„Erinnerst du dich, wie du ein Kind singen gelehrt hast?“
- Chaim Rafael: Lebenslied, Tel Aviv 1997 (hebräisch).
- Chaim Rafael: Lebenslied, Tel Aviv 1997, Seite 40 (hebräisch).
- a.a.O., Seite 17.
- a.a.O., Seite 40 f.
- Gemeint ist ein feudaler Lebensstil.
- „Kanada“ ist ein Terminus aus dem Lagerjargon des Konzentrationslagers Birkenau und bezeichnet das Aufräumkommando und die Sammelstelle, an der die geraubten Gegenstände der Häflinge und Ermordeten gelagert und sortiert wurden. Hunderte Häftlinge, Frauen und Männer, vor allem Juden, reinigten dort, sortierten, suchten nach Wertsachen und bereiteten die Gegenstände für den Transport nach Deutschland vor. Die offizielle Bezeichung für diese Sammelstellen war: Effektenkammer. Der Name „Kanada“ kommt davon, dass sich die Häftlinge in ihrer Fantasie den Reichtum und die Fülle dieses Landes vorstellten. Die Arbeit in „Kanada“ wurde als eine der besten im Lager betrachtet, denn es war von hier aus möglich, Lebensmittel und andere Waren zu „organsieren“ und auf dem Lagerschwarzmarkt zu handeln. Außerdem handelte es sich um eine Arbeit im Innenraum und keine schwere körperliche Arbeit. Aus diesen Gründen war die Zahl der Überlebenden aus dem Kommando „Kanada“ relativ hoch.
- Susan M. Papp: Die Geächteten – eine Liebesgeschichte, Livluv Ltd., Tel Aviv 2011, S. 147 f (Hebräisch).
- a.a.O., S. 149.
- Ebda.
- Siehe Endnote 1, S. 58.
Das folgende Interview wurde mit Textausschnitten der Autobiographie Lebenslied von Chaim Rafael1 ergänzt. Diese Textausschnitte sind im Folgenden in farblich hinterlegten Kästen zu finden.
In vielen Überlebensberichten aus der Zeit des Holocaust stellt die erste Deportation der Jüdinnen und Juden den ersten traumatischen Einschnitt im Leben der Verfolgten dar. Bei der Ankunft im Lager wurden Familien während der Selektionen auseinandergerissen - die meisten blieben allein zurück. Die Häftlinge in den Lagern mussten Hunger und Krankheiten, Zwangsarbeit und körperliche und seelische Qualen erdulden.
Interviewt wurden Itzik Livnat, der 1930 in Sevjlus (Tschechoslowakei) geboren wurden und Chaim Rafael, der 1924 in Salonika geboren wurde. Beide beschreiben unter welchen Umständen sie sich in Auschwitz-Birkenau kennengelernt haben und was für eine Bedeutung diese Begegnung für sie hatte. Im Interview soll vor allem der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise trotz des isolierten Überlebenskampfes der einzelnen Häftlinge eine zwischenmenschliche Solidarität innerhalb der Häftlingsgesellschaft existierte. Es war kein trivialer Akt, wenn ein Häftling einem anderen half. In der Realität des Lebens im Konzentrations- und Vernichtungslager war der Versuch, einer Mitgefangenen oder einem Mitgefangenen zu helfen, fast unmöglich. Aber wie verschiedene Beispiele gegenseitiger Hilfe, Unterstützung und Solidarität zeigen, waren sie für die Opfer von enormer Bedeutung.
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Chaim, erzählen Sie uns bitte über Ihr Leben vor dem Krieg: über die Familie, Kindheitserlebnisse und ihre Erinnerungen an die jüdische Gemeinde.
Chaim: Ich wurde im Jahr 1924 in der griechischen Stadt Salonika geboren. Meine Eltern hießen Sultana und Zaddik Rafael. Wir führten ein traditionelles jüdisches Leben. Ich hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. In der Stadt herrschte große Armut, aber bei uns zu Hause galt das Motto, wir sollten stolz darauf sein jüdisch zu sein. Mein Vater pflegte auf Spanisch zu sagen: nicht jedem auf dieser Welt ist es vergönnt, ein Jude zu sein. Ich war sehr stark mit der Religion verbunden. Bei meiner Bar Mitzwa las ich den ganzen Wochenabschnitt „Wajikra“. Ich liebte das Judentum, die Thora, die Traditionen und Feiertage. Am Schabbat konnte man gehen, wohin man wollte, absolut frei; man konnte in die Synagoge gehen, aber auch in ein Restaurant und dort etwas essen ...
Und noch mehr sorgte sich meine Mutter um die Erziehung ihrer Kinder zu den Geboten der Thora und guten Taten. Sie steckte all ihre Energie in ihre Kinder und kümmerte sich fast gar nicht um sich selbst.2
Unser Haus in Salonika war voller Musik. Meine Mutter sang während der Hausarbeit. Meine Schwester Riwka summte besonders gerne die Melodien griechischer Operetten und Lieder in ladinischer Sprache. Die Musik war Teil unseres Lebens. Ich träumte immer davon, mir eine musikalische Ausbildung leisten zu können... Am Anfang erhielt ich Klavierstunden im Haus eines nichtjüdischen Freundes, später lernte ich auch Akkordeon spielen.3
Was machten Ihre Eltern beruflich?
