Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler ab 14 Jahren.
Dauer: 1 - 2 Stunden
Didaktische Zielsetzungen
- Untersuchen von Primärquellen wie Berichte und Fotos zum Thema Befreiung und Überleben.
- Nachdenken über die Bedeutung des Begriffs „Befreiung“
- Einblicke gewinnen in die Versuche der Überlebenden, sich ein neues Leben aufzubauen.
Einführung
Als der Zweite Weltkrieg im Mai 1945 endete, feierten in ganz Europa die Menschen auf den Straßen das Kriegsende. Das erste Konzentrationslager - Majdanek - wurde im Juli 1944 befreit, die anderen Lager um das Frühjahr 1945. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, die Befreiung sei nach all dem Leiden ein Augenblick größter Freude gewesen. Die immensen Schwierigkeiten und der Leidensweg der jüdischen Überlebenden zeigten jedoch eine ganz andere Realität.
Die Befreiung der Überlebenden der Shoah ist kein glückliches Ende einer Tragödie: Sie ist eigentlich der letzte Akt dieser Tragödie. Nach Jahren des Schreckens, des körperlichen und geistigen Missbrauchs, der ständigen Angst, standen die Überlebenden plötzlich der Tatsache gegenüber, dass die Welt, in der sie einst mit ihren Familien, Freunden und Gemeinden gelebt hatten, unwiederbringlich verloren war.
Was war die Befreiung?
Während des Zweiten Weltkrieges wurden Jüdinnen und Juden, die in Deutschland oder in den von Nazideutschland besetzten Ländern lebten, in Arbeitslager, Konzentrationslager oder Vernichtungslager deportiert. In den Jahren 1944 und 1945 wurden die wenigen Überlebenden von sowjetischen, britischen und amerikanischen Soldaten aus diesen Lagern befreit.
Das erste befreite Konzentrationslager war Majdanek. Die Häftlinge von Majdanek wurden im Juli 1944 von sowjetischen Truppen befreit. Bald darauf entdeckten die Sowjets weitere nationalsozialistische Konzentrationslager und befreiten die Häftlinge. Britische und amerikanische Soldaten erreichten die Lager im Frühjahr 1945 und befreiten zehntausende Gefangene.
Diese Gefangene hatten unter den extremsten und schwierigsten Bedingungen leben müssen. Viele waren dem Hungertod nahe, andere waren schwer krank. Viele der Befreiten hatten Todesmärsche überstanden, auf denen sie gezwungen worden waren, weite Distanzen zu Fuß zurückzulegen. Die Todesmärsche gegen Kriegsende, beim Herannahen der alliierten Truppen an die deutsche Wehrmacht, waren der Versuch der Nazis, die Gefangenen der Konzentrationslager zu evakuieren und in Gebiete innerhalb der deutschen Grenzen zu treiben. Als die sowjetischen Soldaten in Auschwitz-Birkenau eintrafen, fanden sie nur 7.650 Gefangene vor. Der Großteil der 58.000 noch am Leben gebliebenen Lagerhäftlinge war Ende 1944 gezwungen worden, Todesmärsche anzutreten. Auf diesen waren die Gefangenen brutalen Misshandlungen ausgesetzt, viele wurden von der Begleitmannschaft ermordet. Auf den Todesmärschen kamen ungefähr 250.000 Gefangene aus den Konzentrationslagern ums Leben.
Anders als die Überlebenden aus den Lagern, hatten einige der Befreiten während des Krieges in Verstecken überlebt oder sich mit Hilfe falscher Papiere als Nichtjuden ausgegeben. Andere waren überlebende Ghettokämpferinnen und -kämpfer, Partisaninnen und Partisanen oder Flüchtlinge, die sich in Wäldern verborgen gehalten hatten.
