Herr Tirosh, erzählen Sie uns von Ihrem Leben in Warschau und später im Warschauer Ghetto.
Ich wurde 1937 geboren. Wir lebten in Warschau in der Vilenska Straße. Unsere Familie gehörte zur Mittelklasse. Mein Vater hatte eine große Schreinerei und war ein Boxer. Er war sogar Mitglied der polnischen Nationalmannschaft.
Ich erinnere mich daran, dass der Krieg im September 1939 begann. Da war ich zweieinhalb Jahre alt. Bereits im Oktober hatten uns die Deutschen aus unseren Wohnungen ins Ghetto gebracht. Ich erinnere mich an eine Schar von Menschen mit Koffern und daran, dass die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter sehr traurig waren. Das machte auch mich als Kind sehr traurig. Mein Vater, meine Mutter und meine jüngere Schwester gingen also an den Ort, der später das Ghetto wurde. Dort zwängte man uns in eine Wohnung in der Novolivki Straße 91 – ein hässliches Haus, ganz anders als unseres. Ich weinte immer, weil ich spürte, dass etwas sehr Schlimmes passierte. Aber ich wusste nicht genau, was.
Im Ghetto ging das Leben mehr oder weniger weiter. Aber es herrschte immer Not an Essen und Wasser, denn das Ghetto war sehr dicht bevölkert: Die Straßen und Wohnungen waren voller Menschen. Überall waren Menschen.
Ich erinnere mich an einen Moment, als wir Zuhause gar nichts mehr zu essen hatten. Wir hatten aber Geld, da es meinem Vater finanziell ganz gut ging. Meine Mutter nahm mich also mit zum Markt in der Stadt, und was dort geschah hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt: In einer dunklen Ecke des Marktes fand sie eine Frau, die ihr ein Viertel von einem Brotlaib verkaufte. Das Brot war hart wie Stein. Meine Mutter sagte zu mir „nimm das und kaue langsam darauf herum.“ Als ich das Brot essen wollte, bemerkte ich, dass ein alter Mann, so im Alter meines Großvaters, mit „herausspringenden“ Augen vor mir saß. Ich konnte sehen wie seine Lippen das Brot mit mir zusammen aßen. Ich gab ihm daher das Brot und meine Mutter schrie mich an. Ich sagte ihr, „schau dir diesen Großvater an. Er hat Hunger.“ Das ist eine Episode, an die ich mich noch gut erinnere.
Wie schafften Sie es, unter solchen Bedingungen zu überleben?
Meine Mutter sagte, sie müsse etwas unternehmen. Daher zog sie sich eine Hose an, was damals untragbar war, und kletterte nachts über die Mauer auf die polnische Seite, um Essen zu suchen.
In einem der Stadtviertel rotteten sich einige junge Männer zusammen und begannen „Jüdin, Jüdin“ zu rufen. Sie rannte vor ihnen weg und aus einer der Gassen kam ein 19 Jahre alter Mann. Sein Name war Zigmunt Pientak. Er rief den Männern, die sie verfolgten, zu: „Lasst sie in Ruhe, sie ist keine Jüdin. Sie lebt hier.“ Dann fragte er meine Mutter: „Was tun Sie hier?“ Daraufhin antwortete sie: „Mir ist alles egal, ich muss Essen auftreiben.“
Dieser Zigmunt Pientak, 19 Jahre alt, ging also zu seiner Mutter, die auf dem Markt arbeitete, und kam mit Kartoffeln und Kohl zurück, die er meiner Mutter mitgab. Meine Mutter erzählte Zigmunt, wo wir lebten, und dass mein Vater ein Boxchampion war. Davon war er sehr beeindruckt, weil es damals eine große Sache war und – glauben Sie mir – sogar heute noch Polen beeindruckt.
Zigmunt Pientak versprach schließlich, dass er ins Ghetto kommen und uns Essen mitbringen würde. Das tat er auch. Er brachte uns immer Kartoffeln und Kohl und meine Mutter kochte das. Ich glaube, das war der Grund, warum wir von Typhus verschont blieben. Es gab zwar keine Hygiene, aber zumindest hatten wir Essen.
Erinnern Sie sich an den Ghetto-Aufstand im April 1943?
Als Kind fiel mir auf, wie plötzlich alles geheim und ruhig wurde. Die Leute flüsterten miteinander und so verstand ich, dass etwas passieren würde. Ich wusste nur nicht genau, was. Die Atmosphäre war eine andere. Mein Vater war sehr ernst. Er verschwand für eine Weile und kehrte dann wieder zurück.
