Herr Orlev, weshalb schreiben Sie Bücher über den Holocaust für Kinder?
Jeder Künstler, ob Schriftsteller, Dichter, Maler oder Komponist bedient sich seiner Kindheit, um sich künstlerisch auszudrücken. Denn wenn wir an unser Leben erinnern, ist die Kindheit tief in unserem Gedächtnis eingeschrieben. Es sind die ersten und intensivsten Erinnerungen an unsere ersten Erfahrungen. Und wir sind uns ihrer nicht immer bewusst. Darum gibt es auch Künstler, die überhaupt nicht die Absicht haben, etwas aus ihrer Kindheit zu schaffen.
Ich bin ein geborener Geschichtenerzähler. Als Kind habe ich anderen Kindern immer Geschichten erzählt. Manche Geschichten hatte ich vorher gelesen, andere habe ich mir selbst ausgedacht. Als ich nach Palästina bzw. Israel kam, dachte ich, dass ich ein Dichter sei, weil ich als Kind viele polnische Gedichte für Erwachsene gelesen hatte. Mit dreizehn Jahren habe ich in Bergen-Belsen Gedichte auf Hebräisch geschrieben. In dieser Zeit sind ungefähr fünfzehn Gedichte entstanden.
Auf jeden Fall begann ich in Israel Prosa zu schreiben und nicht länger Gedichte. Und wenn ich etwas schreibe, dann greife ich dafür auf meine Kindheit zurück. Ich kann über den Holocaust und diese Zeit nur so sprechen, erzählen oder schreiben, wie ich mich als Kind daran erinnere. Ich kann nicht als Erwachsener darüber sprechen. Das ist wahrscheinlich eine Art Schutz vor der Traumatisierung für mich.
So kann ich zum Beispiel nicht über meine Mutter und ihre Gefühle in all den Situationen in denen wir waren nachdenken. Einmal wurde ich von einem Psychiater behandelt, der mich besuchte und mir sagte, dass ich ihm vom Krieg erzählen soll. Ich sagte ihm, dass ich nicht über den Krieg erzählen könne, weil er wollte, dass ich darüber als Erwachsener spreche.
Vielleicht könnte ich es spielen oder tanzen, aber darüber sprechen kann ich nicht. Es war daher auch nicht unbedingt mein Ziel, dass diese Bücher sowohl für Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene angemessen geschrieben werden. Ich erzähle in der Art und Weise, wie ich mich an die Witze, die lustigen, beängstigenden und seltsamen Situationen als Kind erinnere.
Wann denken Sie, sollte man beginnen mit Kindern über den Holocaust zu sprechen?
Das weiß ich nicht.
Wann haben Sie angefangen mit Ihren Kindern darüber zu sprechen?
Ich habe mit ihnen nie so darüber gesprochen, wie ich es mit Schulklassen tue. Nur wenn ich in eine Schule kam und eines meiner Kinder in der Klasse war. Sie haben Angst davor. Ich habe eine Tochter, die 53 Jahre alt ist und nie eins meiner Bücher gelesen hat. Sie sagt, dass es ihr Angst mache, darüber nachzudenken, in welchen Situationen ich gewesen bin.
Und so ist es auch mit ihren Kindern, meinen beiden älteren Enkeln: Einer von ihnen, mein 17-jähriger Enkel war in einer Schulklasse, für die ich meine Geschichte erzählte. Er hat also die Geschichten gehört. Meine Tochter Daniella, die 40Jahre alt ist, hingegen hat Angst und gibt ihren Kindern keines meiner Bücher zu lesen. Ihre Kinder dürfen auch keine anderen beängstigenden Geschichten lesen. Ich denke, sie macht einen Fehler. Man muss das Thema langsam einführen und weil der Holocaust überall präsent ist, sollten wir das Thema nicht vor unseren Kindern verstecken, denn dies wäre ein Fehler. Aber natürlich kann ich meiner Tochter nicht sagen, wie sie ihre Kinder erziehen soll. Man muss langsam anfangen und natürlich nicht mit den schrecklichsten Gräueltaten. Schreckliche Dinge werden im Fernsehen die ganze Zeit gezeigt. Selbst wenn man seinen Kindern nicht erlaubt, das anzusehen, kommen sie zufällig dazu und sehen diese Dinge, zum Beispiel das Morden in Syrien. Wenn Daniella mit ihren Kindern hier ist, dann erlaubtsie mir nicht die Nachrichten zusehen.