Oberst Lewis Weinstein, ein Mitglied der Armee der Vereinigten Staaten, befreite Jüdinnen und Juden aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er erinnert sich:
„... Wir hatten alle möglichen Gerüchte und Geschichten gehört, aber sie waren so grauenhaft, so unbeschreiblich; wir konnten sie einfach nicht glauben. Ich hatte große Schuldgefühle, als ich dann herausfand, was sich in diesen Lagern tatsächlich zugetragen hatte. Ich hatte von einigen tausend Ermordeten gesprochen, aber sich sechs Millionen vorzustellen ... ermordet - ich war total aus der Fassung.“
Der Militärseelsorger Eward P. Doyle, der im Zweiten Weltkrieg in der amerikanischen Armee diente, nahm an der Befreiung von Nordhausen teil. Er erinnert sich:
„Ich war dort. Ich war anwesend. Ich habe alles gesehen. Ich werde es nie vergessen. Vielleicht haben Sie die Geschichte schon oft gehört. In der Nacht des 11. April 1945 nahm meine Division, deren katholischer Geistlicher ich war, die Stadt Nordhausen ein. Am folgenden Morgen entdeckten wir in der Dämmerung ein Konzentrationslager. Sofort wurden alle Sanitäter, die entbehrt werden konnten, aufgerufen, anwesend zu sein. [...] An diesem Morgen in Nordhausen verstand ich, warum ich dort war. Ich fand den Grund dafür - die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen. Was war mit dem schönen, göttlichen Gebot der Nächstenliebe geschehen?“
Eva Goldberg wurde in die Lager von Auschwitz-Birkenau und Horneburg deportiert. Sie wurde in Salzwedel von amerikanischen Soldaten befreit. Sie erinnert sich:
„Woran ich mich am besten erinnere, sind die amerikanischen Konvois, die auf beiden Straßenseiten standen und uns ansahen. Sie glaubten nicht, was sie sahen!“
Diskussion in der Klasse
- Wie beschreiben Oberst Weinstein und der Militärgeistliche Doyle ihre Erfahrungen bei der Befreiung?
- Warum ist es wichtig, Berichte von Befreiern und Befreiten zu lesen?
- Was fügt Evas Aussage deinem Verständnis der Berichte Oberst Weinsteins und des Militärseelsorgers Doyle hinzu?
Was bedeutete die Befreiung für die jüdischen Überlebenden?
Die Befreiung hätte für die Überlebenden ein glücklicher Tag sein sollen. Endlich keine ständige Todesangst mehr, der sie so viele Jahre lang ausgesetzt waren. Für die jüdischen Überlebenden jedoch war die Befreiung zu spät gekommen. Ganze Gemeinden, vor allem in Osteuropa, waren ausgelöscht und deren Mitglieder ermordet worden. Über neunzig Prozent der jüdischen Gemeinden Polens, der größten Europas, waren zerstört. In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und auf dem Balkan war das Ergebnis fast dasselbe. In vielen Fällen waren ganze Familien ermordet worden, nur einzelne Mitglieder waren noch übrig. Eine Bestandsaufnahme der Organisation der jüdischen Flüchtlinge in Italien ermittelte zum Beispiel, dass 76% der jüdischen Flüchtlinge ihre gesamte unmittelbare Familie und alle Verwandten verloren hatten. Sie waren die einzigen Überlebenden ihrer Familien.
Bei ihrer Befreiung wurde den jüdischen Überlebenden plötzlich die Unermesslichkeit ihrer Verluste bewusst. Bis zu ihrer Befreiung hatten sie alle ihre Bemühungen auf den Überlebenskampf konzentriert: sie suchten nach Essen, sie versuchten sich zu schützen, sie lebten von einer Minute zur anderen. Dieser Überlebenskampf ließ keinen Raum für Gedanken an die verlorene Welt: ihre Familie, Freundinnen und Freunde, ihre Berufe und Gewohnheiten, ihre Stadtviertel und Besitztümer. Plötzlich waren sie mit einer neuen Realität konfrontiert. Ihre Familien existierten nicht mehr und ihr Leben war für immer verändert. Während der Rest der Welt die Toten zählte, zählten die Jüdinnen und Juden die Lebenden.
