Einführung:
Einführung:Diese Unterrichtseinheit befasst sich mit den Themen Kriegsende und Befreiung und ist für Schüler_Innen ab der 4. Jahrgangsstufe geeignet.
Die Unterrichtseinheit lädt dazu ein, sich mit dem Erleben des Kriegsendes aus der jüdischen Perspektive auseinanderzusetzen. Sie bietet dabei auch einen Einstieg in die Frage, weshalb das Ende des Krieges von vielen ehemals Verfolgten nur sehr bedingt als Befreiung erlebt werden konnte und, daran anschließend, ob und wie ein Weiterleben nach dem Holocaust für die Überlebenden überhaupt möglich war.
Auf zweiter Ebene wird den Lernenden ein behutsamer Einstieg in den Komplex der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ermöglicht. Unterdrückung, Verfolgung und Terror bestimmten über Jahre hinweg den Alltag der jüdischen Bevölkerung Europas, und so wurde schließlich auch das Erleben der Befreiung für die wenigen Überlebenden maßgeblich von diesen Erfahrungen geprägt.
Das Kernstück der Einheit bildet ein Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Zvi Aviram (1927-2020). Die Tatsache, dass der Protagonist die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt hat und bis ins hohe Alter dazu in der Lage war, von seinen Erinnerungen zu berichten, schafft einen emotional sicheren Raum, in dem sich die Lernenden dem Thema ohne Angst vor Überforderung öffnen können. Durch den indirekten Einstieg in das Thema über das Erleben der Befreiung haben die Lehrkräfte außerdem die Möglichkeit, bereits vorhandenes Wissen, Präkonzepte oder auch problematische, historisch fehlerhafte Vorstellungen über die NS-Zeit sowie eventuelle emotionale Befangenheiten nachzuvollziehen und frühzeitig einzufangen.
Die gezeigten Interviewsequenzen beinhalten verschiedene Begriffe, die den Schüler_Innen bei einer Erstbegegnung mit dem Thema nicht bekannt sein dürften und deshalb u.U. eine entsprechende Erklärung erfordern. Den Lehrkräften wird ein Glossar bereitgestellt, das Definitionen und Erläuterungen einzelner Begriffe in kindgerechter Sprache und Länge beinhaltet, und mit dem sich die Schüler_Innen je nach Bedarf nach dem gemeinsamen Ansehen der jeweiligen Interviewsequenz unbekannte oder unklare Begriffe erschließen können. Es ist dabei jedoch wichtig zu beachten, dass im Zentrum der Unterrichtseinheit eine behutsame Erstbegegnung mit dem Thema Shoah steht. Es soll nicht darum gehen, umfangreiches historisches Wissen zu vermitteln und einen vorgezogenen Geschichtsunterricht durchzuführen. Die Lehrkräfte sollten in der Lage sein, eventuell aufkommende Fragen im Nachgang solide zu beantworten, nicht jedoch den Anspruch haben, die historischen Zusammenhänge und Begriffe in ihrer Komplexität erschöpfend darzustellen und zu besprechen.
Zielsetzungen dieser Unterrichtseinheit:
- Jungen Lernenden im Alter zwischen 8 und 10 Jahren soll ein behutsamer Erstkontakt mit dem Thema Schoah ermöglicht werden.
- Schüler_Innen wird die Gelegenheit gegeben, sich in einem geschützten Rahmen mit eigenen Präkonzepten auseinanderzusetzen (siehe dazu auch den Text TITEL).
- Vermittlung erster Einblicke in den historischen Kontext von Verfolgung und Befreiung.
- Förderung der Fähigkeit, sich biografische Details und Kontextinformationen selbstständig und in der Gruppe zu erschließen und zu präsentieren.
- Lernende werden dazu eingeladen, sich mit den Erfahrungen und Lebenswelten anderer Menschen auseinander und in Verbindung zu setzen und sich selbst durch das bewusste Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden historisch und emotional zu verorten.
- Hinführung zu einer empathischen und sensiblen Wahrnehmung der Opfer innerhalb ihrer Geschichte.
Zeitlicher Rahmen und Aufbau:
Das Interview mit Zvi Aviram wurde für die Unterrichtseinheit in drei einzelne Module unterteilt. Für jede Einheit sollten etwa 45 Minuten eingeplant werden.
