Zielgruppe: ab 14 Jahre
Einleitung
Die folgende Kurzgeschichtensammlung eignet sich zur Einführung des Themas Holocaust in der Mittel- und Oberstufe. Die Ermordung von ca. sechs Mio. Jüdinnen und Juden fand in einem komplexen historischen Kontext statt. Dennoch sind es die persönlichen Geschichten von Individuen, die tiefere Einblicke in diese Zeit ermöglichen. Die unterschiedlichen Kurzgeschichten beleuchten jeweils unterschiedliche Phasen des Holocausts, wie beispielsweise das Überleben im Ghetto, im Konzentrationslager oder das Weiterleben nach dem Krieg. Im Folgenden finden Sie ausgewählte Geschichten jüdischer wie nicht-jüdischer Überlebender. Jeder Geschichte wird eine Kurzbiographie der Autorin oder des Autors vorangestellt. Zu einigen der Kurzgeschichten finden Sie Unterrichtentwürfe.
Autor | Titel | Zeit / Ort | Niveau |
Fink | Der zehnte Mann | Kurz nach dem Ende des Krieges | Mittleres Nivau |
Fink | Das Schlüsselspiel | Vor der Ghettoisierung | Mittleres Nivau |
Borowski | Die steinerne Welt | Nach der Befreiung | Fortgeschritten |
Delbo | Der Kommandant | Im Lager | Mittleres Nivau |
Levi | Die Geschichte einer Münze | Im Ghetto Lodz | Mittleres bis fortgeschrittenes Niveau |
Biographie
Ida Fink wurde 1921 in Zbarazh (Polen) als Tochter eines Arztes und einer Lehrerin geboren. Sie begann ein Musikstudium in Lemberg (Lwow, in der heutigen Ukraine), musste es aber 1941 wegen des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion abbrechen. Bis 1942 überlebte sie im Zbarazh Ghetto, aus dem sie mit Hilfe gefälschter Papiere fliehen konnte. Kurz darauf wurde sie zusammen mit ihrer Schwester als polnische Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert. 1957 wanderte sie nach Israel aus, wo sie am 27. September 2011 starb. Ihre auf Polnisch verfassten Kurzgeschichten thematisieren die Dilemmata, mit denen Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert waren, aber auch die Schwierigkeiten, denen die Überlebenden nach dem Krieg gegenüberstanden. Ihre Kurzgeschichte Der zehnte Mann thematisiert den Umgang der Holocaustüberlebenden mit ihren Traumata, nachdem sie aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern in ihre Heimatstadt zurückkehrten. Die Geschichte wurde ins Deutsche übersetzt und in dem Sammelband Eine Spanne Zeit veröffentlicht.
Der zehnte Mann1
Im Mittelpunkt der Kurzgeschichte stehen Holocaustüberlebende, die in ihre Heimatstadt zurückkehren und den Schwierigkeiten des Weiterlebens nach dem Ende des Krieges gegenüberstehen. Die Kurzgeschichte beginnt mit der Rückkehr von Überlebenden in ihre Heimatstadt. Der Text beschreibt die ersten Begegnungen der lokalen Stadtbevölkerung mit ihren früheren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn, von denen einige aufgrund ihrer physischen Veränderungen sehr schwer wiederzuerkennen sind.
Der Hauptteil der Geschichte beschäftigt sich mit den jeweiligen Überlebenden, die nacheinander in die Stadt kommen und die Auswirkungen, die jede neue Ankunft auf die lokale Bevölkerung hat. Ida Fink stellt die Stadtbevölkerung als verständnisvoll und mitfühlend dar, die sich bemüht, den Wiederkehrenden durch verschiedene Gesten zu helfen.
Die ehemaligen Täter werden flüchtig als die Besetzer, die die Synagoge niederbrannten und die Jüdinnen und Juden deportierten, genannt.
Ida Fink führt den Lesenden nicht weiter in die Gräuel des Holocaust ein. Eine der wenigen Textpassagen, die die Lagerrealität indirekt zum Ausdruck bringen, ist die Beschreibung des wiederkehrenden Tischlers, der einst „hochgewachsen und breitschultrig gewesen, jetzt [...] klein und ausgetrocknet”
Die vorherrschende Hoffnungslosigkeit wird in den letzten drei Absätzen der Geschichte hervorgehoben, in denen der Grund für dieses endlose Warten auf den zehnten Mann genannt wird: Dieser war „nach dem Gebot nötig [...], um auf den Trümmern der Synagoge das Gebet für die Ermordeten sprechen zu können.”
