Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler ab 16 Jahren
Zeitdauer: 75 Minuten
- Analyse der Geschichte
- Der Unterrichtsablauf
- Ausschnitte aus Zeitzeugenaussagen
Einführung
Der Holcocaust, seine Folgen Holocaust und sein Einfluss auf die Geschichte beschäftigen die Menschen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Kunst und Literatur bieten Zugang zum Innenleben des Menschen. Es ist gerade das Persönliche und Einzigartige in Kunst und Literatur, das zum Verständnis universaler Themen führen kann. In der Unterrichtseinheit „Wie kann man das den Kindern erklären…“ – eine jüdische Familie in der Zeit des Holocaust wird die Konstellation einer jüdischen Familie zur Zeit des Holocaust untersucht, die Ida Fink in ihrer Erzählung Das Schlüsselspiel beschreibt.
Hier finden sie die Geschichte Das Schlüsselspiel, die uns mit freundlicher Genehmigung der Liepman AG, Zürich zur Verfügung gestellt wurde.
In der Geschichte Das Schlüsselspiel geht es um den Alltag einer Familie, die aus einem Vater, einer Mutter und einem kleinen Sohn besteht. Das Schlüsselspiel, das der Geschichte ihren Titel gibt, spielt die Familie jeden Abend in ihrer Wohnung. Es ist, wie man beim Lesen der Geschichte nach und nach begreift, eigentlich eine Übung, die dem Vater ermöglicht, sich schnell zu verstecken, falls jemand kommt und ihn sucht. Die Aufgabe des Kindes ist es, die draußen Stehenden aufzuhalten, indem es besonders lange braucht, um mit dem Schlüssel die Tür zu öffnen.
In der Erzählung wird deutlich, dass die Familie in einer Realität lebt, in der die Regeln des menschlichen Daseins auf den Kopf gestellt sind. Zu Beginn der Geschichte handelt es sich scheinbar um eine triviale Situation aus dem Leben einer Familie nach dem Abendessen. Die Beschreibung mutet naiv an. Den Zweck des Spieles mit dem Schlüssel begreifen die Leserinnen und Leser erst in der zweiten Hälfte der Erzählung. Anspielungen auf die schwierige Situation der Familie finden sich jedoch von Beginn an: Die Beschreibung der Küche im ersten Abschnitt: „fast ganz gelb, und die Wände zeigten dicht an dicht Wasserflecken“
Das Herzstück der Geschichte ist dieses Spiel. An ihm beteiligen sich der Vater und das Kind, während die Mutter das Geschehen von außen beobachtet. Anders als bei normalen Kinderspielen (und denen Erwachsener) findet hier keine Flucht in eine fiktive und gefahrlose Welt statt. Das Spiel ist in der Welt seiner Protagonisten eine Abbildung der Wirklichkeit: Erfolg oder Misserfolg bei der Erfüllung der Aufgabe entscheiden über das Schicksal.
Wie eine Geschichte innerhalb der Geschichte zeigt das Spiel der Familie die Ereignisse auf, die sie in der Zukunft erleben werden. Das Kind hat dabei die aktivste Aufgabe: Es muss Lärm machen, rennen, klettern, Sachen bringen und sprechen, während der Vater sich versteckt. In einer normalen Welt würde man dieses Kind für seine Taten bestrafen, hier aber wird es für sein Lügen gelobt. Es muss vom Tod sprechen, obwohl ein Kind seines Alters diesen noch nicht begreifen kann – es muss seinen Vater mit Worten „töten“, um ihn zu retten. Die traditionelle Rollenverteilung von Eltern und Kind wird, ebenso wie das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander, umgekehrt, das Funktionieren der Familie wird dadurch erschüttert.
Durch den sprachlichen Stil der Erzählung wird zusätzlich zu einer privaten Angelegenheit, wie eine bestimmte Familie sie erlebte, ein allgemeiner Kontext hergestellt. Die Geschichte wird in der dritten Person erzählt (von einem neutralen Erzähler), die Beschreibungen sind sparsam (im Stil eines Berichtes). Es gibt keine Einleitung. Ohne weitere Erklärung werden die Leserinnen und Leser in jene Küche versetzt und lernen die Figuren an einem Abend in ihrem Leben kennen. Ort und Zeit sind nicht festgelegt, das Haus wird nicht konkret verortet, der Zeitpunkt ist unbestimmt während des Krieges (es wird auch nicht gesagt, um welchen Krieg es sich handelt), und die Figuren haben keine Namen, sondern Zuschreibungen: „der Mann“, „die Frau“ und „das Kind“. So erscheint die Geschichte als eine Allegorie einer Situation. Mit Hilfe von hinleitenden Fragen soll die Auflösung einer jüdischen Familie zur Zeit des Holocaust diskutiert werden.