Der Aufbau der Module entspricht dem grundlegenden didaktischen Prinzip Yad Vashems, nach dem die Darstellung der Geschichte der jüdischen Verfolgten in dreifacher Periodisierung erfolgt: Die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten wird eingebettet in ein „davor“ und ein „danach“, wodurch es den Lernenden ermöglicht wird, die Betroffenen nicht nur als Opfer, sondern als Individuen wahrzunehmen, die außerhalb ihrer Verfolgungserfahrungen und innerhalb ihres jeweiligen Lebensumfelds ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben anstrebten. Zvi Aviram erzählt im Rahmen dieses Interviews seine Geschichte selbst, wodurch ein weiterer didaktischer Grundsatz Yad Vashems angewendet wird: Statt in der dritten Person über die Opfer zu sprechen, erzählen diese ihre Geschichte aus der eigenen Perspektive.
Entsprechend dieser dreifachen Periodisierung behandelt die Unterrichtseinheit die einzelnen Lebensabschnitte Zvi Avirams in abgeschlossenen und aufeinander aufbauenden Einheiten.
Erster Teil: Das Aufwachsen Zvi Avirams als Kind einer jüdischen Arbeiterfamilie im Berlin der 1920er und 1930er Jahre.
Zweiter Teil: Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Der Schwerpunkt wird dabei auf die letzten Kriegswochen und das Erleben der Befreiung gelegt.
Dritter Teil: Die Nachkriegszeit. Dabei wird auch über die Schwierigkeiten gesprochen, nach den traumatischen Erfahrungen der Verfolgung ein „neues“ Leben zu beginnen.
Den Kern jedes Moduls bildet eine kurze Interviewsequenz, die didaktisch jeweils in eine thematische Hinführung und ein abschließendes Reflexions- und Diskussionsangebot eingebettet ist.
Modul 1: Eine jüdische Kindheit in Berlin
Modul 1: Eine jüdische Kindheit in Berlin- Im Zentrum des ersten Moduls steht die Kindheit Zvi Avirams. Als Einstieg in die Einheit werden den Schüler_Innen mehrere Fotografien vorgelegt, die typische Alltagssituationen und -ereignisse jüdischer Kinder im Berlin der 1930er Jahre abbilden, wobei hier noch kein direkter biografischer Bezug zu Zvi Aviram besteht (Materialbox 1). Die Bilder, die sowohl den schulischen Kontext als auch verschiedene Alltags- und Freizeitaktivitäten darstellen, eröffnen den Lernenden direkte Anknüpfungspunkte an ihre eigene Lebenswelt und ermöglichen einen persönlichen und unmittelbaren Einstieg in das Thema.
- Die Schüler_Innen werden dazu eingeladen, sich ein Foto auszusuchen, das ihnen gut gefällt. Nun haben sie die Möglichkeit zu erläutern, weshalb sie das jeweilige Bild ausgewählt haben, was sie auf dem Bild erkennen können, was ihnen daran auffällt oder was sie damit assoziativ verbinden, bzw. welche Verbindungen sie darin zu ihrem eigenen Leben sehen.
- Im Anschluss daran schauen sich die Schüler_Innen gemeinsam Teil 1 des Interviews an.
- Danach bekommen die Lernenden die Aufgabe, sich gemeinsam mit der Lehrkraft die Biografie Zvi Avirams zu erschließen. Sie sollen sammeln, was ihnen aus der Interviewsequenz im Gedächtnis geblieben ist. Anhand zusätzlicher biografischer Informationen (siehe Infokasten 1 ), können die Lehrkräfte die Erläuterungen ihrer Schüler_Innen ergänzen und so dazu beitragen, ein möglichst umfassendes Bild entstehen zu lassen. Die Informationen beschränken sich dabei zunächst auf die Situation der 1930er Jahre, in denen die vormals selbstbestimmte Arbeiterfamilie auf der einen Seite bereits schwerwiegende Einschnitte in ihren Alltag erfahren musste und auf der anderen Seite die physische Verfolgung in Form von Erzählungen und Gerüchten zunehmend als konkrete Bedrohung Eingang in ihr Leben fand.
- Anschließend an die Auseinandersetzung mit den biografischen Details sollen die Schüler_Innen zum Abschluss der Einheit die Erinnerungen von Zvi Aviram kontextualisieren und mit ihrer eigenen Lebenswelt abgleichen. Anhand eines Schaubildes (Zvi Avirams Kindheit ↔ meine Kindheit, siehe Beispiel Schaubild 1 ) sollen die Schüler_Innen individuell oder in Kleingruppen die Erzählungen Zvi Avirams und ihre eigenen Kindheitserfahrungen nebeneinanderstellen und dadurch in Verbindung zueinander setzen.
