Beschreiben Sie bitte die Beziehung zwischen den Familien Veseli und Mandil. Wie gestaltete sich Ihr Kontakt über all die Jahre?
Nomi Mandil: Der Kontakt zwischen beiden Familien war immer konstant und bestand zunächst zwischen den Eltern von Gavra [Moshe und Ela Mandil] und Refik. Bis zur Auswanderung der Familie Mandil nach Israel war die Verbindung sehr eng. Als die Familie nach Israel emigrierte, wollte Refik trotz seines muslimischen Hintergrunds mitkommen. Er hat sich als Teil der Familie gefühlt. Die Eltern von Gavra haben den Kontakt zu Refik auch in Israel aufrechterhalten. Später hat dann Gavra die Verbindung zu Refik weiter gepflegt. Der Kontakt riss also nicht ab. Refik und seine Familie verwendeten bestimmte Schlüsselwörter, um uns zu signalisieren was sie in Albanien benötigen. So haben wir auch mitbekommen, dass sie nicht genügend Lebensmittel hatten, und schickten ihnen Vitamine.
Ruti Mandil: Unser Vater hat die seltene Fähigkeit besessen nicht zu vergessen, was man für ihn getan hat. Er wollte den Menschen, die der Familie geholfen haben, etwas zurückgeben und helfen, wo es nur geht. Jahrzehntelang waren die Grenzen Albaniens verschlossen, aber es war unmöglich meinen Vater davon abzuhalten, die verschlossenen Tore zu öffnen. Fatmir, der Sohn von Refik, erzählte, dass man Refik dazu geraten hat, den Kontakt zu uns abzubrechen, weil es zu gefährlich sei. Dennoch blieben die beiden Familien miteinander in Verbindung und schickten sich gegenseitig Postkarten und Briefe.
Ron Mandil: Mein Vater machte sich nicht von den kommunistischen Autoritäten und der Bürokratie Albaniens abhängig. Er hat erreicht, dass Refik 1990 nach Israel kommen konnte, um die Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“ entgegen nehmen zu können. An diesem Tag habe ich auch geheiratet. Refik wurde an meinem Hochzeitstag geehrt.
Gavra und Refik sind beide nicht mehr am Leben. In welchem Verhältnis stehen die beiden Familie heute zueinander?
Ron Mandil: Mein Interesse am Holocaust und an der Geschichte meines Vaters hat erst begonnen, als ich selbst Kinder bekam. Bis dahin hatte die Shoah nichts mit mir zu tun. So ähnlich war es auch bei der Familie Veseli, zumal in einem kommunistischen Land, wo es vor allem aufs Überleben ankam. Da blieb nicht viel Zeit, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. So bestand der Kontakt hauptsächlich zwischen meinem Vater, Gavra, und Refik. Erst in den letzten zwei Jahren konnten wir Kinder den Kontakt wieder intensivieren. Wir haben uns sogar getroffen. Die Begegnung war sehr herzlich und angenehm, so als handele es sich um die eigene Familie. Das hat die Beziehung zwischen den Familien intensiviert.
Ruti Mandil: Die Begegnung mit der Familie von Refik war so natürlich, als ob wir alle Brüder und Schwestern wären. Eine Verbindung zwischen uns, ist die von uns allen geteilte Liebe zur Fotografie. Die Fotografie hat uns das Leben gerettet! Die Leidenschaft und Verbundenheit zur Fotografie waren für meinen Vater und Refik lebensrettend. Noch heute lebt diese Verbundenheit in unserer Generation weiter, denn Fatmir (der Sohn von Refik Veseli) hat ein Fotogeschäft [in Tirana] und wir haben eine Schule für Fotografie [in Tel Aviv].
Nomi Mandil: Bei unserem Besuch in Albanien haben wir den Präsidenten, den Ministerpräsidenten und den Imam von Albanien getroffen. Wir haben für alle Geschenke mitgebracht, um uns zu bedanken. Wir wollten dem ganzen albanischen Volk „Danke“ sagen. Albanien ist das einzige Volk, das in Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" anerkannt wurde. Das ist etwas sehr Ungewöhnliches und Besonderes. Die Menschen in Albanien haben sich so gefreut. Während meines Besuches habe ich mich nicht so sehr als Einzelperson verstanden, sondern als Repräsentantin für all jene, die sich für die Rettung der Juden und Jüdinnen bedanken wollten.
Welche Rolle spielt die Geschichte von Gavra und Refikfür euer Leben? Haben die Erfahrungen eures Vaters Einfluss auf den Alltag?