In der Zwischenzeit ist der Alltag in die Stadt zurückgekehrt. Die Zurückgekehrten warten vergeblich auf den zehnten Mann.
Nur einer geht geduldig jeden Tag zum Bahnhof in der Hoffnung, seine Frau würde aus dem Zug steigen. Die Geschichte endet mit dem folgenden Satz: „Niemand beachtete ihn mehr.”
In der literarischen Auseinandersetzung von Ida Fink wird der Wunsch der nicht-jüdischen Bevölkerung thematisiert, die Geschichten der Überlebenden zu verdrängen und sich nicht mit ihnen auseinandersetzen zu wollen. Mit geschickter Untertreibung weist Ida Fink auf eines der dringendsten Bedürfnisse von Menschen hin, die den Holocaust erleiden mussten – dass ihre scheinbar unglaublichen Berichte bestätigt und nicht abgewiesen wurden. „Niemand beachtete ihn mehr” lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass den Überlebenden nach dem Ende des Krieges nicht der Trost gespendet wurde, den sie so verzweifelt benötigt hätten.
Der zehnte Mann ist die Geschichte einer Stadt und ihrer Überlebenden am Ende des Krieges. Sie kann auch als ein Spiegelbild für die Tausenden jüdischen Gemeinden dienen, die im Holocaust zerstört wurden, und damit als Spiegel der Zerstörung von 800 Jahren jüdischen Lebens in Polen.
- Eine Unterrichtseinheit zu der Kurzgeschichte kann hier eingesehen werden.
Das Schlüsselspiel5
Im Gegensatz zu Der zehnte Mann spielt diese Geschichte am Anfang des Zweiten Weltkrieges und vor der Etablierung der Ghettos. Ida Fink führt die Leserinnen und Leser in die Welt eines jüdischen Ehepaares und deren drei Jahre alten Kindes ein. Die mit dem Krieg verbundenen Ängste werden durch die häufigen Wohnungswechsel, die der Familie durch die deutsche Besatzung Polens auferzwungen wurden, augenscheinlich.
Das Herzstück der Geschichte ist ein „Spiel”, welches sich die Eltern ausgedacht haben, um ihr Kind zu lehren, wie es reagieren soll, falls „sie” – die Deutschen, die als solche dem Kind gegenüber nie erwähnt werden – an der Tür klopfen. Die Geschichte ist kurz und auf das Wesentliche reduziert: Den Leserinnen und Lesern wird vermittelt, wie der Krieg die Struktur der Familie auf den Kopf stellt. Normalerweise kümmern sich Eltern um ihre Kinder. In dieser Geschichte wird jedoch ein kleiner Junge mit dem Überleben seiner Eltern betraut. Das „Schlüsselspiel” beinhaltet die Aufgabe, die Tür auf das Klopfen der Gestapo hin nicht sofort zu öffnen und dem Vater dadurch zu ermöglichen, sich in ein Versteck im Badezimmer zu begeben. Die existenzielle Schwierigkeit, der das Kind ausgesetzt ist, wird im letzten Absatz der Geschichte vermittelt. Dort wird beschrieben, wie der Junge den Leuten, denen er die Tür öffnet, sagen muss, dass sein Vater tot sei.
Diese Geschichte lässt die brutale Realität erahnen, in der Kinder oft gezwungen waren, die Rolle der Eltern zu übernehmen und die Familie in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen.
- Eine Unterrichtseinheit zu der Kurzgeschichte kann hier eingesehen werden.
- Ida Fink: Der zehnte Mann. In: Fink, Ida: Eine Spanne Zeit, Erzählungen, Zürich 1983, S. 114-117.(Alle Rechte bei Liepman AG, Zürich).
- Ibid., S. 114.
- Ibid., S. 117.
- Ibid.
- Ida Fink: Das Schlüsselspiel. In: Fink, Ida: Eine Spanne Zeit, München 1992, S. 25-27. (Alle Rechte bei Liepman AG, Zürich).