Eines Tages rief er mich zu sich. Er öffnete meinen Mantel, band etwas um meine Taille, machte den Mantel zu und sagte: „Moshe, geh rüber auf die andere Seite. Der Onkel wird dir Süßes geben, aber halte auf dem Weg dorthin nicht an.“ Ich glaubte meinem Vater, lief ohne zu zögern los und hielt nicht an. Der Onkel öffnete meinen Mantel, nahm etwas von meiner Taille ab, band etwas anderes fest und sagte: „Geh zu deinem Vater.“ Das ging so einige Male am Tag; meine Mutter schrie meinen Vater an, was er da mache und warum er das Kind in Gefahr brächte. Er erklärte ihr: „Ruhig. Alle machen mit.“
Während des Aufstandes befanden wir uns nicht mehr im Ghetto. Mein Vater sagte zu Mordechai Anielewicz, dass er eine Frau und zwei Kinder zu retten hätte. Daher wollte er uns aus dem Ghetto schicken.
Mein Vater nutzte mich als Kind, um Waffen von einem Ort zum anderen zu transportieren, denn für uns Kinder war es in den Straßen nicht so gefährlich wie für die Erwachsenen. Das war vor dem Aufstand. Sie können das als Vorbereitungen für den Aufstand betrachten. Mein Vater half außerdem dabei, die sogenannten Bunker vorzubereiten.
Wie entkamen Sie aus dem Ghetto?
Eines Tages kam Zigmunt zurück und sagte, dass es eine Familie in der Karankova Straße, gegenüber des Ghettos auf der polnischen Seite, gäbe. Sie würden uns für einen bestimmten Betrag an Geld aufnehmen. Mein Vater willigte ein: „Einverstanden, wir werden so viel zahlen, wie nötig ist.“
In der Nacht steckten sie Stefcha, meine zwei Jahre jüngere Schwester, und mich zusammen mit sechs weiteren Taschen voller Gerümpel in einen Sack. Zigmunt organisierte eine Art „Prumantka“, das heißt einen Karren und ein Pferd. Meine Mutter und mein Vater kletterten im Dunkel der Nacht über die Mauer und so gingen wir zur Karankova Straße.
Von dort aus zogen Sie weiter zum Zoo und versteckten sich da. Wie kam es dazu?
Durch meinen Großvater Sobol hatten wir sehr gute Verbindungen zum Zoo. Er verkaufte dem Zoo Obst und Gemüse. Einmal mehr half uns Zigmunt Pientak. Seine Aufgabe war es, eine „Roshka“ zu mieten. Eine „Roshka“ ist eine Art Karren mit einem Verdeck. Keiner wollte uns fahren. Schließlich stimmte einer für eine große Summe Geld zu, aber nur unter der Bedingung, dass Zigmunt sich neben den Fahrer setzen würde.
Wir näherten uns der Kirveza-Brücke über dem Weichsel-Fluss. Brücken waren strategische Punkte, die von den Deutschen bewacht wurden. Auf der Brücke kam ein Deutscher auf uns zu und schrie „Halt!“. Vater hatte das vorhergesehen und Zigmunt angewiesen, Wodka über das Pferd und den Wagen zu schütten. Es wurde gerade dunkel und es begann zu regnen. Der Deutsche roch den Wodka und sagte daraufhin: „Polnische Schweine, verschwindet!“ Er hielt uns für betrunken und ließ uns durchfahren. Das gleiche passierte auf der anderen Seite der Brücke und schließlich erreichten wir den Zoo auf der anderen Seite der Weichsel.
Antonia Zabinska, die Frau des Zoodirektors Jan Zabinski, empfing mich und meine Schwester. Das war im Oktober oder November 1942. Damals regnete es die ganze Zeit. Daher brachten die Zabinskis mich und meine Schwester Stefcha in den Keller ihrer Villa. Meinen Eltern gaben sie Pelzteile und wiesen sie an, in den Tiergehegen zu bleiben.
Ich habe nicht viele Erinnerungen an die Zeit dort, aber ich weiß noch, dass Antonia unsere Köpfe mit einer chemischen Flüssigkeit wusch und schrubbte, was uns wie Arier aussehen lassen sollte. Sie benutzte Bleichmittel, um unsere Haare blond zu färben. Sie schrubbte jedoch zu viel und so hatten wir am Ende rote Haare. Jemand sagte zu uns, wir sähen aus wie Eichhörnchen und so wurde das zu unserem Undercover-Namen. Wir waren die Eichhörnchen.
Wir blieben nicht lange im Zoo, da die Zabinskis eine Hausangestellte hatten, die sehr antisemitisch war und nicht wollte, dass man den Juden half. Wir lebten ständig in der Gefahr, von ihr an die Deutschen ausgeliefert zu werden.
Erst später fand ich heraus, dass es im Zoo eine große Rettungsaktion gegeben hatte. Zu der Zeit dachte ich jedoch, dass wir die einzigen Versteckten waren.
Welchen Einfluss hat der Aufstand im Warschauer Ghetto für die israelische Gesellschaft?
Die Juden lernten von diesem und anderen Aufständen im Ghetto, sich selbst zu verteidigen und zu kämpfen und nicht mehr wie früher, auch die andere Seite ihres Gesichtes hinzuhalten, wenn sie von einem Nicht-Juden geschlagen wurden. Heute vergeben wir nicht. Wir kämpfen und versuchen stark und rechtschaffen zu sein. Ich denke, der Aufstand im Ghetto war eine außergewöhnliche Sache: Einige wenige gegen eine große Anzahl an Feinden, wie den Deutschen. Sie kämpften drei Wochen lang, das war nicht einfach.