Ruti Mandil: In unserem Alltag ist die Geschichte nicht präsent. Schaut man sich allerdings hier im Fotostudio Gavra um, dann ist die Geschichte doch gegenwärtig. Alleine die Fotos, die hier an der Wand hängen, sind alle von meinem Vater. Das Studio und unser Beruf sorgen dafür, dass unser Vater immer anwesend ist. Mit der historischen Dimension der Geschichte haben wir Kinder uns allerdings lange Zeit nicht auseinandergesetzt. Ich hatte die Geschichte meines Vaters gehört, aber sie spielte keine Rolle in meinem Alltag. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert, vor allem durch die Reise nach Albanien. Die Geschichte lebt wieder auf. Ich hoffe, dass das weitergeht, und dass das erst der Anfang ist. Die Verbindung zu Albanien ist in meinen Augen etwas, was sich auf vielfältige Weise weiterentwickeln kann.
Welche Rolle spielt es, dass ihr Vater von einer muslimischen Familie gerettet wurde, vor allem hier in Israel, wo Konflikte zwischen Juden und Muslimen so präsent sind?
Nomi Mandil: Die Veselis haben aus humanitären Gründen gehandelt. Es stimmt, sie sind Moslems, aber in erster Linie sind sie Menschen. Jemand hat Refik einmal gefragt: „Habt ihr sie als Muslime gerettet, oder als Albaner? “ Und da sagte er: „Als Albaner.“ Auf Albanisch gibt es ein sehr wichtiges Wort, nämlich „Besa“. Das bedeutet: Mein Haus gehört Gott und dem Gast! Und da kannst du Moslem sein, oder Christ – das wichtige ist: du bist Albaner. Das war eine sehr dominante Auffassung. Heute hat sich die Welt verändert und es geht viel mehr darum, ob man Moslem ist oder nicht.
Ruti Mandil: Ich sehe überhaupt keinen Zusammenhang, von einer muslimischen Familie gerettet worden zu sein und dem heutigen Konflikt in unserem Land. Für mich ist Optimismus das Wichtigste. Im Grunde hängt die Frage, ob ein Mensch gut ist oder nicht, von der Erziehung ab. In der Tiefe seines Herzens ist der Mensch nicht schlecht. Kein Mensch ist von Beginn ein schlechter Mensch. Das ist abhängig davon, wie Kinder aufwachsen und in welche Richtung ein Kind erzogen wird und was man ihm als richtig vorlebt. Und wenn man einem ganzen Volk beibringt: Das ist das Richtige, dann wachsen alle mit diesen Werten auf! Das ist einfach eine Frage der Erziehung!
Ron Mandil: Ich habe in meinem Leben sehr viele Araber getroffen. Ich habe immer versucht, alle Menschen als Menschen zu betrachten. Auch hier in Israel gibt es Unterschiede zwischen aschkenasischen und sefardischen Juden. Doch diese Unterschiede haben mich auch hier nie interessiert! Als ich mit meinem Vater in der Altstadt in Jerusalem war, haben wir uns auch immer im arabischen Viertel so bewegt, als ob wir dazu gehörten. Ich wurde auch so erzogen. Ich hatte in den letzten Jahren viel mit Bauarbeitern zu tun, das waren Araber. Und die Leute sind mir immer mit viel Respekt und Vertrauen begegnet. Vor allem, weil ich Ihnen als Gleicher unter Gleichen begegnet bin! Dieser beidseitige Respekt hat sich in verschiedenen Situationen gezeigt. Vor anderthalb Jahren ist mein ältester Sohn in die Armee gegangen. Am Abend davor habe ich ihn eingeladen und wir saßen zu dritt zusammen, mein Sohn, ich und ein arabischer – muslimischer – Freund von mir. Ich habe zu meinem Sohn gesagt: „Wahrscheinlich wirst du irgendwann irgendwo auf Familienmitglieder von unserem Freund treffen. Und ich sage dir jetzt nicht, die Befehle, die man dir geben wird, nicht auszuführen. Aber ich erwarte von dir, dass du diese Befehle auf eine respektvolle Weise ausführst! Du musst dich immer daran erinnern, dass dein Gegenüber ein Mensch ist. Und ich sage dir nicht, dass du nicht reagieren sollst. Aber mache es auf eine respektvolle Art und Weise!“
Wie findet ihr es, dass es in Deutschland eine Schule gibt, die den Namen von Refik Veseli angenommen hat?
Nomi Mandil: Das gibt mir Hoffnung! Auf diese Art und Weise setzen wir ein Zeichen, das viel mehr zum Gedenken beiträgt als ein Denkmal. Ein solcher Umgang mit Geschichte ermöglicht eine wirkliche Auseinandersetzung. Das hat erzieherischen Wert.
Ron Mandil: Es ist einfach unglaublich beeindruckend! Das macht aus unserer persönlichen Geschichte eine Geschichte der Menschheit! Damit wird aus der Geschichte etwas Zeitloses. Über meinen Vater gibt es bereits einen Film. Mit der Umbenennung der Schule steht mal nicht mein Vater, sondern Refik im Vordergrund. Das finde ich gut! Meiner Meinung nach war die Familie Veseli immer sehr bescheiden. Endlich rückt sie nun ins Zentrum. Das ist eine wichtige Ehre, die Refik nun so zu Teil wird.