Chaim: Wir hatten eine riesige Kohlenhandlung … In Griechenland war es sehr kalt, und so fehlte es uns an nichts.
Damals musste ich im Geschäft meines Vaters mithelfen und meinen Bruder Schmuel ersetzen, der zu dieser Zeit im griechischen Militär war. Die Kohlenhandlung meines Vaters befand sich in der Vasilis Olgas Straße 68 im Analipsi-Viertel. Dort lebten die meisten wohlhabenden Juden von Salonika ... und dort wohnten auch wir. Wir galten nicht als reiche Familie, aber wir waren auch nicht arm.4
Haben Sie eine jüdische Schule besucht? Können Sie die Beziehung zu Ihrem Umfeld beschreiben?
Chaim: Ich lernte in einer jüdischen Schule. In Griechenland herrschte immer mehr Hass als anderswo. Sie waren auf mich wütend, weil die Juden Jesus ermordet hätten, aber ich kannte Jesus nicht! Ich wusste nicht, wer Jesus war ... Nach dem Beginn der deutschen Besatzung im April 1941 wurden auch die Griechen grausam! Jeden Tag wurde ein Artikel gegen die Juden geschrieben. Einige Autoren wurden gezwungen, gegen die Juden zu schreiben. Wenn man über jemanden spricht, ohne ihn zu kennen, und jeden Tag etwas über ihn liest, dann hasst man ihn ohne ihn zu kennen. Die Freunde, mit denen ich aufwuchs, hassten uns plötzlich.
Können Sie das Leben unter der deutschen Besatzung beschreiben?
Chaim: Es gab die Befürchtung, dass in Europa etwas Schreckliches vor sich ging. Was genau, wussten wir nicht. Wie gesagt, am 6. April 1941 marschierten die Deutschen in Griechenland ein. Das war ein schreckliches Gefühl. Das war ein schwarzer Tag für mich, als die Deutschen einmarschierten, als hätte ich eine Ahnung, dass etwas Fürchterliches auf uns zukam. An einem Schabbat im Juli 1942 wurden alle Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren zusammengetrieben. Wir wussten nicht, was uns erwartete ... Die Männer waren geschwächt und hungrig. Neben uns brach ein Junge zusammen. Ich und ein anderer hoben ihn auf und legten ihn in den Schatten. Ich hatte nichts Schlechtes gemacht, aber ich bezahlte teuer dafür. Als wir zurückkehrten, hatte ich meinen Platz in der Menschenschlange verloren. Zwischen den Reihen trat ein deutscher Offizier heraus [...] und platzierte mich in der Mitte. Zuerst musste ich eine Art Gymnastik machen, dann wurde ich geschlagen. Die Deutschen übergossen mich mit Wasser, versetzten mir Tritte mit ihren Stiefeln. Nach einiger Zeit fühlte ich nichts mehr. Ich taumelte hin und her, ich hatte keine Kraft zu gehen und sie zerrissen meine Kleider. Hinterher blieb ich mindestens einen ganzen Monat zu Hause, weil ich mich nicht bewegen konnte.
Itzik, können Sie uns etwas über Ihr Zuhause und Ihre Gemeinde erzählen?
Itzik: Ich wurde in einer kleinen Stadt geboren, in es der verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen gab; es war ein Mikrokosmos, die seltsamste Mischung – Ungarn, Ruthenen, Deutsche, Roma und Juden, und alle verwendeten ein anderes Alphabet: das lateinische Alphabet für die Ungarn, die Ruthenen hatten ihre cyrillischen Buchstaben, die Deutschen die alten deutschen Lettern und die Juden sprachen Jiddisch und benutzten das hebräische Alphabet. Das war ein sehr lebendiger, kleiner Mikrokosmos. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Die Stadt hatte verschiedene Namen, aber alle bedeuteten dasselbe. Der bis heute übliche Name ist Nagyszöllös, obwohl die Stadt heute ja zur Ukraine gehört und ihr offizieller Name Vynohradiv lautet. Die Juden nannten sie auf Jiddisch Seylesh. In der Stadt lebten ungefähr 15.000 Menschen. Ich spreche über 1944, das Jahr des Zusammenbruchs, als noch jeder dritte Einwohner Jude war. Das Judentum war in zwei Strömungen aufgeteilt: es gab eine zionistische, moderne, ungarische Strömung mit einer hebräischen Grundschule. Zum Beispiel lernte ich in der ersten Klasse Rechnen auf Hebräisch. Das war ein Aspekt der städtischen Juden. Zur zweiten Strömung gehörten sowohl die Orthodoxen, als auch die Chassiden. Sie hassten den Zionismus und bekämpften ihn bis zum bitteren Ende. Aber dieser Kampf fand in meiner Stadt nur in einem eingeschränkten, moderaten Ausmaß statt.
Wieviele Geschwister hatten Sie?
Itzik: Wir waren fünf Kinder, ich war das vierte. Nach mir kam meine kleine Schwester Icuka. Zwei ältere Schwestern, mein Vater, ich und meine kleine Schwester wurden nach Auschwitz deportiert. Mein älterer Bruder befand sich in der Arbeitsbrigade der ungarischen Armee. Unsere Mutter verloren wir im Jahr 1944, sie starb zu Hause an einer Krankheit und wir begruben sie auf dem städtischen Friedhof. Ich war damals 14 Jahre alt.