Was in Yad Vashem gemacht wird ist richtig: Man beginnt langsam, anstattgleich mit dem Holocaust anzufangen.
Ich habe Kinder einer Dorfschule aus Sardinien am Internationalen Holocaustgedenktag getroffen. Jedes Kind hatte etwas auf seinem Hemd und ich habe ihre Lehrer gefragt was dies sei. Eines der Kinder berichtete, dass sie beim Treffen mit mir ursprünglich einen gelben Stern anstecken wollten. Sie hatten meine Übersetzerin um ihre Meinung gefragt und sie meinte, dass sie nicht glaube, dass ich damit glücklich sein würde. Danach schlugen sie ihren Lehrern vor, Blumen zu malen und sie anzustecken und in jede Blume den Namen eines Kindes ihres Alters zu schreiben.
Das war sehr beeindruckend. Eine der Lehrerinnen erzählte mir von der Mutter einer der Schülerinnen, die richtige Blumen kaufte. Jede Blume bekam ein Namensschild, mit dem Namen und dem Alter eines Kindes, das ermordet wurde. Die Mutter arbeitete in einer Reinigung und jeder Kunde, der kam, bekam eine Blume mit einem Namensschild und sie erklärte ihnen was dies bedeutete. Das ist sehr schön. Ich ging zu ihr, um ihr zu danken. Sie sagte zu mir: „Wissen Sie, ich bin auch eine Mutter.“
Ich fragte die Lehrer, warum sie über den Holocaust sprechen. Sie sagten mir, dass dies ein Trauma der Menschheitsgeschichte sei und nicht nur in Bezug auf Juden. Und Kinder müssen dies wissen. Jetzt wird vielleicht auch verständlicher, warum und wie ich über den Holocaust schreibe: Ich habe kein Patent gefunden, sondern nur das Thema ausgewählt. Ich schreibe auch über anderes, ohne Holocaustbezug.
Was sind Ihre Kriterien für ein Kinderbuch?
Nur eine Sache ist wichtig: Abenteuer, Abenteuer, Abenteuer und nochmals Abenteuer. Nur dies. Damit es interessant ist. Als Kind habe ich das Buch „Onkel Tom‘s Hütte“ gelesen.
Das ist ein sehr abenteuerliches und aufregendes Buch, an das ich mich bis heute erinnere, denn dank dieses Buches weiß ich auch etwas über die Sklaverei. Nur diese Bücher überlebten Bücher wie Robinson Crusoe und Gullivers Reisen.
Ich habe Ihr Buch „Lauf, Junge, lauf“ über die Geschichte von Yoram Friedman gelesen. Wie kam es, dass Sie über diese Geschichte geschrieben haben?
Er besuchte Schulen und Militärstützpunkte, sowie die Zweigstelle von YadVashem in Giv´atayim, Bet Wolin. Dort erzählt er seine Geschichte. Er traf Erwachsene. Das war vor einigen Jahren, ungefähr zehn, damals war er noch jünger.