- Was bedeutet ein Leben auf der Flucht?
- Wie entwickeln sich die Aufgaben der Menschen innerhalb der Familie?
- Was geschieht mit den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander?
- Welche Gefühle können durch die dauerhafte Notwendigkeit, sich zu verstecken, hervorgerufen werden?
- Nach der Trennung der Familienmitglieder voneinander: Welche Bedeutungen hat das Wort „Zuhause“?
- Gelten diese Bedeutungen auch in der Realität, die in der Geschichte beschrieben wird?
- Ida Fink: Das Schlüsselspiel. In: Eine Spanne Zeit, München 1992, S. 25 (Alle Rechte bei Liepman AG, Zürich).
Einleitung
- Die Schülerinnen und Schüler sollen über die verschiedenen Bedeutungen der Worte „Spiel“, „Schlüssel“ und der Verbindung zwischen den beiden Worten diskutieren, indem sie ihre Assoziationen zu den Worten besprechen.
- Die Assoziationen der Schülerinnen und Schüler sollen an die Tafel geschrieben werden, z. B. folgendermaßen:
- Spiel: Spaß, Unterhaltung, Vorstellung eines Zustandes, Fantasie, eine Rolle spielen, die Realität hinter sich lassen, Versteck, Entfernung, verschwimmende Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie, Flucht.
- Schlüssel: Zugangswerkzeug, Kontrolle, Besitz, Sicherheit, Verteidigung, Chiffre (Code), Schlüsselstellung, Schlüsselfigur, Schlüsselwort u.v.m.
- Gemeinsam lesen die Schülerinnen und Schüler dann etwa 10 Minuten lang die Geschichte, danach folgt eine kurze Pause, während der die Schülerinnen und Schüler sich allein mit der Geschichte beschäftigen sollen.
Hinleitende Fragen für die Diskussion:
- Worum geht es in der Geschichte?
Eine jüdische Familie versucht, sich während des Holocaust zu verstecken.
- Welche Hinweise zum historischen Kontext finden sich in der Erzählung?
- Es ist die dritte Wohnung, in der die Familie wohnt
- Das Wort „Krieg“
- Das arische Aussehen des Kindes
- Die eilige Flucht
- Das Versteck
- Die regelmäßige Wiederholung des „Schlüsselspiels“ jeden Abend
- Was steht im Mittelpunkt der Handlung?
Der Versuch, den Vater durch die allabendliche Übung „Schlüsselspiel“ zu retten.
- Weshalb wird die Versteckübung als Spiel durchgeführt?
Spiele sind ein wichtiges Element im Leben eines jeden Kindes. Ein Kind ist die meiste Zeit des Tages mit Spielen beschäftigt.
Die Eltern schaffen eine fiktive Situation und können auf diese Weise das Kind von der Last der Verantwortung befreien. Das Spiel dient dem Zweck, dem Kind seine schwierige Aufgabe etwas zu erleichtern: Es fungiert als Trennmauer zwischen der sicheren Welt des Kindes und den draußen lauernden Gefahren.
- Welche Spielteilnehmerinnen und Spielteilnehmer gibt es, und welche Aufgaben haben diese?
- Der Vater – er soll sich verstecken.
- Das Kind – es soll diejenigen, die seinen Vater suchen, aufhalten.
- Die Mutter – sie hat im Spiel selbst keine Aufgabe, sondern dient als Regisseurin oder Initiatorin des Spiels. Sie gibt das Startzeichen (Klingeln an der Tür) und weist auf die drohende Gefahr hin.
- Wer spielt die Hauptrolle in diesem Spiel?
Das Kind. Das Schicksal der ganzen Familie hängt davon ab, ob es seine Aufgabe erfolgreich bewältigen kann: Kann es die Zeit einhalten (damit der Vater sich verstecken kann), genug Lärm machen, ein natürliches Verhalten zeigen, die richtigen Worte finden u.v.m.
- Entspricht das in der Erzählung von Ida Fink geschilderte Spiel den Assoziationen, die die Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Stunde an die Tafel geschrieben haben?
- Welche Aufgaben haben nach Meinung der Schülerinnen und Schüler Eltern im Allgemeinen? Erfüllen die Eltern in der Geschichte diese Aufgaben?