Ruti Mandil: Ich bin ganz besonders von der Eigeninitiative der Jugendlichen begeistert! Diese Jugendlichen haben sich, zusammen mit ihren Lehrer_innen so sehr dafür eingesetzt, der Schule diesen Namen zu geben. Das passt gut zu dieser so großartigen und doch selbstverständlichen Tat von vor 70 Jahren – dass gute Menschen Andere gerettet haben. Und die Kinder der Veselis haben sich mit den Mandilkindern angefreundet. Und 70 Jahre später sind wir, die Kinder von Gavra und die Kinder von Refik, Ehrengäste an einer Schule in Berlin, mitten in Deutschland! Das muss unbedingt aufgezeichnet werden!
Was ist eure Botschaft an die heutige Generation in Deutschland, was sollen sie aus eurer Familiengeschichte lernen? Denkt ihr, dass sie auch für die heutige Generation in Israel Relevanz haben kann?
Ruti Mandil: Dass es Menschen gab, die Gutes für andere Menschen getan haben, ohne dabei eine Unterscheidung in Religion, Ethnie oder Geschlecht vorzunehmen – und das in der allerschrecklichsten Zeit der Geschichte, das ist für mich ein Beispiel, ein Vorbild, von dem man lernen muss. Das Beispiel zeigt, dass es möglich ist, und dass es letztendlich vom Herzen der Menschen abhängt, und nicht von Regierungen oder extremen Menschen. Alles hängt ab vom Herzen einer Person und davon, wie man sich selbst und seine Kinder erzieht. Und jede Person muss sich ethisch verhalten sich selbst gegenüber, authentisch sich selbst gegenüber, auch wenn es dabei um Leben oder Tod geht. Es ist besser, sich in Lebensgefahr zu begeben und dabei das zu tun, was in deinen eigenen Augen das Richtige ist, als Kompromisse einzugehen, um damit auf Nummer sicher zu gehen. Genau das ist so inspirierend! Refik ist kein großer und berühmter Mensch, sondern er tat etwas, wozu er auch in der Lage war. Das ist inspirierend, und zwar nicht nur für uns hier in Israel, sondern überall. Das ist etwas Universales.
Nomi Mandil: Diese Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass ein Mensch etwas Gutes für einen anderen Menschen tun kann. Auf irgendeine Art und Weise wird sich die Geschichte wiederholen. Gute Taten haben Konsequenzen. Sie begleiten einen ein ganzes Leben lang! Was mich heute stört: Wir sind doch alle Bürger dieser Welt – wie kann es also sein, dass es so viel Separierung gibt, lauter von einander abgetrennte Zellen, in denen das Böse und Fanatismus herrschen?
Ruti Mandil: Ich benutze diese Geschichte als Beispiel, in dem es nicht nur um den Holocaust geht, nicht nur um etwas Spezifisches. Es geht hier nicht nur um die Familien Veseli und Mandil, sondern dies ist ein universelles und zeitloses Beispiel für den Sieg des Guten über das Böse, für den Sieg des Lichts über die Angst, für den Sieg der Humanität über Ausgrenzung. Der Name der Schule ist auch eine Verpflichtung! Wir wissen nicht, welchen Einfluss dies auf den Einzelnen haben wird, aber vielleicht wird es jemanden inspirieren, für jemanden von Bedeutung sein! Eine gute Tat zeigt, dass das Gute Einfluss hat.
Ron Mandil: In dieser Geschichte spielt Respekt eine zentrale Rolle. Man kann die Geschichte in zwei verschiedene Richtungen auslegen, die sich scheinbar widersprechen: Einerseits ist es die Geschichte vom Überleben des jüdischen Volkes, das sich vor der ganzen Welt behaupten musste. Ich könnte also sagen, dass wir daraus lernen müssen, für uns selbst zu kämpfen, weil niemand auf dieser Welt uns beisteht. Andererseits kann man auch genau das Gegenteil daraus schließen und das Gute, die Rettungstat von Refik und der Familie Veseli, in den Vordergrund stellen. Die Wahrheit ist, dass beide Sichtweisen miteinander verbunden werden müssen. Und hier ist wieder das Element von Respekt ganz wichtig. Meiner Meinung nach müssen wir zunächst uns selbst respektieren und uns um uns selbst kümmern, und zugleich auch den Anderen achten und wahrnehmen, was um uns herum passiert. Als junger Mensch möchte man die Welt verbessern und eine der Einsichten, zu denen ich persönlich gelangt bin, ist die, dass ich nur dort etwas verändern kann, wo ich in direkter, physischer Berührung stehe. An unserer Geschichte sieht man, dass es viele Menschen mit gutem Willen gab – aber Refik hat wirklich etwas getan. Letzten Endes zählt nur das, was wir wirklich getan haben, und nicht, was wir tun wollten.
Vielen Dank für das Interview!