In dem Lebenskalender malte sich Ihr Vater aus, wie Ihr gemeinsames Leben als Familie verlaufen sollte. Als Sie 21 Jahre alt waren, gab Ihre Großmutter Ihnen den Kalender zusammen mit anderen Dokumenten, Briefen, Fotos und Tagebüchern Ihrer Eltern. Was wussten Sie zu diesem Zeitpunkt über die Geschichte Ihrer Eltern?
Fast nichts. Ich war ungefähr acht Jahre alt, als ich erfuhr, dass ich ein Waise war und meine Eltern ermordet worden waren. Als ich neun Jahre alt war, fragte ich meine Großmutter, wie genau eigentlich meine Eltern umgekommen waren. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Letztlich war die Geschichte meiner Eltern in der Familie immer ein Thema, das unter den Teppich gekehrt wurde.
Wenn über die Geschichte Ihrer Eltern bei Ihnen zu Hause geschwiegen wurde, wie kam es dazu, dass Ihre Großmutter Ihnen die Dokumente mit 21 Jahren übergab? Und konnten Sie danach mit Ihrer Großmutter über das Geschehene reden?
Meine Großmutter war schwer traumatisiert. Ich konnte eigentlich überhaupt nicht mit ihr reden, weil sie immerzu weinte. Schon in der Kindheit und Jugend, bevor ich die Dokumente von ihr erhielt, dachte ich, dass sie mir Dinge verheimlichte. Als ich 19 oder 20 Jahre alt war, ging ich jede Woche in das jüdische Altersheim in Rotterdam, in dem sie lebte. Und eines Tages, als ich sie dort besuchte, sprach ich sie darauf an. Und sie sagte mir, es würde ihr zu schwer fallen, darüber zu reden. Nachdem acht weitere Monate vergangen waren, fing sie an zu erzählen. Und sie gab mir damals die Sachen meiner Eltern nicht freiwillig: ich habe sie dazu gezwungen, mir die Dokumente zu geben. Weil sie ebenso mir gehörten. Sie wollte damals einen Teil behalten, weil sie das Gefühl hatte, einen besonderen Anspruch darauf zu haben; es waren schließlich die Erinnerungen an ihren Sohn. Aber ihr Sohn war ebenso mein Vater. Das hat sie damals auch verstanden und mir die Sachen übergegeben.
Sie hatten also mit Anfang Zwanzig plötzlich die Möglichkeit, mehr über das Schicksal Ihrer Eltern zu erfahren. Welchen Einfluss hatte der Erhalt der Dokumente auf Ihr damaliges Leben und Ihre Zukunftspläne?
Als mir meine Großmutter die Dokumente überreichte, war mir sofort klar, dass sie für mich etwas Heiliges waren. Ich hatte auf einmal die Möglichkeit, alles zu lesen, aber ich konnte die Dokumente nicht anrühren. Ich denke, ich war damals nicht reif genug. Für mich war das ein Prozess. Ich war damals stärker an der Gegenwart als an der Vergangenheit orientiert. Das Thema Holocaust und Zweiter Weltkrieg war für mich selbst ein Trauma. Die Mutter meiner Frau hatte Auschwitz überlebt und für uns war das zu diesem Zeitpunkt kein Thema, das unser Leben bestimmten sollte.Und wir thematisierten die Angelegenheit eigentlich nicht - bis unsere älteste Tochter fünf Jahre alt war. Sie fragte uns, warum alle anderen Kinder vier Großeltern hätten und sie nicht. Und damals haben wir angefangen, mit unserer Tochter darüber zu reden und uns selbst damit zu beschäftigen.
Es hat sehr lange gedauert, bis ich mir die Dokumente wirklich angeschaut habe. Das war erst im Jahre 1984. Und es gibt bis heute noch einen Teil, den ich nicht gelesen habe. Vor allem die einjährige Briefkorrespondenz meiner Eltern im Jahre 1941, die aufgrund von Arbeit getrennt voneinander in Harderwijk und Arnheim wohnten. Ich habe etwa 30 Prozent davon gelesen. Diese Korrespondenz, die Hoffnung, die die beiden damals hatten, das war und ist für mich bis heute zu emotional, da stoße ich an Grenzen. Im letzten Brief, den mein Vater an meine Mutter geschrieben hatte, sagte er, dass, falls sich die Familie aus den Augen verlieren sollte, man sich im Hafen von Haifa wiedersehen würde. Meine Mutter war damals 22, mein Vater 25. Beide sind am 27. Juli 1943 in Sobibor ermordet worden. Entscheidend ist für mich heute noch, dass sie damals ihr eigenes Kind weggegeben haben. Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, das scheint für viele unmöglich, aber meine Eltern haben das tatsächlich gemacht. Es gab Zeiten, in denen ich dachte, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie mich mitgenommen hätten. Andererseits dachte ich dann im selben Moment, dass sie das aus Liebe getan haben. Und das hat mir großen Respekt eingeflößt, gegenüber allen Eltern, die ihre Kinder weggaben, um sie zu retten.
