wie hat Ihrer Einschätzung nach der Eichmann-Prozess die israelische Gesellschaft verändert?
Vorher sprachen die Überlebenden kaum über den Holocaust. Es war deshalb auch schwierig, Zeugen zu bekommen. Leute wollten nicht das erzählen, was sie nicht einmal ihren Kindern und Enkelkindern erzählten. Das kam erst im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess, dass die Leute anfingen miteinander darüber zu sprechen. Eine der stärksten Entwicklungen hier in Israel betrifft jedoch die Jugend. Ich hatte vor dem Prozess viele Unterhaltungen mit Lehrern, die sagten, die Jugend wolle nicht über den Holocaust reden. Die haben damit anscheinend eine Art Scham verbunden: „Ein junger Israeli kann verstehen, dass man im Kampf verletzt werden kann, dass man getötet werden kann. Das man eine Schlappe erleidet. Aber er kann nicht verstehen, dass Hunderttausende, Millionen sich abschlachten lassen.“ Das war natürlich nicht Hauptaufgabe der Staatsanwaltschaft, aber wir wollten unserer Jugend auch zeigen, dass es keinen Grund gab sich zu schämen. Da haben wir beschrieben, wie Eichmann und andere dafür gesorgt haben, dass Leute in die Irre geführt wurden, bevor sie umgebracht wurden. Ganz egal ob das Juden waren oder sogenannte Zigeuner oder Polen und Tschechen oder russische Kommissare.
Später haben dann die Lehrer erzählt, dass die Kinder über die Kultur in Europa und das Judentum in Europa hören wollten. Danach begannen die Leute auch, sich auch verstärkt an Yad Vashem zu wenden, um Einzelheiten über Umgekommene mitzuteilen.
Auch in der deutschen Gesellschaft wurde der Eichmann-Prozess stark diskutiert und war in den Medien präsent. Welche Wirkung hatte er Ihrer Meinung nach auf die deutsche Gesellschaft?
Ich denke, auch in Deutschland hat der Eichmann-Prozess ein offeneres Umgehen mit diesem Thema ermöglicht, insbesondere, dass in der Schule darüber gesprochen werden konnte. Das war vorher oft nicht möglich, da sich sowohl Eltern, als auch Lehrer dagegen sperrten. Außerdem kam es nach dem israelischen Prozess in Deutschland zu einer Art Kettenreaktion von Verfahren, wie etwa den Frankfurter Auschwitzprozessen. Die spielen eine ganz herausragende Rolle. Auch heute ist daran meiner Meinung nach besonders wichtig, dass diese Prozesse mit der „deutschen Gründlichkeit“ vorbereitet und durchgeführt wurden. In diesen Protokollen und Dokumenten wird detailliert aufgezeigt, was in den Vernichtungslagern vorgegangen ist. Diese deutschen Dokumente von deutschen Richtern können auch heute noch ein wichtiges Mittel gegen Holocaustleugner sein.
Sie sprechen ja häufig vor Schülergruppen und werden als Zeitzeuge eingeladen. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Wenn ich in Deutschland eingeladen bin, hat man mich sehr oft gebeten, vor Schülern zu sprechen. Neulich habe ich beispielsweise in Saarbrücken vor insgesamt 400 Schülern gesprochen. Diese hatten sich im Vorfeld vorbreitet und stellten im Nachhinein noch Fragen. Ich muss sagen, das ist eines der positivsten Dinge, die ich in Deutschland mitbekommen habe. Überall wird deutlich, dass die Jugend von diesen Geschehnissen weiß, und dass diese Dinge nie wieder passieren dürfen.
Wann waren Sie das erste Mal wieder in Deutschland, nachdem Sie als Kind fliehen mussten?
30 Jahre habe ich Deutschland nicht besuchen wollen, selbst Transit habe ich nicht gemacht, aber dann kam dieser Besuch von Heinemann, in dessen Kontext ich auch die deutschen Botschafter in Israel kennenlernte. Wir lernten ihn kennen, als er noch Justizminister war. Da besuchten er und seine Frau Israel und ich wurde gebeten, sie herumzuführen und ihnen alles zu zeigen.
Anschließend bekam ich dann eine Einladung, Deutschland zu besuchen, das war 1969. Das war zu der Zeit, als die Verjährung der Naziverbrechen diskutiert wurde, weshalb ich dort auch Gespräche führen sollte. Gleichzeitig war das auch der Zeitpunkt, als Heinemann gerade für das Präsidentenamt kandidierte. Das war damals eine heiß umkämpfte Kandidatur.
Heinemann wusste damals nicht, dass ich mich in Deutschland befand, aber eines Tages rief der Botschafter an und lud uns zum Mittagessen ein und meinte Heinemann würde auch kommen. Wir hatten ein sehr nettes Mittagessen, aber als es dann vier Uhr nachmittags wurde, habe ich gesagt: „Herr Heinemann, ich erkenne es ungeheuer an, dass Sie heute gekommen sind, aber müssen Sie jetzt nicht zu ihrer Tätigkeit zurückkehren?“ Daraufhin sagte er: „Herr Bach, kommt nicht in Frage. Ich sage alle meine Termine ab für heute Abend. Sie sagen alle Ihre Termine ab für heute Abend. Wir gehen bummeln!“ Dann hat er mir Bonn und die Gegend gezeigt.
Vielen Dank für das Gespräch.
In der Berliner Topographie des Terrors findet noch bis zum 18.09.2011 die Ausstellung „Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht“ statt. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm begleitet.