Den Eltern kommt eine wichtige Aufgabe in der Identitätsfindung und bezüglich des Schicksals ihrer Kinder zu: Die Konsolidierung des kindlichen Selbstbildes, die Verwirklichung eigener Bestrebungen und der Aufbau eines Wertesystems, das die Kinder durch das Leben geleitet. Ein solches Verhältnis setzt gegenseitige Abhängigkeit und Nähe voraus. Kinder benötigen ihre erwachsenen Eltern, damit diese ihre elementaren Bedürfnisse befriedigen– Nahrung, Geborgenheit und bedingungslose Liebe. Das Gedeihen der Kinder sowie die Stabilität ihrer Welt hängen in großem Maße vom Vermögen der Eltern ab, diese Aufgabe zu erfüllen.
In der Erzählung wird deutlich, dass die Eltern ihr Kind lieben und sich um sein Wohlergehen sorgen, doch neben ihrem Bestreben, das Familienleben zu bewahren, existiert eine große Gefahr. Dabei kommt dem Kind eine wichtige Aufgabe zu: Es muss seine Familie verteidigen. Ihr Überleben hängt von seinem Erfolg ab.
- Die Schülerinnen und Schüler sollen die Figuren beschreiben: Haben sie physische und charakterliche Merkmale wie Namen, Aussehen und Charakter?
Die Figuren haben keine Gesichter, keine Namen und keine persönlichen Merkmale. Ihre Eigenschaften ergeben sich aus der Situation.
- Weshalb haben sie keine Namen? Wie wirkt sich das auf die Leserinnen und Leser aus?
Distanz und Fremdheit entstehen, da die Figuren ebenso wie der Ort austauschbar und nicht zu erkennen sind. Man kann annehmen, dass die Geschichte einerseits die Realität einer jüdischen Familie zur Zeit des Holocaust beschreibt – verfolgt, auf der Flucht und in ihrer Identität gebrochen – während sie gleichzeitig für viele andere Beispiele steht und die Entmenschlichung des nationalsozialistischen Regimes und die Folgen für die lokalen Bevölkerungsgruppen deutlich macht.
Die Stunde sollte mit dem Satz beendet werden, der auch am Ende der Geschichte steht: „‘Ist tot‘, antwortete das Kind und stürzte auf den Vater zu, der dicht neben ihm stand und komisch mit den Augen blinzelte, aber schon lange für alle diejenigen tot war, die wirklich klingeln würden.“
Für Lehrerinnen und Lehrer:
Im Folgenden finden Sie eine Zeitzeugenaussage und einen Brief von Überlebenden der Shoah, mit denen Sie mit den Schülerinnen und Schülern zusätzlich zum Schlüsselspiel arbeiten können. In diesen Aussagen geht es ebenfalls um Familie, Versteck und Flucht, sowie die Zerstörung der Familien und Kinderschicksale in der Shoah.
- Ida Fink: Das Schlüsselspiel. In: Eine Spanne Zeit, München 1992, S. 27 (Alle Rechte bei Liepman AG, Zürich).
Das folgende Zitat stammt aus einem der Zeitzeugenfilme, die in Yad Vashem entstanden sind.
Malka Rosental wurde 1934 in Stanislawow, in Polen geboren. Nach der Besetzung Polens durch die Deutschen, wurde Malka von einer polnischen Familie eineinhalb Jahre lang in einem Fass unterhalb der Erde versteckt. In diesem Film können Sie einen Ausschnitt aus dem Zeitzeugenfilm mit Malka Rosental sehen.
„[…] Vater kletterte mir dorthin nach. Danach wurde klar, dass auch Mutter kam, und sie deckten sich mit Strohballen zu, so lagen wir dort stundenlang. Der Deutsche suchte, und nicht nur er, sondern auch der Goi. Man hörte Schreie, und es dauerte sehr lang. Es war beinahe schon Abend, da sagte der Deutsche, dass er alles Stroh anzünden werde, wenn diese Juden nicht endlich herauskämen. Als Vater das hörte, hielt er Mutters Füße fest (später stellte sich heraus, dass er nur einen Fuß von ihr gehalten hatte), doch sie trat kräftig nach ihm und ging hinaus. Dabei warf sie noch mehr Strohballen auf uns. Fast wären wir erstickt. Sie kletterte nach unten. Sie nahm alles, was dort war, irgendeinen Koffer mit Kleidern, alles, was dort war. Sie nahm es, stieg hinunter, wandte sich an den Deutschen und sagte zu ihm: ‚Haben Sie nach mir gesucht?’ Und er sagte: ‚Wo sind Sie gewesen?’ Und sie antwortete: ‚Ich war hier oben, ich habe in den Strohballen gelegen.’ Er fragte: ‚Wo sind Ihr Mann und Ihre Tochter?’ Und da sagte sie: ‚Wieso denken Sie, habe ich wohl den ganzen Tag dort gelegen? Ich habe dort gelegen, damit sie fliehen können. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie sie geflohen sind.’ Sie öffnete eine Tür und sagte: ‚Hier, sehen Sie, hier steht eine Leiter, mit dieser Leiter sind sie aus dem Loch hinabgestiegen. Und das war wirklich am Waldrand, und sie sind in den Wald gegangen, und dort bleiben sie lange genug, so dass mein Mann es geschafft hat, tief in den Wald hineinzugehen, und meine Tochter werden Sie nie im Leben finden. Meine Tochter wird am Leben bleiben, im Leben werden Sie sie nicht finden.’ Sie schrie sehr, sehr laut.