In dem Kalender hat sich Ihr Vater relativ konkret ausgemalt, wir Ihr weiteres Leben verlaufen sollte, dass Sie nach Palästina gehen würden, dort heiraten und Kinder bekommen würden. Inwiefern hat diese Prophezeiung Ihr weiteres Leben beeinflusst?
Eigentlich sehr wenig. Es mag weniger der Einfluss meiner Eltern gewesen sein, dass ich in meiner Jugend wie meine Eltern zum Zionisten wurde. Aufgrund der Tatsache, dass ich als Jude in Holland einen starken Antisemitismus in der Schule erlebte, wurde ich damals Mitglied in einer zionistischen Jugendgruppe, der Bnei Akiva, und innerhalb dieser Gruppe wurde natürlich viel über Israel und den Zionismus gesprochen. Das prägte mich zu einem Zeitpunkt, als ich noch nichts über den Kalender wusste.
Der Zufall, dass mein Leben tatsächlich so verlief wie in dem Kalender prophezeit, das wurde mir erst viele Jahre später klar. Der Kalender hatte sich etwa 13 Jahre in Washington im Holocaust Museum befunden. Und als Theresa Pollin, die Kuratorin des Holocaust Museum in Washington, mich auf diese Besonderheit aufmerksam machte und eine Ausstellung mit dem Titel „Life in Shadows“ im Holocaust Museum in Washington organisierte, in der mein Kalender auf zwei Metern Größe ausgestellt wurde, begann das Ganze mehr Bedeutung anzunehmen. Der Kalender ist heute immer noch in der Dauerausstellung in Washington, eine Kopie befindet sich allerdings auch im Jüdischen Museum in Berlin. Und über Washington ergab sich dann der Kontakt nach Yad Vashem. Tatsächlich hatte meine jüngste Tochter Natalie schon zuvor darauf gedrängt, etwas mit dem Kalender zu machen. Also schaute ich mir damals auch die Bilder des Kalenders an und entschied mich dafür, eine Powerpointpräsentation zu erstellen, die schließlich den Ausgangspunkt für meine Vorträge gebildet hat.
Diese Zusammenarbeit mit Yad Vashem, die nach der Ausstellung in Washington begann, erreicht mit dem pädagogischen Material, das im Frühjahr veröffentlicht werden wird, einen Höhepunkt. Viele Jugendliche werden sich jetzt und auch noch in vielen Jahren mit Ihrer Geschichte auseinandersetzen, ohne dass Sie selbst über Ihre Geschichte reden werden. Gleichzeitig handelt es sich aber um etwas sehr Persönliches. Wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es sehr persönlich. Aber es ist auch nur ein Teil von mir und nicht die vollständige Geschichte, die ich dort preisgegeben habe. Ich bin heute fast 73 Jahre alt, es kann sein, dass ich morgen nicht mehr lebe. Aber ich habe mir immer gesagt, dass ich etwas weitergeben kann, wenn ich meine Gefühle ausdrücke und die Menschen inspirieren kann. Ich kann heute sagen: Ich habe mein Ziel erreicht. Wir sollten die Vergangenheit nicht vergessen, wir sollten davon lernen. Wenn man seine eigene Geschichte nicht kennt, kann man keine Zukunft haben. Das Material von Yad Vashem, das meine Lebensgeschichte ist, bedeutet für mich eine Hoffnung darauf, dass die jungen Menschen heute nachvollziehen können, was Diskriminierung und Antisemitismus bedeuten. Und ich hoffe, dass Lehrkräfte das auch vermitteln können. Und ich bin immer bereit ins Gespräch zu kommen und den Versuch zu wagen, dadurch dazu beizutragen, dass die neue Generation eine bessere Welt ermöglichen kann. Ich bin sehr froh, dass Yad Vashem und insbesondere Noa Mkayton das so wunderbar verarbeitet haben.
Vielen Dank
Das Interview führten Anne Lepper und Simon Salzmann.
Anne Lepper studierte Soziale Arbeit (B.A.) und Holocaust Studies (M.A.) in Berlin. Sie arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei dem Online-Magazin Lernen aus der Geschichte und ist Mitinitiatorin des Projektes Flucht, Exil, Verfolgung sowie der gleichnamigen Website. Von September bis Dezember 2015 war sie Praktikantin am German Desk der International School for Holocaust Studies.
Simon Salzmann lebt in Leipzig und studiert dort Kulturwissenschaften/Philosophie und Geschichte. Er arbeitete von 2013 bis 2015 als studentische Hilfskraft am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte an der Universität Leipzig.
Derzeit schreibt er seine Bachelorarbeit in Geschichte über migrantische Organisation in der Arbeiterbewegung anhand der Gastarbeiterstreiks in den 1970er Jahren in Westdeutschland. Von Oktober bis Dezember 2015 war er Praktikant am German Desk der International School for Holocaust Studies.