Wann haben Sie angefangen, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen und was waren die Gründe dafür?
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der der Holocaust ein Tabuthema war. Ein fiktionales Narrativ, dessen Ziel es war, Sympathie für die Gründung einer jüdischen Heimstätte in meinem historischen Land zu schaffen. Darum gab es viel Widerstand dagegen, etwas darüber zu lesen und Filme, die ich über den Holocaust gesehen habe, wurden als Ausdruck des jüdischen Einflusses auf Hollywood wahrgenommen. Mir persönlich half die Erfahrung während eines Besuches in Auschwitz im Februar 2011 dieses Denken zu ändern. Diese Begegnung ermutigte mich dazu, im März 2011 zusammen mit Robert Satloff einen Artikel für die International Herald Tribune zu schreiben, der den Titel „Warum Palästinenser über den Holocaust lernen sollten?“ trug.
2012 war ich Mitautor des einzigen arabischsprachigen Lehrbuches, das sich mit dem Holocaust aus einer menschlichen Perspektive beschäftigt und den Titel „Holocaust Human Agony: Is there a way out of violence?“ trägt. Später dann, habe ich Robert eingeladen, sein Buch und seinen Film über den Holocaust unseren Studenten an der Al-Quds Universität vorzustellen. Das hat uns allen die Augen geöffnet. Ich habe meine Studenten auch des Öfteren zu Besuchen nach Yad Vashem begleitet und bin dann mit ihnen nach Krakau und Auschwitz gefahren, um Wissen und Wahrheit zu suchen.
Ich wollte aus der Rolle des Zuschauers ausbrechen und Tabus in Frage stellen. Wenn man sich dafür entscheidet, nicht mehr die Rolle des Zuschauers einzunehmen, sondern zu einem Tabubrecher zu werden, muss man einkalkulieren, dass man dafür einen Preis bezahlt. Die Leute lassen ein solches Verhalten nicht einfach so durchgehen und wollten ein Exempel statuieren, so dass niemand es mehr wagt, diesen Weg zu gehen. Ich habe also formal meinen Rücktritt als Gründungsdirektor des American Studies Center und als Direktor der Al-Quds Universitätsbibliothek eingereicht, um die Dinge etwas zu beruhigen und den feindseligen Stimmen in unserer Gesellschaft entgegen zu kommen. Dies tat ich in der Hoffnung, dass die Universitätsleitung mit Rücksicht auf die Freiheit der Lehre meinem Rücktrittsgesuch nicht nachkommen würde. Aber die Leitung hat sich dem öffentlichen Druck gebeugt und meinen Rücktritt akzeptiert. Das war der Preis, den ich zahlen musste. Schon bevor wir zu unserer Reise nach Auschwitz aufbrachen, wurde ich gewarnt, dass ich damit riskiere, meinen Job zu verlieren. Aber ich habe mich entschieden, diese Warnungen zu ignorieren und das hat viele gegen mich aufgebracht.
Als ich einmal einen Dokumentarfilm über den Holocaust an der Al-Quds-Universität gezeigt habe, meldete sich eine Studentin zu Wort und fragte: „Warum sollten wir etwas über den Holocaust lernen, wenn die Israelis die Nutzung des Begriffs Nakba verboten haben und jede Erwähnung aus den Schulbüchern entfernt worden ist?“ Meine Antwort war kurz und präzise: „Denk nicht darüber nach, was die anderen tun. Du musst das richtige tun.“
Warum ist die Beschäftigung mit dem Holocaust eine so sensible Angelegenheit für die palästinensische Gesellschaft?
In Palästina ist die Holocaustpädagogik ein besonders sensibles Thema. Hier kommen viele Faktoren zusammen: Auf der pädagogischen Ebene wurde der Holocaust weder in arabischen oder palästinensischen Schulbüchern erwähnt, noch wurde darüber in Schulen oder Universitäten unterrichtet.
Es ist ein Tabuthema, das selbst von den Fächern Geschichte und Sozialwissenschaften ignoriert wurde. Deshalb haben Palästinenser meistens keinerlei Wissen über dieses katastrophale Ereignis.
Auf der politischen Ebene betrachten die Palästinenser den Holocaust als eine permanente Erinnerung an das eigene Leiden. Während für andere die Auseinandersetzung mit dem Holocaust keine exklusiv jüdische Angelegenheit ist, ist die Art und Weise wie Araber und besonders Palästineser über den Holocaust unterrichtet werden, vom anhaltenden palästinensisch-israelischen Konflikt geprägt und wird daher als ein ausschließlich jüdisches Thema verstanden. So gibt es eine Tendenz, den Holocaust als direkten Auslöser der eigenen Katastrophe wahrzunehmen. Der Konflikt bringt daher viele dazu, den Holocaust als zionistische Propaganda wahrzunehmen, durch die Sympathien für die jüdische Sache gewonnen werden sollen.