Biographie
Tadeusz Borowski wurde 1922 in der Sowjetunion (heute Ukraine) geboren. Seine Eltern waren nicht-jüdische Polen, die beide in verschiedenen sowjetischen Arbeitslagern inhaftiert waren. Borowski wuchs bei einem Verwandten auf, bis seine Eltern befreit wurden. Die Familie zog in den 1930ern nach Polen. Borowski veröffentlichte im Alter von 20 Jahren seine erste Lyrik über die Realität des Warschauer Untergrunds. Die brutale Realität des Krieges fand bereits in seinem frühen Werk Ausdruck.
1943 wurde er von den Deutschen verhaftet. Er durchlebte zwei Jahre in deutschen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz und Dachau. Die Kurzgeschichte, die hier behandelt wird, wurde einer Sammlung entnommen, die seine Erfahrungen im Konzentrationslager beschreibt. Sie wurde 1948 unter dem Titel Bitte, die Herrschaften zum Gas veröffentlicht. Tadeusz Borowski beging 1951 im Alter von 28 Jahren Selbstmord.
Die steinerne Welt6
Die Kurzgeschichte spielt ebenso wie Ida Finks Der zehnte Mann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Fokus des Kampfes des Protagonisten, der sich bereits mit seiner Ehefrau in einer Wohnung niedergelassen hat, liegt nicht auf dem unmittelbaren Schock nach der Befreiung. Vielmehr wird die Schwierigkeit thematisiert, nach dem Holocaust wieder in ein geordnetes und konstruktives Lebenskonzept zurückzufinden. Die Geschichte wechselt zwischen Beschreibungen des alltäglichen Lebens und starken verheerenden Visionen, von denen einige auf die Erfahrungen des Protagonisten in einem Konzentrationslager hinweisen. Diese Erfahrungen reflektieren eine typische Spannung in Zeitzeugenaussagen zwischen der Banalität der alltäglichen Routine nach dem Krieg und der Realität eines täglichen Lebens an der Schwelle zum Tod in einem deutschen NS-Lager. Borowskis Stil zeichnet sich durch eine emotionale Aufladung aus, die fesselnd ist und sich gleichzeitig von den langsamen Entwicklungen in Ida Finks Geschichten abhebt. Die verheerenden Auswirkungen, die Auschwitz bewirkte, werden nur durch Andeutungen in einigen Passagen vermittelt. Borowski beendet die Geschichte mit seiner Erklärung, dass seine Arbeit noch immer vor ihm liege – das Schreiben eines „epische[n] Werk[es] [...], das der unvergänglichen, schweren, wie in Steinen gehauenen Welt würdig wäre.”
Dieses epische Werk wurde nie geschrieben. Borowski beging einige Jahre nach der Veröffentlichung der Geschichten Selbstmord.
Der Künstler Samuel Bak, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, setzte Borowskis Beschreibungen einer „in Steinen gehauenen Welt“ künstlerisch um. Viele seiner Kunstwerke stellen versteinerte Objekte wie Vögel dar. Baks Kunstwerke können in der Verbindung mit Borowskis Kurzgeschichte pädagogisch genutzt werden. Sie wurden von Yad Vashem auf der CD Rom mit dem Namen Eclipse of Humanity zugänglich gemacht.
Im Unterricht können folgende Fragen bearbeitet werden:
- Welche Veränderung nimmt die Hauptperson an sich selbst wahr?
- Welche Schwierigkeiten beschreibt die Hauptperson im Umgang mit der alltäglichen Routine nach den Erfahrungen des Holocaust?
- Die Kurzgeschichte kann hier gelesen werden
- Tadeusz Borowski: Die steinernde Welt, Erzählungen, Übersetzung von Vera Cerny, R. Piper & Co Verlag, München 1963, S. 204 - 208.
- Ibid., S. 208.
Biographie
Charlotte Delbo wurde in Frankreich geboren. Sie war 27 Jahre alt, als Frankreich im Jahre 1940 von der deutschen Armee besetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Charlotte Delbo auf einer Tour mit einer Theatergesellschaft in Südamerika. Delbo kehrte nach Frankreich zurück, um bei ihrem Ehemann zu sein, der im französischen Widerstand aktiv war. Im Jahr 1942 wurde das Paar von der französischen Polizei verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. Delbos Mann wurde von den Deutschen hingerichtet. Anfang 1943 wurde Charlotte Delbo nach Auschwitz deportiert und verbrachte den Rest des Krieges als Häftling in deutschen Konzentrationslagern. Ihr bekanntestes Buch ist Trilogie. Auschwitz und danach, welches 1985, im Jahr ihres Todes, veröffentlicht wurde. Die folgende Kurzgeschichte ist diesem Buch entnommen.