- Anschließend bekommen die Lernenden die Möglichkeit, sich ihre Schaubilder gegenseitig vorzustellen und über die Inhalte zu reflektieren. Dabei nehmen sie auch den historischen Kontext in den Blick, indem sie sich an folgenden Fragen orientieren:
– Was hat sich seit damals geändert?
– Was ist gleich geblieben?
– Was fällt auf?
Sowohl durch die Auseinandersetzung mit den Bildern zu Beginn der Einheit als auch im Kontext der Erzählungen Zvi Avirams und der Erschließung der biografischen Details können leicht Bezüge zur Gegenwart und zur eigenen Lebenswelt der Schüler_Innen hergestellt werden. Dadurch kann Interesse geweckt und die Basis für eine empathische Annäherung an das Thema geschaffen werden. Neben dem Sichtbarmachen von Anknüpfungspunkten und Gemeinsamkeiten dient das erste Modul also auch dazu, die Unterschiede zur Lebenswelt der Lernenden deutlich zu machen, und ihnen dadurch eine klare – zeitliche und emotionale – Abgrenzung von der Verfolgungsgeschichte zu ermöglichen, die im folgenden Modul thematisiert werden soll. Den Schüler_Innen soll so auch dabei geholfen werden, das Gelernte zu verarbeiten und sich in ihrer eignen Realität zu verorten.
Modul 2: Verfolgung und Befreiung
Modul 2: Verfolgung und BefreiungNachdem in Modul 1 die Kindheit Zvi Avirams behandelt und dabei auf erste Erfahrungen von Ausgrenzung und Unterdrückung durch die Nationalsozialisten eingegangen wurde, soll der Blick in Modul 2 auf die Kriegserfahrungen Zvi Avirams gerichtet werden. Der Fokus liegt dabei auf der Phase der letzten Kriegswochen und dem Erleben des Kriegsendes.
- Als Einstieg in das Modul sollen die Lernenden Revue passieren lassen, was ihnen aus der letzten Unterrichtseinheit im Gedächtnis geblieben ist. Was wissen sie noch über Zvi Aviram? Was hat sie evtl. auch nach der Unterrichtsstunde noch beschäftigt, worüber haben sie nachgedacht/gesprochen?
- Anschließend werden die Schüler_Innen anhand zusätzlicher biographischer Informationen auf die zweite Interview-Sequenz vorbereitet. Die Ermordung der Eltern in Auschwitz und damit der Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen kommen zwar zur Sprache, werden aber nicht im Detail ausgeführt und stehen nicht im Zentrum der Erzählung. Um keine Lücke in den biografischen Details zu Zvi Aviram entstehen zu lassen, sollte die Lehrkraft den Schüler_Innen jedoch in kindgerechter Sprache ausführlich über dessen eigenes Erleben der Shoah berichten. Dabei sollte die Deportation der Eltern, die Einsamkeit und die Angst als Untergetauchter in Berlin, der alltägliche Kampf um das eigene Überleben und schließlich die Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe Chug Chaluzi zur Sprache kommen. Ausführliche Informationen zur Fortsetzung der Lebensgeschichte Zvi Avirams stehen im Infokasten 2 zur Verfügung.
- Im Anschluss daran schauen die Schüler_Innen gemeinsam Teil 2 des Interviews an. Sie bekommen den Arbeitsauftrag, währenddessen auf Zvi als Erzähler zu achten: Was fällt ihnen an seiner Mimik, seiner Körperhaltung und dem Raum, in dem er sich befindet, auf? Danach sollen sie die Gelegenheit bekommen, über ihre Eindrücke und Gefühle zu reflektieren und miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Lehrkraft legt dazu verschiedene Symbolkärtchen aus, die auf Gegenstände und Situationen aus den Beschreibungen Zvi Avirams Bezug nehmen (Materialbox 2 ). Die Lernenden werden dazu eingeladen, eines der Symbolkärtchen auszuwählen und zu beschreiben, was darauf abgebildet ist. Schließlich bearbeiten sie in Kleingruppen ein Poster, auf dem das Symbolkärtchen einer spezifischen Szene aus dem Interview zugeordnet wird. Folgende Arbeitsschritte leiten die Schüler_Innen während der Gruppenarbeit an:
– An welche Szene aus dem Interview denkst du bei dem Betrachten des Symbolkärtchens?