Auf psychologischer Ebene kann man feststellen, dass die palästinensische Gesellschaft noch immer tiefe Wunden trägt und der Schmerz und das Leiden noch nicht vereheilt sind, weil die Besatzung weitergeht und die Verhandlungen ausgesetzt wurden. Während sich der Holocaust in der Vergangenheit abspielte, ist die palästinensische Agonie gegenwärtig. Daher ist es sehr schwierig, die Opfer, die unter der Besatzung leiden, dazu zu bewegen, sich mit den Leiden ihrer Täter auseinanderzusetzen.
Wenn Juden über den Holocaust sprechen, haben sie dessen vollständige Dimension vor Augen, nämlich den Plan des nationalsozialistischen Deutschlands die Juden im Rahmen der sogenannten „Endlösung“ vollständig zu vernichten. Wenn aber Palästinenser den Holocaust betrachten, sehen sie nur kleine Ausschnitte und setzen diese in Verbindung mit ihren persönlichen und nationalen Erfahrungen von Entwurzelung, Verlust und Schmerz. Für sie rufen die nationalsozialistischen Wachtürme, Gefängniszellen und Stacheldrahtzäune der NS-Zeit Assoziationen mit den heutigen israelischen Sperranlagen und Bauten auf. Dies führt dazu, dass sie das Gesamtbild aus den Augen verlieren.
Die Fixierung auf unser eigenes Leiden ist zu einem Hindernis geworden, die anderen zu verstehen. Ich denke, dass es an der Zeit ist, dies hinter uns zu lassen. Dennoch darf die Überwindung dieser Barrieren auf dem Weg zu Frieden und Aussöhnung nicht dazu führen, die Bedeutung der Leidensgeschichte beider Völker zu vergessen oder zu verkleinern, auch wenn der Eine das Leiden des Anderen durch seine eigene erlebte Geschichte hindurch wahrnimmt.
Warum sollten Palästinenser und arabische Israelis über die Shoah lernen? Wie kann man dieses Thema auf angemessene Weise unterrichten?
Die Bedeutung der Holocausterziehung liegt im Folgenden: (1) Es ist ein Zeichen des Respekts gegenüber der Wahrheit. Wenn die Wahrheit geleugnet oder missachtet wird, dann werden jene Werte zerstört, die uns wichtig sind. (2) Es ist das, was getan werden muss. Selbst wenn man dafür kritisiert wird, dass man den Holocaust lehrt, sollte man nicht damit aufhören, es zu tun. (3) Holocaustleugnung und die Verzerrung der Realität sind historisch falsch und moralisch völlig inakzeptabel. (4) Es ist von außerordentlicher Bedeutung, aus den tragischen Lektionen der Vergangenheit zu lernen, um eine Wiederholung in der Zukunft zu vermeiden. (5) Der Koran und auch der Prophet rufen dazu auf, Wissen und Lernen ständig zu erweitern: „Und sag: Herr! Lass mich an Wissen zunehmen!”. (Sure 20, Vers 114, Tá Há ). Der Prophet soll gesagt haben: „Strebt nach Wissen von der Wiege bis zur Bahre.“ Das treibt uns an, uns zu entscheiden: „Ich weiß nicht, aber ich will wissen.” (6) Wie schon der Weise argumentierte, besteht kein Zweifel daran, dass wir, wenn wir das Böse nicht kennen, auch die Bedeutung des Guten nicht verstehen werden. (7) Empathie und Mitgefühl für das Leiden anderer zu zeigen, selbst wenn euch keine Freundschaft oder Liebe miteinander verbindet, könnte die Welt zu einem besseren Ort zum leben machen.
Beim Unterrichten von sensiblen Themen ist die Wahl des methodischen Ansatzes das Wichtigste. Um ein solch kontroverses Thema zu vermitteln, würde ich aktives Lernen unter Berücksichtigung folgender Schritte fördern: (1) Lehren von Kreativität und kritischem Denken. (2) Lehren einer gemäßigten Haltung und Anwendung des Wasatia-Konzepts (3) Lehren des Holocaust zusammen mit anderen Genoziden der jüngsten Geschichte, beispielsweise über den Genozid in Ruanda, um so Verbindungen und Zusammenhänge zu erklären.
Dokumentarfilme als pädagogisches Unterrichtsmaterial könnten hier von großem Nutzen sein. Da es sehr schwierig ist, ein Schulbuch auf arabisch zu diesem Thema zu finden, habe ich zusammen mit meinen Kollegen Zeina Barakat und Martin Rau ein Buch herausgegeben, das den Titel „Holocaust - Human Suffering: Is there a way out of violence?" (2012) trägt.
Wie sollte in beiden Gesellschaften – der israelischen und der palästinensischen - die Shoah und die Nakba unterrichtet werden? Ist es sinnvoll, beide Themen gleichzeitig anzusprechen? Wie ist es möglich beide Ereignisse zu thematisieren, ohne sie gleichzusetzen?