Der Kommandant8
Die Kurzgeschichte beginnt mit der Geschichte von zwei Brüdern im Alter von elf und sieben. Die beiden spielen ein Spiel, das sich nach und nach als deren Vorstellung von der Tätigkeit ihres Vaters herausstellt. Er ist der Kommandant eines Konzentrationslagers. Im letzten Absatz stellt Delbo das Familienleben in einem Backsteinhaus mit Rasen, Blumen und einer Hecke dar. Von diesem führt ein Pfad zum Krematorium eines Lagers, dessen Kommandant der Vater der beiden Brüder ist.
Die Figur der Kinder dient in dieser Kurzgeschichte als Spiegel, um die Welt der Lager aus der Perspektive der Täter zu reflektieren. Im Spiel der Kinder werden Situationen simuliert, bei denen es für die Lagerhäftlinge um Leben und Tod geht. Das führt zu folgenden Fragen:
Welchen Kenntnisstand über die Lagerrealität offenbaren die Kinder des Kommandanten durch ihr Spiel?
Diese Geschichte könnte eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Problemen einleiten, denen die Zweite Generation von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war. Hier finden Sie eine kleine Auswahl von Filmen, die sich mit dem Thema der Täterkinder beschäftigen:
- http://www.2oder3dinge.de/
- http://www.sueddeutsche.de/medien/meine-familie-die-nazis-und-ich-in-der-ard-wenn-das-happy-end-ausbleiben-muss-1.1380741
- http://www.wasbleibt-film.de/de/film.html
- Die Kurzgeschichte kann hier gelesen werden
- Copyright © 1990 Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main/Basel, aus: Charlotte Delbo: Trilogie. Auschwitz und danach, S.141-145 (Der Kommandant), Aus dem Französischen von Eva Groepler und Elisabeth Thielicke. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Biographie
Der jüdische Dichter und Schriftsteller Primo Levi wurde 1919 in Turin, Italien, geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er als Chemiker tätig. 1943 wurde er verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er u. a. aufgrund seiner Ausbildung als Chemiker überlebte. Nach dem Krieg kehrte er nach Italien zurück und begann viele Werke über seine Erfahrungen als Verfolgter der Nazis zu schreiben. In seinem bekanntesten Prosawerk Ist das ein Mensch? beschreibt Levi seine Erlebnisse in Auschwitz, die ihn ein Leben lang plagten. 1987 kam er unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben.
Die Geschichte einer Münze10
In Die Geschichte einer Münze greift der Autor die historische Figur Chaim Rumkowski auf, dessen Titel als „Der Älteste der Juden in Litzmannstadt“ auf einer Seite der Münze aus dem Ghetto erscheint. Rumkowski war der Vorsitzende des Judenrates im Ghetto Lodz. Primo Levi beendet das Kapitel „Die Grauzone“ seines Buches Die Untergegangenen und die Geretteten mit diesem Abschnitt über eine der umstrittensten Persönlichkeiten während des Holocaust.
Als Primo Levi diese Münze aus dem Ghetto Lodz nach dem Krieg in seiner Wohnung in Turin wiederfindet, erinnert sich der Autor an seine eigenen Erfahrungen. Die Kurzgeschichte spielt vor dem historischen Hintergrund des Ghettos Lodz (Litzmannstadt) zwischen 1940 bis 1944. Die Persönlichkeit Rumkowskis und sein facettenreiches Verhalten stehen im Fokus der Geschichte. Im Unterschied zu vorherrschenden kritischen Einschätzung zur historischen Rolle Rumkowskis nähert sich ihm Levi mit einer eigenen philosophischen Haltung. Am Ende seiner Ausführungen fragt er, ob wir uns nicht alle in „Rumkowski spiegeln”
Im Unterricht können folgende Thematiken bearbeitet werden:
- Die Geschichte des Ghetto Lodz
- Die Situation der Ghettobevölkerung
- Die umstrittene Persönlichkeit des Vorsitzenden des Judenrates Chaim Rumkowski
- Dilemmata der Judenräte
- Die Kurzgeschichte kann hier gelesen werden.
- Primo Levi: Die Untergegangenen und die Gerechten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, S. 60-69, (Übersetzung von Moshe Kahn).
- Ibid., S. 69.
- Ibid.