- Was passiert in der Szene?
- Legt nun das Symbolkärtchen auf ein Poster und ordnet eure Gedanken, Fragen und Ideen um das Kärtchen herum an (als Beispiel siehe Schaubild 2 ).
Anschließend stellen die Kleingruppen ihre Arbeit vor. Dabei sollte auf ein der Filmchronologie entsprechendes Vorgehen geachtet werden, sodass die gesamte Interviewsequenz dadurch im Detail besprochen wird.
Zum Abschluss des Moduls wird in einem gemeinsamen Klassengespräch eine Annäherung an das Genre der Zeitzeugenerzählung vorgenommen. Folgende Leitfragen greifen den Arbeitsauftrag zu Beginn des Moduls auf und strukturieren das Gespräch:
– Was denkt ihr, wie sich Zvi beim Erzählen gefühlt hat?
– Was ist euch allgemein an Zvi aufgefallen? Wie wirkt er beim Sprechen?
– Welche Gefühle hattet ihr selbst beim Zuhören?
Modul 3: Nachkriegszeit
Modul 3: NachkriegszeitIm Fokus des dritten und letzten Moduls der Unterrichtseinheit steht schließlich die Nachkriegszeit. In der Interview-Sequenz aus Modul 2 hat Zvi Aviram in seinen Schilderungen der letzten Kriegstage bereits auf das Stadtbild hingewiesen, das aufgrund der massiven Bombenangriffe der Alliierten von Zerstörung geprägt war.
- In einem geführten Unterrichtsgespräch lädt die Lehrkraft nun die Schüler_Innen dazu ein, über das ihnen bekannte Stadtbild zu reflektieren. Als Einstieg kann den Lernenden ein Stadtplan vorgelegt werden, in dem sie sich auf die Suche nach Bekanntem begeben können. Bilder von dem ehemaligen Wohnhaus Zvi Avirams und den Stolpersteinen, die für seine Eltern Margarete und Arthur Abrahamsohn dort verlegt wurden, stellen außerdem den Bezug zu seiner Geschichte her. Folgende Fragen können in dem Gespräch zur Orientierung helfen:
– Was fällt euch an den Häusern und Straßen in eurer Umgebung auf?
– Gibt es Gebäude, an denen Zerstörungen zu erkennen sind?
– Kennt ihr Orte in der Stadt, an denen noch Spuren des Krieges zu sehen sind?
– Kennt ihr Stolpersteine? Wisst ihr, wo sich welche befinden?
Tipp: Als Ergänzung können die Schüler_Innen anschließend im Internet selbst Stolpersteine in ihrer Straße, ihrem Viertel oder ihrer Stadt suchen. Es wäre dabei auch möglich, einzelne Stolpersteine zusammen aufzusuchen und sie z.B. gemeinsam sauber zu machen.Berliner Schulklassen können im Rahmen eines gemeinsamen Ausflugs auch das ehemalige Wohnhaus Zvi Avirams in der Zehdenicker Straße 2 besuchen und dort die Stolpersteine für seine Eltern finden. (Materialbox 3 )
- Im Anschluss an das Gespräch schauen sich die Schüler_Innen Teil 3 des Interviews gemeinsam an. In einem Auswertungsgespräch fassen sie zusammen, was für Zvi Aviram der Begriff „Freiheit“ bedeutet. Im Anschluss werden die Schüler_Innen dazu eingeladen, diese Frage für sich selbst zu beantworten. Sie bekommen die Aufgabe, ein/e persönliche/s Bild/Video/Fotocollage zu gestalten, in dem sie sich damit auseinandersetzen, was Freiheit für sie selbst bedeutet. Nachdem die Schüler_Innen ihre Bilder fertiggestellt haben, können diese an einer Wand im Klassenzimmer angebracht werden und die Lernenden bekommen die Möglichkeit, ihre Bilder einander zu erläutern. Durch diesen Abschluss können die Schüler_Innen am Ende der Einheit noch einmal die Gefühle und Fragen bündeln, die im Verlauf der drei Module entstanden sind, und werden ganz bewusst in die Gegenwart zurückgeholt.