Was sind Ihre Erinnerungen an die ersten Tage der deutschen Besatzung in der Stadt, was veränderte sich?
Itzik: Ich wurde auf einem großen Gutshof geboren, dessen Fläche in Quadratkilometern gemessen wurde. Das Gut gehörte einem ungarischen Adeligen. Ungarn war der letzte europäische Feudalstaat und ich kam in dieser spät-feudalistischen Phase zur Welt.5 Mein Vater war sehr loyal; Loyalität war für ihn der wichtigste Wert. Er war Ungar mit jeder Faser seines Herzens: er war stolz darauf, dass er noch unter Kaiser Franz Joseph gedient hatte, aber er nannte ihn Franz Joschke, als ob er ihn mit einem Spitznamen rufe, wie einen Freund. Und er war davon überzeugt, „uns kann so etwas nicht passieren.“ Sein Vertrauen war so groß, so etwas konnte einfach nicht sein. Alle Gerüchte, die uns erreichten - und es kamen tatsächlich verschiedene, seltsame Gerüchte auf ... man sprach daheim darüber, aber man sagte: „Geht darauf nicht ein“, es war gegen jede Logik und unsere ganze Lebensart. Und wir waren stolze Juden! Stolze Juden – das heißt, wir versteckten uns nicht und wir erklärten nicht, dass wir „jüdischer Abstammung“ waren – das war etwas, was sich erst kürzlich entwickelt hat. Wir waren Juden, schlicht und einfach.
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Was können Sie uns über die Ankunft im Lager erzählen?
Itzik: Nach der Ankunft in Birkenau und der Selektion wollte ich mit meiner kleinen Schwester gehen. Und da sagte mir jemand: „Hopp! Geh nicht dorthin, geh dahin!“ Was? Ich soll meine Schwester verlassen?? Nein! Und da sagte eine unserer Nachbarinnen, Frau Rosenberg, die mit dem gleichen Viehwaggon angekommen war: „Icuka, komm mit mir.“ Und ich ging zusammen mit meinem Vater dahin, wo sie mich hinschickten. Hätte ich darauf bestanden, mit meiner Schwester zu gehen, sie hätten es mir sicher erlaubt. Nach zwei oder drei Tagen, als all diese fürchterlichen Gerüchte auftauchten ..., verstand ich, dass ich Icuka verloren hatte. Und ich liebte sie doch so sehr. Sie war die Kleine, sie sah zu mir auf. Meinen Vater schickten sie am nächsten Tag in ein anderes Lager, von Birkenau nach Auschwitz, zur Arbeit. Und mich steckten sie in einen Platz, der „Kinderblock“ genannt wurde. Als ich verstand, was ringsherum vor sich ging und es begriff, ging ich in der Nacht hinaus, blickte zum Himmel auf, weinte und schrie: „Wo bist du? Wie kannst du es zulassen, dass so etwas passiert? Und wenn es stimmt, dass dieser Rauch ... dann verfluche ich dich!“
Ich stellte mich vollkommen gegen ihn: „Dann soll mich eben der Blitz treffen!“ Das war der Beginn meines Glaubensverlustes. Seit damals bis heute hat mich nichts vom Gegenteil überzeugen können.. Nichts.
Aber das hier (er umarmt Chaim) ... das haben wir gewonnen.
Chaim, erinnern Sie sich an die Fahrt in das Lager?
Chaim: Das war eine Tragödie. Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der die Qual dieser acht Tage im Viehwaggon in Worte fassen kann. Ich weiß nicht, ob es einen Regisseur gibt, dem es gelingen könnte, die Atmosphäre dieser sieben Tage und acht Nächte zu beschreiben. In die Viehwaggons wurden manchmal über achtzig Menschen gepfercht. Das war grauenhaft; das Leid, die Scham, die Demütigung, dass meine Schwester inmitten von fünfundsiebzig Menschen ihre Notdurft verrichten musste ... das ist unbeschreiblich.
Aber manchmal verwandelte ich die Tragödie in einen Witz: bei uns im Viehwaggon war ein Arzt, der sich schrecklich davor fürchtete, Läuse zu bekommen – wir waren dort ganze Tage, ohne uns zu waschen, ohne Wasser zu sehen, ohne irgendetwas. Und der Arzt saß dort und ich fragte ihn die ganze Zeit: „Herr Doktor, wieviele Tage kann man ohne Essen überleben, wielange kann ein Mensch aushalten?“ Er antwortete: „Man kann vierzig Tage aushalten.“ Jeden Morgen erinnerte ich ihn: „Herr Doktor, ... wieviele Tage?“ Und der Arzt antwortete: „Vierzig Tage.“ Am siebten Tag fragte ich ihn: „Herr Doktor?“ Der Doktor war tot ... „Doktor“, sagte ich, „sind sie gegangen? Warum so schnell? Sie haben gesagt, es sei möglich, vierzig Tage auszuhalten ...“
Ganze Tage ohne Essen.
Ich weiß nicht ...
Was geschah bei der Ankunft im Lager?