Yitzhak (Antek) Zuckermann, ein Mitglied des jüdischen Untergrunds, der unter anderem auch im Warschauer Ghettoaufstand kämpfte, berichtet:
„Dieser Tag, der 17. Januar, war der traurigste meines Lebens. Ich war den Tränen nahe, aber nicht aus Freude, sondern aus Kummer. [...] Wie konnten wir glücklich sein? Ich war ein gebrochener Mann! In all den schrecklichen und bitteren Jahren hatten wir uns nicht unterkriegen lassen, und jetzt ... übermannte uns die Schwäche. Jetzt durften wir plötzlich schwach sein [...] Jeder Krieg ist einmal zu Ende. Wir hatten die ganze Zeit mit einem gewissen Sendungsbewusstsein gelebt. Aber jetzt? Es war vorbei! Wofür? Wofür? [...] Ich hatte nie geweint; sie hatten mich nie verzweifelt gesehen, kein einziges Mal; ich musste stark sein, aber am 17. Januar .... es ist nicht leicht, der letzte Mohikaner zu sein.“
Josef Govrin wurde 1930 in Rumänien geboren. Er wurde in verschiedene Ghettos und Lager in Transnistrien deportiert. Josef wurde im Dezember 1944 von sowjetischen Soldaten befreit. Er erinnert sich:
„Die Zerstörung durch den Krieg und die Tatsache, dass ich ein Waise war, kamen mir am Tag des Sieges brutal zu Bewusstsein. Ich denke, ich sah die Verheerungen des Krieges viel realistischer als vorher. Die Zerstörungen hatten mich immer umgeben, Tag und Nacht, aber erst am Tag des Sieges nahm ich sie auf den Straßen, durch die ich ging, wahr. ... Damals, als Junge, erfasste ich den ganzen Umfang der Zerstörung. ... Und tatsächlich hat sich der Siegestag meinem Gedächtnis bis heute nicht als Freudentag eingeprägt!“.
Eva Braun wurde 1927 in der Slowakei geboren. Im Zweiten Weltkrieg war sie Gefangene in Auschwitz-Birkenau. Sie wurde von amerikanischen Soldaten befreit. Eva erinnert sich:
„Man betete in all diesen Monaten um die Befreiung und dann wird es einem schlagartig bewusst - jetzt bist du frei. Nachdem ich begriffen hatte, dass ich frei war - ich spreche für mich - erkannte ich, dass ich die ganze Zeit gehofft hatte, ich würde meinen Vater wiedersehen und vielleicht, eine Hoffnung jenseits aller Hoffnungen, meine Mutter, obwohl ich wusste, dass es keine realistische Hoffnung war. Aber meinen Vater, ich war sicher, ich würde ihn treffen. Ich war hundertprozentig davon überzeugt. Aber es gab Zweifel, und ich erkannte, dass ich über die Tatsache nachdenken musste, was wäre, wenn nicht ... Freiheit ist relativ. Sehr sogar. Der Gedanke an die Zukunft lastete sehr schwer auf mir. Offenbar wussten wir, dass es nicht mehr unser Problem war, aber wir müssen immer noch selbst für unsere Zukunft sorgen, und wie würden wir diese Zukunft aufbauen?“
Miriam Steiner berichtet:
„[...] Die große Krise hatte uns noch nicht getroffen. Sie begann, als mein Cousin ein paar Tage später nach Hause kam. Ich erkannte ihn kaum, denn dieser Junge, dieser große Lümmel, hatte zwei riesige Ohren, eine große Nase und Höhlen statt der Augen. Langsam erholte er sich von seinem ‚Muselmann’-Stadium. Da brach ich in Tränen aus. Ich fiel ihm um den Hals und weinte wegen seines Aussehens, denn da wachte ich plötzlich auf. Das war der Beginn meiner Krise, unser aller Krise ... Er umarmte mich und sagte nur das eine: ‚Du musst eines wissen, warte nicht auf deinen Vater und deinen Bruder.’ Er wiederholte das immer wieder [...] Jetzt verstanden wir langsam den enormen Verlust, wir begriffen, dass Großvater und Großmutter nicht zurückgekommen waren, auch kaum jemand unserer Verwandten, nur dieser eine Cousin, und später kam auch noch sein Vater. Die Leute sagten, wir sollten nicht auf sie warten, aber in Wahrheit warteten wir die ganze Zeit auf meinen Vater. Und ich möchte nur sagen, dass ich oft um mich blicke, als suchte ich noch immer ... nicht meinen Vater, es ist mein Bruder, nach dem ich die ganze Zeit Ausschau halte. Ich weiß, es ist komplett unrealistisch, denn formell suche ich nicht, Ich ... Ich lasse meine Augen wandern, so suche ich ihn ...“
Diskussion in der Klasse
- Warum betrachten Yitzhak Zuckermann, Josef Govrin, Eva Braun und Miriam Steiner den Tag ihrer Befreiung nicht als Freudentag?