Vater wusste nicht, was er machen sollte. Er legte seine Hand auf mein Gesicht, über meinen Mund. Doch es gelang ihm nicht, auch meine Augen zuzuhalten. Dafür reichte der Platz nicht, es war dort sehr eng. Er konnte irgendwie seine eine Hand bewegen, er hatte Angst, dass ich schreien würde. Aber meine Augen konnte er doch bedecken. Dann erschoss der Deutsche meine Mutter.“3
Sarah und Jechiel Gerlitz aus Bandin (Polen) brachten ihre sechsjährige Tochter Dita bei einem polnischen Freund in Sicherheit. Da sie fürchteten, sie nie wieder zu sehen, hinterließen sie ihr einen Brief, den sie lesen sollte, wenn sie größer war. Das Ehepaar überlebte und wanderte zusammen mit der Tochter Dita nach Israel ein.
„Meine über alles geliebte und teure Tochter,
als ich dich auf die Welt brachte, meine Geliebte, hätte ich niemals gedacht, dass ich dir sechseinhalb Jahre später einen solchen Brief schreiben muss. Das letzte Mal habe ich dich an deinem sechsten Geburtstag gesehen, das war am 13. Dezember 1943. Ich gab mich der Illusion hin, dass ich dich noch einmal sehen würde, bevor wir gehen, aber jetzt weiß ich, dass das nicht geschehen wird. Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Am Montag fahren wir, und es ist schon Freitagabend […] Dich werde ich immer bei mir haben, ich werde immer daran denken, wie es bei uns zuhause war, deine süße, kindlich plappernde Stimme, der Geruch deines reinen Körpers, deine Atemzüge, dein Lächeln und dein Weinen; mit mir nehme ich auch die schreckliche Angst, die das Herz deiner Mutter nicht für eine einzige Sekunde vergessen konnte… behalte deine ehrenwerten Großeltern in guter Erinnerung, ebenso die Onkel und Tanten und die ganze Familie. Bewahre die Erinnerung an uns alle in dir, und bitte verurteile uns nicht. Und verzeih mir, deiner Mutter, verzeih mir, meine über alles teure Tochter, ich wollte dich zur Welt bringen, in deiner Gemeinde, damit du dein Leben leben solltest, aber dann kam alles ganz anders, und es ist nicht unsere Schuld. Deswegen flehe ich dich an, meine geliebte Tochter, meine einzige, gib uns nicht die Schuld. Bemühe dich, gut zu sein, gut wie dein Vater und seine Vorväter, liebe diejenigen, die an die Stelle deiner Eltern und deiner Familie treten, sie werden dir sicherlich von uns erzählen. Ich möchte, dass du verstehst, wie viele Opfer sie für dich bringen, mache sie stolz, damit sie keinen Grund haben, die Last zu bereuen, die sie freiwillig auf sich nahmen. Eine weitere Sache gibt es, die du wissen sollst, dass nämlich deine Mutter ein aufrechter Mensch war, trotz aller Demütigungen, die wir von unseren Feinden erfahren mussten, und wenn es ihr Los ist zu sterben, so wird sie aufrecht sterben, ohne zu weinen, nein, ein Lächeln wird auf ihren Lippen sein, das ihre Verachtung für ihre Henker zeigt. Ich drücke dich an mein Herz, ich küsse dich liebevoll und segne dich mit aller Kraft des Herzens und der Liebe einer Mutter – deiner Mutter.“4
- Aussage von Malka Rosental, Yad Vashem Archiv, Akte Nr. 8988.
- Z. Bacharach (Hrsg.), Dies sind ihre letzten Worte – Letzte Briefe aus dem Holocaust [Hebr.], Yad Vashem, Israel 2002, S. 253-254.