Chaim: Wir kamen in der Nacht in Auschwitz an. Sie empfingen uns mit Schlägen, mit Schreien, mit Hunden. Sofort wurden Männer und Frauen getrennt, mit Schlägen, auf eine sehr brutale Weise. Und meine Familie verschwand. Ich liebte Musik mehr als alles andere. Daher hatte ich mein Akkordeon mitgenommen; deswegen wurde ich geschlagen und sie nahmen mir das Akkordeon weg. Ich weinte, wie ich weinte, als man mir meine Schwestern nahm, weil ich dachte, ein Mensch, der keine Musik spielt, kann auf dieser Welt nicht glücklich sein.
Können Sie schildern, wie Sie einander im Lager getroffen haben?
Itzik: Ich war im Kinderblock in Birkenau, in einer Kinderbaracke. Ich hatte Glück, denn es gab einen Kapo – einen polnischen Juden, ein totaler Analphabet namens Tadek Dschaschitz, der mich leiden konnte. Er war verantwortlich für die „Desinfekzia“ (Das Arbeitskommando, das für die Desinfektion der Viehwaggons zuständig war, hieß Desinfektionskommando. Anm. d. Red.). Ich polierte die Stiefel meines Kapo wirklich gut; ich las ihm auch polnische Zettel vor und er schlug sich vor Lachen auf die Schenkel, wenn ich die polnischen Wörter falsch aussprach. Was für einen Narren er aus mir machte. Aber ich konnte Polnisch wirklich nicht lesen.
Die Aufgabe des Kommandos bestand darin, die Eisenbahnwaggons, die nach einer Reise von einer Woche oder zwei Tagen ankamen, in Empfang zu nehmen und die von den Leuten mitgebrachten Gegenstände aus den Waggons entfernen. Sie ließen keinen anderen etwas aus den Waggons nehmen, die voll waren mit verschiedenen Dingen, darunter Leichen von Menschen, die unterwegs gestorben waren. Dieses Kommando musste alles aus den Waggons entfernen, die Sachen dann einem anderen Kommando übergeben, das „Kanada“ hieß und sofort mit der Desinfektion beginnen: die Waggons wurden geputzt, ausgewaschen und desinfiziert, damit der Waggon die Rampe räumen und der nächste Waggon heranfahren konnte.6
Diese Aufgabe war für das Kommando von großem Vorteil, denn man konnte das 200 bis 300-Liter Fass, das die Desinfektionsflüssigkeit enthielt, aufmachen und alle Konservenbüchsen, die man im Waggon fand, hineinwerfen, hauptsächlich Sardinen und geschlossene Flaschen mit Wodka, oder ähnliche Sachen (schade, dass man keine Würste hineinwerfen konnte ...). Dann kehrte das Kommando mit den Waren ins Lager zurück und verkaufte sie. Das war eine Währung, wertvoller als Gold. Am Abend vor Jom Kippur führte „Herr“ Mengele eine Selektion durch – es gab dort zwei Kinderbaracken. Und ich falle durch diese Selektion durch, da ich nicht groß genug bin. Es gab dort eine Art Latte mit einem Nagel und alle mussten sich darunter aufstellen. Wer zu klein war, fiel durch. Und ich fiel durch.
Noch bevor er begreift, was rundherum geschieht, befand sich Suti (Jitzchak Livnat) zwischen hunderten anderen Jungen, die selektiert worden waren. Sie wurden in eine leere Baracke gebracht und dort eingesperrt. Die Räumung der Baracke, aus welchem Zweck auch immer, war eine Angelegenheit von wenigen Minuten: die Aufseher betraten einfach die Baracke und befahlen allen, hinauszugehen. Die Jugendlichen und Kinder verstanden sofort und instinktiv, dass es das Ende war. Es war klar, dass die nächste Station die Gaskammer war.7
Sie pferchten uns in irgendeinen Block, wir waren ungefähr 700 Kinder, das Gedränge war schrecklich. Wir klebten förmlich aneinander. Und ich wurde geschoben und bahnte meinen Weg durch die anderen Kinder, um an das Blockende zu gelangen, denn dort konnte ich sehen, wer hinein- und hinausging. Als der Abend hereinbrach und die Sonne unterging, begannen die Kinder „Kol Nidre“ zu beten. Zwei Kinder in meinem Alter, aus meiner Stadt, und ich erwähne ihre Namen – damit man sich ihrer erinnert – Leibovitz Sani (Sandor) und Chaim Teitelbaum, sagen zu mir: „Bete mit uns.“ Aber ich betete nicht mit. Und sie erzählen mir die Geschichte über den Ba´al Schem Tow, der sagte, der Himmel habe sich seinetwegen nicht geöffnet, ... aber ich betete nicht ... plötzlich ging die Barackentür auf und hereinkam einer aus der Mannschaft meines Kapo, der mich kannte. Ich sage zu ihm: „Janek, ich bin hier.“ Janek war ein polnischer Jude. Das ganze Kommando bestand aus Juden. Er konnte sich frei bewegen. Wir, die zur Vernichtung Bestimmten, waren eingesperrt. Er wollte seinen Freund besuchen, den Blockältesten, und sagte zu mir: „Ich habe dich gesehen.“ Dann trat er ein und verbrachte eine Stunde bei Speis und Trank in einem geschlossenen Raum, aber eigentlich reflektiert das nicht die Zeit: mir kam es vor, als seien sechzig Jahre vergangen. Er ging hinaus und ich sagte noch einmal zu ihm: „Janek.“ Und er machte eine Geste, die bedeuten sollte: ich habe dich gesehen. Und dann ging er.