- Viele Häftlinge überlebten die Lager nur, weil sie sich auf die unmittelbaren täglichen Bedürfnisse konzentrierten. Ihre Gedanken kreisten fast nur darum. Wie beeinflusste diese Situation das Erleben der Befreiung?
- Zu den größten Schwierigkeiten, mit denen die befreiten Überlebenden konfrontiert waren, gehörte die intensive Einsamkeit. Die Holocaustforscherin und Tochter einer Überlebenden, Prof. Hanna Yablonka, beschreibt die Gefühle ihrer Mutter, als diese einige Jahre nach der Shoah die Krankenpflegeschule abschloss. Hanna erzählt, ihre Mutter sei begeistert gewesen, dass sie ihren Abschluss gemacht hatte, und dennoch quälte sie ein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit - sie hatte niemanden, mit dem sie ihre Neuigkeiten teilen konnte.
Was ist der Unterschied zwischen der Einsamkeit, die wir alle manchmal erfahren, und der Einsamkeit der Überlebenden der Shoah nach der Befreiung?
Nach der Befreiung
Die Soldaten der Alliierten kümmerten sich um die Überlebenden, die sie befreit hatten. Sie versorgten sie mit Essen und der medizinischen Betreuung, die sie so dringend brauchten.
Ephraim Poremba wurde in Polen geboren. Er wurde in mehrere Konzentrationslager deportiert und im Alter von zwanzig Jahren von amerikanischen Soldaten befreit. Er erinnert sich:
„Die Amerikaner organisierten die Errichtung eines Spitals, sie begannen mit Untersuchungen und stellten Zelte mit Wasser und Duschen auf. Wir wuschen uns, sie gaben uns Seife. Wann hatte ich mich das letzte Mal gewaschen? Ich konnte mich nicht daran erinnern ... Vor allem heißes Wasser; wer hatte je heißes Wasser erlebt? Es war ein Traum. Heißes Wasser so viel man wollte, sich mit Seife waschen, mit Seife! Man konnte sogar seinen Kopf waschen, den ganzen Körper, es war wie im Himmel, ein Himmel auf Erden!“
Gegen Ende des Jahres 1945 wollten die Jüdinnen und Juden, die überlebt hatten, „nach Hause”. Viele entdeckten, dass sie kein zu Hause und keine Familie mehr hatten. Für andere wurde die Reise nach Hause im chaotischen Nachkriegseuropa ein gefährliches Unterfangen. Wem es gelang, die alte Heimat zu erreichen, der sah sich mit einer neuen Realität konfrontiert: vor allem in Osteuropa war die lokale Bevölkerung antisemitisch eingestellt und ließ die Jüdinnen und Juden spüren, dass ihre Heimkehr unerwünscht war.
Schoschana Stark berichtet:
„Ich ging nach Hause. Ich konnte ja nirgends bleiben ... Der Pförtner wohnte im Haus und wollte mich nicht hineinlassen... Ich hatte auch Tanten und Familie. Ich ging zu allen ihren Wohnungen. In jeder lebten Nichtjuden. Sie ließen mich nicht hinein. Einmal sagte jemand sogar zu mir: ‚Wozu bist du überhaupt zurückgekommen? Sie haben dich mitgenommen, um dich umzubringen. Also, warum musstest du zurückkommen?’ Da beschloss ich: Ich bleibe nicht hier. Ich gehe.”