Eine Frau berichtete mir, dass sie ihn eingeladen hatte, und dass er eine sehr interessante Geschichte erzählte, über die ich ein Buch schreiben solle. Es wäre sehr lohnenswert ihn zu treffen und seine Erinnerungen zu hören. So kam es. Ich traf Yoram, nun nicht mehr mager und schwach, aber älter aussehend. Er begann mir seine Geschichte zu erzählen. Ich meinte zu ihm: „Yoram, warte, ich muss mit Dir sitzen und alles aufschreiben was du mir erzählst.“ Er sagte mir: „Nein, ich will dir jetzt meine Geschichte erzählen.“ Also sind wir in ein nahegelegenes Café gegangen. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt. Er sprach wie das Kind, das er damals war und so habe ich das aufgeschrieben. Ich schrieb ungefähr neun Monate lang. Er schickte mir auch sein Zeugnis, dass in Yad Vashem aufgenommen wurde, und das bereits niedergeschrieben worden war, und auch eine Kassette, die er für seine Tochter aufgenommen hatte, der er die Geschichte einmal erzählt hatte. Heute ist sie bereits eine erwachsene Frau. Jedes Mal, wenn ich Fragen hatte, habe ich ihn angerufen.
„Yoram, ich habe dieses und jenes geschrieben, was sagst du dazu?“ Er sagte meistens: „Das ist in Ordnung, du hast es richtig aufgeschrieben.“ Am Ende, nachdem ich ihm mein Manuskript geschickt hatte, rief mich seine Frau an. Sie sagte, dass Yoram den Raum verlassen hatte, um das Buch zu lesen. Als er zurückkam, war er vollkommen rot und sagte, dass dies der schönste Tag seines Lebens sei. Das war die größte Anerkennung, die ich in meinem Leben bekommen habe.
Sie haben seine Geschichte gemäß den Informationen, die Sie bekommen haben, aufgeschrieben. Inwieweit gibt es in Ihrer Version seiner Geschichte auch fiktionale Anteile?
Auf jeden Fall gehen auch fiktionale Anteile in das Schreiben einer Geschichte ein. Er war ein acht-, neunjähriges Kind und kann sich nicht an alle Details erinnern. Die Dinge, an die er sich erinnert, sind die Besten oder die Schlimmsten, die ihm passiert sind.
Diese Punkte habe ich genau so aufgeschrieben, wie er sie mir erzählt hat. Es gibt aber auch Dinge, von denen ich nicht glauben kann, dass sie wirklich passiert sind. Dies hätte ich als Schriftsteller nicht aufgenommen, aber da er mir bestätigte, dass sie auch wirklich so passiert waren, habe ich sie trotzdem aufgeschrieben.
Zum Beispiel, dass er seinen Vater im Feld getroffen hat. Das ist etwas, das man fast nicht glauben kann. Aber es ist wahr. Für mich waren die Informationen über die guten und schlechten Dinge in seiner Geschichte wie Ampeln einer Straße. Ich musste also noch die Straßen zwischen den Ampeln bauen.
War das für ihn kein Problem?
Für ihn war in Ordnung, was ich geschrieben habe. Ich habe seine Geschichte gemäß meiner eigenen Erfahrungen ähnlicher Situationen, die ich selbst erlebt habe, aufgefüllt.
Yad Vashem betont, dass man authentische Geschichten verwenden sollte, wenn man jungen Kindern über den Holocaust erzählt.
Was sind „jüngere“ Kinder?
Neun, zehn Jahre alte Kinder.
Die sind nicht mehr klein. Um die Geschichte Lauf, Junge, lauf zu erzählen habe ich auch meine eigene Erfahrung genutzt, denn ich war in derselben Zeit, in ähnlichen Situationen.
Was denken Sie über Fiktion und Realität in Büchern für junge Leser?
Ein Buch, das aufregend, gut geschrieben und einladend ist, wird mit viel Vergnügen von jungen Lesern gelesen werden. Ich bin früher in die Bibliothek gegangen und habe die Bibliothekarin gefragt: „Ist dieses Buch angsteinflößend?“ Und im Fall, dass sie mir positiv antwortete, nahm ich das Buch. Denn das waren genau die Bücher, die ich lesen wollte: beängstigende Bücher.
Vielen Dank für das Interview.