Eine Stunde verging. Gerade als Suti (Jitzchak Livnat) begann, sich selbst davon zu überzeugen, dass es keine Hoffnung gab, kam Janek mit einer weiteren Person zurück. Der Gehilfe von Dschaschitz würdigte Suti keines Blickes. Er ging geradewegs in das Zimmer des Blockältesten, trat ein und schloss abermals die Tür hinter sich. Nach kurzer Zeit öffneten die Gäste die Tür und traten heraus. Janek ging auf Suti zu, deutete auf ihn und rief mit zorniger Stimme: „Du kommst mit mir, auf der Stelle!“ Im Raum wurde es schlagartig still und es schien, als hätten alle den Atem angehalten, als Suti aus der Baracke neben der Gaskammer gezerrt wurde. Die beiden Männer brachten Suti direkt in eine andere, leere Baracke, wo Dschaschitz inmitten einer Gruppe seiner Mannschaft stand ... Dschaschitz warf ihm einen strengen Blick zu, legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, um ihm Stillschweigen zu signalisieren, und deutete auf die oberste Pritsche in der hintersten Ecke der Baracke.8
Können Sie sich erinnern, was in Ihnen vorging, als sie aus dem Block der zum Tod verurteilten Kinder in den anderen Block gingen? Was haben Sie gedacht, was haben Sie gefühlt? Haben Sie unterwegs miteinander gesprochen?
tzik: Ich war wie von Sinnen. Ich zitterte wie Espenlaub. Ich konnte an überhaupt nichts denken.
Sutis Kräfte hielten ihn kaum aufrecht, während er sich in die ihm zugewiesene Ecke schleppte. Mit letzter Kraft zog er sich in die Pritsche hinauf, die Zuflucht versprach. Zu seiner Überraschung fand er dort einen griechischen Juden vor, der ihn beruhigte, seine Arme um ihn legte und ihn festhielt, bis er aufhörte zu zittern. Der Mann begann mit Suti zu sprechen, um ihn zu beruhigen. Zuerst stellte er sich vor – er hieß Chaim Rafael – und dann fing er an, ihm in einem sanften und tröstenden Tonfall Geschichten zu erzählen. Der Mann verstand instinktiv, dass der zitternde Junge eine schreckliche und traumatische Erfahrung gemacht hatte. Um Suti von diesem traumatischen Erlebnis abzulenken, sang ihm Chaim Rafael leise italienische Volkslieder vor und ermunterte ihn, in den Gesang einzustimmen. Erst nach über einer Stunde leisen Singens, hörte Suti zu zittern auf. Erst später erfuhr Suti, welchen Preis Dschaschitz für die Rettung aus der Todesbaracke bezahlt hatte: fünf Büchsen Sardinen und zwanzig amerikanische Dollar. Das war der Wert eines Menschenlebens in Auschwitz-Birkenau im Herbst 1944.9
Die Kommunikation mit Chaim ... Ich denke, er ist Jude, ich bin Jude, wir machten uns so miteinander bekannt, denn wir sagten„Schma Israel“ oder etwas Ähnliches. Er sah mich schlottern vor Angst. Und er tat damals, was er heute auch tut: er reagierte auf mich mit einem Lied, fast sofort begann er zu singen und er lehrte mich singen.
Am 18. Januar 1945 wurde Itzik Livnat dazu gezwungen, sich dem Todesmarsch aus Birkenau in das Konzentrationslager Mauthausen, Österreich, anzuschließen.
Itzik: Mein Vater und ich kamen in zwei getrennten Transporten nach Mauthausen. Wir wussten nichts von einander. Und am ersten Tag, als ich ankam, war er schon da. Die Häftlinge des Blocks mussten sich in Fünfergruppen aufstellen, um der SS ein rasches Durchzählen zu ermöglichen. Jemand rief von der anderen Seite: „Schick fünf herüber, damit es hier mit dem Zählen aufgeht.“ Und dann gehen fünf hinein, darunter ich, und ich erkenne meinen Vater. Und er erkennt mich und ich ... er sah mich, blieb stehen, erstarrte. Und dann kam die SS herein. So etwas kann nicht wahr sein und mein Vater streckt die Hand aus und sagt: „Mein Sohn, mein Sohn! Ich habe meinen Sohn gefunden!“ Und der SS-Mann sagte zu mir: „Los, geh´ und umarme ihn ...“ Und wir wurden das Wunder des Lagers.
Dann gingen wir gemeinsam auf den zweiten Todesmarsch in das letzte Lager, Gunskirchen in Österreich. Dieses Lager hatte erst am 12. März 1945 seine Tore geöffnet, an meinem fünfzehnte Geburtstag. Wir kamen zwei Wochen später an, wir waren beide schrecklich verlaust und typhuskrank. Eine amerikanische Division befreite das Lager. Als wir dort herauskamen, waren wir am Rande des Todes. Wir trafen meinen Cousin, den Sohn des Bruders meines Vaters. Wir sagten zu ihm: „Komm, gehen wir gemeinsam“, und er antwortete: „Geht nur voraus und ich komme nach.“ Zwei Wochen später war ich der einzige Überlebendes dieses Trios. Beide starben kurze Zeit nach der Befreiung.