Ein menschliches Wesen ist sich dessen bewusst, sein Leben zu opfern, um gegen Ungerechtigkeit, gegen einen Genozid zu kämpfen. Die, die wirklich kämpften, waren nur wenige. Unter ihnen war mein Vater, Shmuel Kenigswein. Er war damals ein Schmuggler, was eine extrem gefährliche Tätigkeit war. Wenn die Deutschen ihn gefasst hätten, hätten sie ihn auf der Stelle getötet. Er war ein Essens- und Waffenschmuggler und er war eng mit Mordechai Anielewicz befreundet. Er hatte seine eigenen Schmuggelwege und er hatte viele nicht-jüdische Freunde auf der arischen Seite der Ghettomauer.
Mein Vater war eine charismatische Person, aber nicht sehr intelligent. Aber intelligentere Leute hörten auf ihn. Er half anderen gerne, er war eine starke Person und viele Freunde halfen ihm, beispielsweise Zigmunt Pientak, ein Gerechter unter den Völkern, durch den es gelang, Kontakte zu vielen anderen Leuten außerhalb des Ghettos herzustellen. Er hatte auch einen Freund, der in der polnischen Armee Kommandeur war, Felix Sivinsky.
Wie hat Sie dieser Aufstand persönlich beeinflusst?
Das kam erst nach dem Krieg, da ich zu der Zeit, als es passierte, ein kleiner Junge war. Während des Aufstandes, beispielsweise, lebten wir mit Frau Raczeck in der Karl-Gova-Straße 84. Vom Dach aus konnten wir das brennende Ghetto sehen. Sie zwang uns, es uns anzusehen und erklärte uns, dass die Deutschen die Parasiten verbrennen würden.
Sie wollte, dass wir gehen. Sie erhielt viel Geld, aber sie sagte trotzdem zu uns: „Juden verschwindet.“ Sie hatte Angst, die Deutschen könnten herausfinden, dass sie Juden half. Sie wurde aber auch vom polnischen Untergrund bedroht: Für den Fall, dass sie uns den Deutschen ausliefern würde, würde sie auch getötet werden. Sie verhielt sich daher still, aber sie quälte uns. Am Ende mussten wir gehen.
Als ich nach dem Krieg immer noch in Polen war, hörte ich den Radiosender der BBC und erfuhr vom Krieg hier in Israel, wie die Juden für einen unabhängigen Staat kämpften. Ich war sehr stolz. Stolz, dass die jungen Männer für uns kämpften und dass ich eines Tages auch in Israel sein würde.
Was denken Sie über die heutige israelische Gesellschaft?
Hören Sie, ich bin zu hundert Prozent Patriot. Ich weiß aber auch, dass in unserer Gesellschaft nicht alles rosarot ist. In jeder Gesellschaft gibt es gute und schlechte Seiten. Wenn ich mir unsere Jugend anschaue, die sich in der Armee und in vielen anderen Projekten engagiert, dann bin ich stolz. Natürlich wünsche ich mir eine viel bessere Gesellschaft, aber es ist eben auch mein Land und der einzige Ort auf der Welt, wo ich wohnen möchte.
Natürlich gibt es auch Negatives: Geld wurde zum Parameter für viele Leute in diesem Land. Deswegen verlieren die Menschen ihre Selbstachtung. So etwas ist nicht gut für unsere Gesellschaft. Darum wünsche ich mir mehr soziale Einigkeit.
Wir besitzen etwas Großartiges. Wir haben unser eigenes Land und wir müssen stark und weise sein. Wir müssen mehr in Bildung investieren. Wir haben hier Menschen aus verschiedenen Kulturen und wir haben eine wundervolle israelische Kultur, die jeder in seinem Herzen tragen muss. Wir haben ein gutes und kostbares Land und jede Person sollte versuchen, Gutes in ihrem Bereich zu tun. Dann wird es sicherlich ein wunderbarer Ort sein.
Die junge Generation darf nicht vergessen... sie darf nicht vergessen. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht wie andere Nationen sind. Wir müssen es besser machen als alle anderen, um sicherzugehen, dass uns so etwas wie der Holocaust nie wieder geschieht.
Haben Sie mit Ihren Kindern über Ihre Geschichte gesprochen?
Ich habe viel mit meiner Mutter darüber gesprochen. Mit meinen Kindern habe ich das nicht getan. Meine Enkel mussten für die Schule ein Projekt über ihre Familie machen. Anfangs schämte ich mich, über uns zu sprechen – wie wir wie schwache Schafe behandelt und getötet wurden. Sechs Millionen sind viele. Aber später begann ich zu verstehen, dass sie keine anderen Möglichkeiten hatten. Eine sehr wichtige Sache, mit der ich das Interview gerne beenden möchte, ist meine Familie: Sie besteht jetzt aus 56 Personen, wundervollen Kindern und Enkeln.