Avraham Dobo (Dabri) schrieb:
„Nach einigen Anfangsschwierigkeiten bekam ich, was ich brauchte, und machte mich auf die tausend Kilometer lange Reise, die mehr als drei Wochen dauerte. Ich kam in meiner Heimatstadt an und gerade als ich aus dem Zug stieg, traf ich einen Mann, einen christlichen Bekannten, mit dem ich zur Schule gegangen war. Ich fragte ihn: ‚Wie geht es dir?’ Er sagte: ‚Deine Schwester ist vor drei Wochen gekommen.’ Ich wusste, wo sie wohnte. Ich ging zu Fuß. Meine Kleidung war halb militärisch und halb zivil. Ich hatte keine anderen Sachen, nur ein Hemd, meine zerknitterte Hose und eine Militärjacke. So kam ich zu Hause an. Ich ging in das Haus meiner Schwester. Ich traf sie dort und sie fragte: ‚Was suchst du?’ Zwei Jahre zuvor hatten wir uns von einander verabschiedet - und jetzt erkannte sie mich nicht. Ich war nur Haut und Knochen und hatte eine Glatze. Ich hätte zehn Jahre alt sein können oder achtzig. Ich sprach ein paar Minuten mit ihr - ich wollte wissen, was es Neues gab. Dann brachen wir beide in Tränen aus.”
Schmuel Schulman Schilo wurde 1928 in Polen geboren. Er lebte im Ghetto Lutsk und wanderte 1946 in das vorstaatliche Israel ein. Er erinnert sich:
„Plötzlich stand ich mitten in der Stadt [...] und fragte mich: ‚Und was jetzt? Unser Haus - weg, Familie - weg, Kinder - weg, meine Freunde - weg, die Juden - weg.’ Da und dort würde ich vielleicht einen Juden treffen, den ich kaum kannte. Dafür habe ich gekämpft? Dafür bin ich am Leben geblieben?
Plötzlich erkannte ich, dass alle meine Anstrengungen sinnlos gewesen waren. Ich fühlte nicht, dass ich lebte.”
Diskussion in der Klasse
- Mit welchen Problemen waren die jüdischen Überlebenden bei der Rückkehr in ihre Heimat konfrontiert?
- Wie war die Reaktion von Familienangehörigen beim Wiedersehen?
- Wie reagierten die Jüdinnen und Juden, wenn sie erkannten, dass sie die einzigen Überlebenden ihrer Familie waren?
Die DP Lager
In Erwartung der großen Flüchtlingskrise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA - United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegründet. Nachdem sich herausstellte, dass die meisten jüdischen Überlebenden nicht mehr in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten, betreuten die Organisation die Überlebenden und organisierten Unterkünfte in Lagern in ganz Europa. Diese Lager sind als Displaced Persons (DP) Lager bekannt. Vor allem zu Beginn waren die Bedingungen in diesen Lagern äußerst schwierig. Viele der Lager waren ehemalige Konzentrationslager oder Kasernen der Wehrmacht. Die Überlebenden befanden sich immer noch hinter Stacheldrahtzäunen, ernährten sich immer noch von nicht ausreichenden Nahrungsmengen und litten immer noch an einem Mangel an Kleidung, medizinischer Versorgung und Vorräten. Die Sterblichkeitsrate blieb hoch. Aber den erbärmlichen physischen Bedingungen zum Trotz, engagierten sich die Überlebenden in kulturellen und sozialen Aktivitäten. Mehr als siebzig jüdische Zeitungen wurden herausgegeben. Theater und Orchester wurden gegründet.
Pädagogische Institutionen wurden ins Leben gerufen. Gedenkprojekte wurden initiiert. Viele Überlebende suchten nach der Shoah einen neuen Sinn für ihr Leben.