Im Herbst 1944 wurde Chaim Rafael aus Birkenau in das Arbeitslager Märzbachtal in der Nähe von Breslau verlegt. Im Januar 1945 wurde er auf den Todesmarsch in die Lager Flossenbürg und Ohrdruf geschickt. Chaim unternahm einen Fluchtversuch, wurde jedoch gefangen, nach Buchenwald gebracht und von dort nach Theresienstadt, wo er schließlich befreit wurde. In Theresienstadt lernte Chaim Rafael Esther Vivante kennen, die aus Korfu stammte – sie ist heute seine Frau. Gemeinsam kehrten sie nach Saloniki zurück, wo sie heirateten. Im Juni 1946 fuhren sie auf dem illegalen Einwandererschiff „Chaviva Reik“ nach Erez Israel.
Der Krieg war zu Ende. Wie sollte es weitergehen?
Chaim: Ich kehrte nach Griechenland zurück. Die Lage war sehr schlecht. In Griechenland wurde man damals im Alter von 21 Jahren zum Militär eingezogen. Ich war 20 – 21 Jahre alt, ich wusste es nicht genau. Dann hörte ich jemanden sagen, es sei möglich, nach Palästina zu gehen. Ich gehörte zu den ersten, die sich eintrugen und ich sagte: „Ich gehe mit diesen Leuten. Nachdem ich gesehen habe, was uns geschehen ist, will ich nicht hier leben.“ Wir kamen unter unerträglichen Umständen nach Palästina – damals gab es keine Flugzeuge. Wir verbrachten lange Tage im Waggon, bis wir endlich ankamen. Ich kam ohne Familie nach Erez Israel, ohne Beruf, ohne Sprache, ich hatte gar nichts. Ich arbeitete in einer Textilfabrik, wo ich eine Lira und fünf Pfennige am Tag verdiente, das reichte für gar nichts. Ich saß da und schaute immer zu den Türen hin. Der Fabriksbesitzer, der uns Arbeit gab, fragte mich: „Was starrst du so?“ Ich antwortete: „Ich sehe nicht, wie ich von hier weg kann, denn von Ihnen kommt kein Segen.“ Da sagte er zu mir: „Du wirst sehen, wenn du älter wirst, du wirst lernen.“ Ich sagte: „Ich will jetzt. Wenn nicht jetzt ...“ Und auf der Stelle ging ich hinaus. Draußen war ich Gelegenheitsarbeiter und langsam, langsam, langsam, langsam ...
Das Geschäft wurde 1958 eröffnet ... Damals war ich schon in meinen Dreißigern ... Wir hatten viel Energie und vor allem mangelte es uns nicht an Ehrgeiz. Wir arbeiteten viele Stunden, von morgens bis abends ... langsam, langsam ging es mit dem Geschäft aufwärts und entwickelte sich. Ich erweiterte mein Sortiment mit Delikatessen und vor allem begann ich Geschäftsbeziehungen mit Restaurants.10
Itzik: Ich hatte nur eines im Sinn: nach Hause zurückkehren! Man brachte mich in ein Zimmer, wo die amerikanische Armee alle Kranken unterbrachte. Ich war dort einige Tage bewusstlos. Währenddessen starb mein Vater. Ich wachte auf, gerade als der Arzt zu jemandem, der neben ihm stand, sagte: „Dieses Kind sollte in die Schweiz in ein Sanatorium geschickt werden.“ Ich erinnerte mich an meine Geografiestunden und wusste, wo ich mich befand. Ich wusste, wo die Schweiz liegt und wo ich zu Hause war. Ich lief aus dem Spital fort, zurück, um zu fragen, was mit meinem Vater war. Da sagte man mir: „Siehst du die Grube? Da haben sie ihn hineingeworfen und mit Kalk bedeckt.“
Da ging ich nach Hause. Und ich kam nach Hause! Es kostete mich einige Tage herauszufinden, wo Norden war und wo ich war, wo ich mich eigentlich befand. Mein Onkel, der vor mir angekommen war, hörte sich die Geschichte an und sagte dann: „Von heute an bist du mein Sohn!“ Er adoptierte mich auf der Stelle, als ob er einen Befehl bekommen hätte. Er setzte mich auf seinen Wagen, befahl dem Pferd „Nach Hause“ und das Pferd kannte den Weg. Mein Onkel schlief auf dem Kutschbock ein. Ich sprang vom Wagen und verließ die Stadt ... das war ein Abschied. Ich machte mich auf in Richtung Palästina.
Ich begann meine Reise und kam nach Budapest. Von dort flüchtete ich mit einer Gruppe, über die Grenze - die Besatzungsgrenze zwischen dem russisch besetzten und dem britisch besetzten Gebiet. Später gelangte ich zufällig in ein Waisenhaus in der italienischen Stadt Selvino. In Selvino versuchte man, uns zu unterrichten und mit der Atmosphäre in Erez Israel bekanntzumachen. Das gefiel mir sehr gut, aber der Fortschritt in Richtung Palästina war gleich null. Daher lief ich auch von dort weg und ließ mich von den Einheiten anwerben, die bei der Einwanderung in Palästina halfen. Ich belud Schiffe und man versprach uns, dass wir mit einem der Schiffe mitfahren konnten, aber das Schiff fuhr ohne uns ab. Wir erklärten einen Streik. Dann kam ein weiteres Schiff, welches wir wieder beluden und welches wieder ohne uns ab. Diesmal war es uns zuviel. Nach einer Stunde erschien ein winziges Boot und es hieß: „Steigt ein.“ Wir liefen in einem schweren Sturm aus und es war offensichtlich, dass beide Schiffe dauernd in Kontakt waren, das große Schiff („Shabtai Luzinski“) und das kleine (Schoschana), wir brachen gemeinsam auf – so schien es zumindest.