Die verschiedenen historischen Ungerechtigkeiten, die die beiden Völker erleiden mussten, sind jede für sich traumatisch. Die fehlende Bereitschaft des jeweilig „anderen“, diese Realität anzuerkennen, setzt letztlich das Leiden fort und verursacht Feindseligkeit. Deshalb ist es von essentieller Bedeutung, die Shoah und die Nakba in beiden Gesellschaften zu unterrichten. Über diesen wichtigen Aspekt der jüdischen Geschichte zu lernen, ist für Palästinenser ein Zeichen der Stärke und eine Übung in intellektueller und moralischer Freiheit. Dem gegenüber ist die Entscheidung, sich nicht damit zu beschäftigen, ein Zeichen der Unsicherheit und der Angst, nicht der Stärke. Das Leugnen oder sogar bewusste Ignorieren des Holocaust bringt für die Palästinenser einen großen Nachteil, wenn es darum geht, mit Israel und der internationalen Gemeinschaft zu verhandeln. Umgekehrt trifft dieses Argument aber auch auf die Israelis zu. Es kann nur im israelischen Interesse sein, von der Nakba und dem palästinensischen Leiden zu erfahren. Allerdings glaube ich nicht, dass es klug ist, beide Ereignisse gleichzeitig zu unterrichten, denn dies birgt das Risiko des unrichtigen Vergleichs der beiden Ereignisse. Dies würde zur einfachen Gleichung führen, dass „Juden den Holocaust haben und die Palästinenser die Nakba.“ In der Tat sollten beide Gesellschaften über die Geschehnisse lernen, so dass sie ihr Wissen einsetzen können, um sich dem Vergleich mit aller Kraft entgegenzustellen. Wenn diese Gleichsetzung weitgehend vermieden werden würde, dann wären Frieden und Versöhnung viel einfacher zu erlangen, als es heute der Fall ist. Letzten Endes – bei allem Leid, das die Palästinenser über all die Jahre ertragen haben – ist ihr Kampf mit Israel im Kern immer noch ein politischer Konflikt, dessen Ende man sich durch einen politischen Verhandlungsprozess, durch Diplomatie und Vereinbarungen vorstellen kann. Heute ist die Diplomatie festgefahren, aber die Natur der Politik trägt es in sich, dass sich das schon morgen ändern kann. Der Holocaust hingegen war kein politischer Konflikt. Schon der Gedanke an einen „nationalsozialistischen-jüdischen Friedensprozess“ ist absurd.
Sollten palästinensische und arabische Schüler in ihren Schulen über den Holocaust lernen?
Allgemein gesprochen, sollte die tragische Episode des Holocaust aus vielen Gründen in den palästinensischen und arabischen Lehrplan aufgenommen werden. Erstens war der Versuch der Nazis, das jüdische Volk zu vernichten, eine schreckliche Gräueltat gegen die gesamte Menschheit. Um Völkermorde in Zukunft verhindern zu können, ist ein Verständnis darüber, wie sie entstehen können, essentiell. Ohne über den Holocaust zu sprechen, ist eine Diskussion über Genozide im Allgemeinen sinnlos.
Wenn die Araber mehr über den Holocaust im Besonderen und über Genozide im Allgemeinen wissen würden, dann fielen vielleicht die arabischen Stimmen, die ähnliche Gräueltaten stoppen wollen, lauter und kraftvoller aus.
Zweitens haben Muslime nichts zu befürchten, wenn sie ihre Augen und Ohren für dieses schreckliche Kapitel der Weltgeschichte öffnen. Auch der Koran sagt dazu: „Und sag: Herr! Lass mich an Wissen zunehmen!". [20:114] Drittens, durch das Lernen über den Holocaust können die Palästinenser besser verstehen, wie sich das Leid der Juden auf die Psyche des jüdischen Volkes ausgewirkt hat. Es sollte eigentlich nichts Radikales darin liegen, wenn Palästinenser und Israelis, den Holocaust und die Nakba anerkennen und ihre Empathie für die Opfer zum Ausdruck bringen. Und doch, in einem Konflikt kann es mitunter radikal erscheinen, wenn Menschen moderat agieren. Solch couragierte Vermittlung aber ist von Nöten, um auf dem Weg in Richtung Frieden, Aussöhnung oder Koexistenz voranzukommen, so wie es sich die Menschen verzweifelt wünschen. Was auch immer im politischen Prozess geschehen wird, Palästinenser und Israelis teilen auf die ein oder andere Weise eine Zukunft als Nachbarn. Obwohl man wirklich leicht den Mut verlieren kann, sollten wir die hoffnungsvollen Anzeichen anerkennen und Initiativen, wissenschaftliche Projekte und politische Handlungen, die zu Frieden und Versöhnung beitragen können, unterstützen.
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview wurde von Deborah Hartmann geführt.