In Palästina angekommen (Anm. d. Red.), hielten uns die Briten an, als wir schon mit jenen, die uns in Empfang genommen hatten, im Autobus waren. Da kamen alle Milchbauern und Kibbutzmitglieder aus der ganzen Umgebung: sie hatten den Befehl, ihre Papiere zu verbrennen, und alle nannten sich Abraham Ben Abraham aus Erez Israel. Das gefiel den Briten nicht. Sie versammelten uns alle und steckten uns auf ein Deporationsschiff nach Zypern. Wir kamen nach Zypern. Dort lernten wir, wie man so tat als wäre man aus Erez Israel. Als die Palestine Police in Zypern ankam, überprüften sie jeden einzelnen von uns und stellten verschiedene Fragen. Die letzte Frage bestand darin, dass der Polizist fünfzig Mil aus seiner Tasche nahm. Die fünfzig Mil nannte niemand fünfzig Mil, sondern Schilling. Er warf das Geld in die Luft, fing es auf und fragte: „Was habe ich in der Hand?“ Ich antwortete: „Schilling.“ Ich hatte bestanden.
Nach seiner Einwanderung nach Erez Israel wohne Itzik Livnat ein halbes Jahr im Kibbutz Merchawia. 1954 heiratete er Ilana Barkai, eine geborene Israelin.
Itzik: Ich baute mir eine neue Identität auf. Ich nahm den Namen Itzik an, aber mein Name war nicht Itzik. Mein Name sollte Jeschajahu sein. Aber Jeschajahu gefiel mir nicht. Die Ungarn hatten mich „dreckiger Itzik“ oder „Itzik Jude“ genannt. Daher wählte ich den Namen Itzik. Und vierzig Jahre lange habe ich geschwiegen. Ich kehrte nicht zu meiner Muttersprache zurück, denn diese war Teil meiner alten Identität, von der ich mich distanzieren wollte. Und Ilona beschloss, mich zu ihrem Mann zu nehmen.
Können Sie beschreiben, wie Sie und Chaim einander in Israel getroffen haben?
Itzik: Das war 1967, nach dem großen Sieg im Sechstagekrieg. Das Unternehmen, zu dessen Direktoren und Eigentümern ich gehörte (das Unternehmen besteht bis heute und heißt „Taavura“) erhielt den Auftrag, auf den Schlachtfeldern – von der Halbinsel Sinai bis zu den Golanhöhen – die beschädigten, feindlichen ägyptischen und syrischen Panzer in die Landesmitte zu bringen. Wir waren praktisch die einzige Firma, die das bewerkstelligen konnte, denn wir beschäftigen uns mit Spezial- und Schwertransporten. Unser Personal war hervorragend. Wir schickten die Leute an verschiedene Orte, Schlachtfelder, wo sie die Panzer aufluden und zurückbrachten. Die Fahrer fuhren am Sonntag los und kehrten nach einer Woche mit den geborgenen Panzern nach Israel zurück. Wir mussten den Fahrern Proviant für eine ganze Woche zur Verfügung stellen.
Es war an einem Freitag Mittag und wir mussten Lebensmittel auftreiben, denn die Fahrer fuhren nach dem Schabbat in Richtung Norden und Süden. Wir kamen in ein Delikatessengeschäft und drinnen trafen wir auf diesen Mann und er war überhaupt nicht freundlich. So ein hölzerner Mensch, der uns nicht glaubte... und Ilona sagte zu mir: „Komm, gehen wir.“ Und wir gingen.
Haben Sie ihn erkannt?
Itzik: Nein. Nein, ich erkannte ihn nicht. Zum Schluss sagte ich zu Ilona: „Komm, gehen wir zurück.“ Etwas begann schon ... wir kehrten zurück, füllten die Schachteln ... und er will nicht verkaufen: „... Was soll das? Wollt ihr mir das Geschäft ausleeren? ...“ Die Schachtel steht fertig auf den Ladentisch, ich hole mein Scheckheft heraus, er nimmt die Schachtel zurück und sagt: „Ich nehme keine Schecks.“ Freitag, Nachmittag, der Geldautomat war noch nicht erfunden ... ich sage zu Ilona: „Ilona, geh ins Akropolis“ - das ist das Restaurant neben unserem Büro, in dem wir immer essen - „bitte Moschiko, dir Bargeld zu geben.“
Chaim fragt: „Sie kennen Moschiko?“
Ich sage: „Ja.“
„Er kennt Sie?“
Ich antworte: „Das kann man annehmen.“
Er ruft ihn an und sagt: „Ich habe hier einen, der behauptet dich zu kennen.“ Und er gibt mir den Hörer.
Ich sage: „Moschiko, Schalom, ich bin in Süd-Tel Aviv und ich brauche Bargeld.“ Er fragt mich: „Sind Sie bei Chaim?“
Und ich sage: „Heißt er Chaim?“
„Ja.“
Dann sagt Moschiko: „Geben Sie ihn mir.“ Ich gebe ihm den Hörer, er sagt, was er sagt, und zum Schluss sagt Chaim zu mir: „Hier haben Sie die Schachtel, nehmen Sie, was Sie wollen, das ganze Geschäft gehört Ihnen!“ Ich versuchte noch einmal, ihm einen Scheck zu geben und er sagt: „Ich nehme keine Schecks.“ Ich sagte ihm, dass wir am Sonntag zurückkämen und er antwortete: „Machen Sie, was Sie wollen!“
Und dann frage ich ihn: „Waren Sie in Auschwitz?“
Er antwortet: „Aha, Sie sehen die Nummer.“
Ich sage zu ihm: „Erinnerst du dich, wie du ein Kind singen gelehrt hast?“
Er antwortet: „Ich singe die ganze Zeit, bis heute singe ich. Ich singe immer.“ (Er hatte einen ganzen Chor von Exgriechen, die sangen.)
Ich erkläre ihm, dass ich dieses Kind bin... Wir umarmten und küssten einander und der ganze Laden beschäftigte sich nur mit diesem Thema. Nur mit diesem Thema. Und seit damals teilen wir jedes unserer freudigen Ereignisse miteinander.
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Was möchten Sie zum Abschluss sagen?
Chaim: Wir waren eine große Familie ... alle gingen ins Krematorium ... und ich bin übrig geblieben. Und ich sagte mir immer: Ich will leben, damit ich erzählen kann. Auch in meinem Alter lasse ich alles liegen und stehen und lege Zeugnis ab. Das ist etwas Heiliges. Ich denke, dass wir Zeugnis ablegen und so viel wie möglich berichten müssen, damit so etwas um Gottes willen nicht noch einmal geschieht, denn – wie ich schon sagte – aus dem Judentum kann man nicht desertieren: mit Schmerz, ohne Schmerz, mit Flüchen, mit Schlägen, aber der Tatsache, dass man als Jude auf die Welt kam, kann man nicht entfliehen. Unter gar keinen Umständen. Ich wurde als Jude geboren und werde stolz als Jude sterben. Ich habe stur weitergemacht und eine Familie gegründet. Heute habe ich zwei Söhne und eine Tochter und wir halten die Namen aller, die ermordet wurden, am Leben...
Itzik: Ich weiß, dass es drei grundlegende Elemente gibt, mit denen ich umgehen muss: erstens meine Muttersprache – hier ändert sich nichts - zweitens meine Mutter - hier ändert sich nichts – und drittens mein Geburtsort. Die Verbindung zu meinem Geburtsort, von dem ich 40 Jahre lang mit aller Kraft versucht habe mich zu trennen. Wirklich, ich habe es mit aller Kraft versucht... und ich bin gescheitert. Heute gebe ich es zu. Und ich habe kein Problem damit, im Gegenteil. Ich bin ein hundertprozentiger Jude. Es gibt keinen besseren Juden als mich. Und dass es noch zehn oder fünfzehn Millionen gibt, die genauso gut sind wie ich, das kümmert mich nicht! Aber es gib keinen besseren als mich. Ich bin genauso gut wie er und er ist genauso gut wie ich.
Mit Hilfe seiner verstorbenen Frau Esther gründete Chaim Rafael ein Lebensmittelgeschäft am Levinsky Markt in Tel Aviv – ein Geschäft, das später ein beliebter Delikatessenladen wurde. Chaim Rafael hat seine Lebensgeschichte in seinem Erinnerungsbuch „Lebenslied“ festgehalten, von dem tausende Exemplare in Israel und im Ausland verteilt wurden. Chaim und Esther haben drei Kinder und zehn Enkel. Sein ältester Sohn Zaddik Rafael leitet das Familienunternehmen; seine Tochter Simcha ist Lehrerin im Ruhestand und sein jüngerer Sohn Schmuel ist Professor für Ladino-Studien an der Bar-Ilan Universität.
Nach seiner Einwanderung in Erez Israel verbrachte Itzik Livnat das erste halbe Jahr in einem Kibbuz, dann schloss er sich der Hagana an und nahm als Verbindungsmann am Unabhängigkeitskrieg teil. Nach der Gründung der israelischen Armee, diente Itzik als Verbindungsoffizier und bildete in seiner Funktion viele Offiziere aus. 1957 wurde er als Major aus dem Militärdienst entlassen und gründete und leitete gemeinsam mit seinem Bruder die Speditionsfirma „Taavura“. Itzik war auch Mitglied des Verwaltungsrates des „Museums des Kulturerbes der ungarischsprechenden Juden“ und bis heute unterstützt und fördert er die Entwicklung des Museums. Itzik und Ilona haben vier Kinder, zwölf Enkel und zwei Urenkel. Die vier Kinder waren Offiziere in der israelischen Armee und alle sind Akademiker. Teile seiner Geschichte beschreibt Itzik Livnat in seinem Buch „Die Geächteten – eine Liebesgeschichte“ und auf Bitten seiner Enkelkinder legt er vor Schulklassen seinen Zeugenbericht ab.