Ein Abgesandter des britischen Mandatgebiets Palästina beschrieb die DP Lager so:
„Es sind immer Leute auf der Gasse, meist junge Männer, die umherwandern und auf der Suche sind. Ich habe das Gefühl, dass sie für ihr Leben einen Sinn suchen. Sie stehen in der Früh auf und wissen nicht wozu. Der Tag vergeht, die Nacht bricht herein, es vergeht noch ein Tag und wieder eine Nacht. Und wenn es einmal geschieht, dass man einem dieser jungen Männer in die Augen sieht und man seine Seele lesen kann -- dann versteht man, dass diese Seele immer noch in seiner Vergangenheit umherwandert, er erinnert sich an die Vergangenheit und sehnt sich nach dem Morgen. Die Gegenwart ist nicht notwendig und dient nur dazu, die Kluft zwischen dem alten Leben und der Zukunft zu überbrücken. Das Gefühl der Unbeständigkeit ist bei jedem Schritt greifbar. Es gibt keine Stabilität -- weder materiell noch spirituell. Das Gestern verbrachten sie in der Hölle auf Erden, morgen werden sie in einem himmlischen Paradies sein -- und dazwischen ist nichts, nur Leere und Untätigkeit.
Das Lager ist mit Plakaten übersät - da eine Wandzeitung, dort eine Tafel mit Ankündigungen. Überall Plakate, Fahnen und Parolen. Dem Fremden, der das Lager betritt, scheint das Leben aktiv, voll Kultur und Geist. Aber bei näherer Betrachtung schaudert man vor dem schrecklichen Abgrund, der sich auftut. Da ist etwas Besonderes in der Musik, den Tänzen und dem Kaffeehausleben, ein ängstlicher und nervöser Unterton.
Alles erscheint in einem zu grellen Licht, alles tönt zu schrill. Alles liegt jenseits eines menschlichen Maßstabes; und wenn man diese Luft geatmet hat, versteht man, dass hier Menschen leben, die schon vor langer Zeit die Erfahrung ihres Todes machten. Die Lageraugen immer noch durchdrungen von den Leidensbildern, das Lagerlächeln ist zynisch und aus den Mündern der Überlebenden dringt der Schrei: ‚Wir sind noch nicht untergegangen.’”
Aber mehr als alles andere ersehnten die jüdischen Überlebenden zwischenmenschliche Beziehungen, um ihre Verzweiflung und Einsamkeit zu bannen. Viele der Überlebenden waren junge Männer und Frauen im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die ganz allein dastanden. Sie bildeten Paare und heirateten schnell. Ein Überlebender, der seine ganze Familie verloren hatte, hielt auf folgende Weise um die Hand einer anderen Überlebenden an:
„Ich bin allein. Ich habe niemanden. Ich habe alles verloren. Du bist allein. Du hast niemanden. Du hast alles verloren. Lass uns zusammen allein sein.”
Die Überlebenden beeilten sich, Kinder in die Welt zu setzen und neue Familien zu gründen, als Symbol für die Zukunft - ihre eigene Zukunft und jene des jüdischen Volkes. 1946 wurden allein im DP Lager Bergen Belsen 555 Babys geboren. Die Geburtenrate in den Lagern gehörte weltweit zu den höchsten.
Eliezer Adler wurde 1923 in der polnischen Stadt Belz geboren. Er verbrachte den Großteil des Zweiten Weltkrieges in Zwangsarbeitslagern in der Sowjetunion. Nach dem Krieg verbrachte er drei Jahre in DP Lagern. Er erinnert sich:
„... Das Thema der Rehabilitation der Sche´rit HaPletah (‚die übrig Gebliebenen’, siehe Genesis 45,7), der Wunsch der Juden zu leben, ist unglaublich. Leute heirateten; sie nahmen eine Baracke und teilten sie in zehn winzige Zimmer für zehn Paare auf. Der Wunsch zu leben bewältigte alles - trotz allem lebe ich und ich lebe sogar intensiv.
Wenn ich heute auf diese drei Jahre in Deutschland zurückblicke, bin ich erstaunt. Wir nahmen Kinder und erzogen sie zu menschlichen Wesen, wir gaben eine Zeitung heraus; wir bliesen den Hauch des Lebens in diese Knochen. Die große Abrechnung mit der Shoah? Wer kümmerte sich darum ... man kannte die Realität, man wusste, dass man keine Familie hatte, dass man allein war, dass man etwas tun musste. Man war damit beschäftigt, Dinge zu tun. Ich erinnere mich, dass ich den jungen Leuten zu sagen pflegte: Vergesslichkeit ist eine gute Sache. Ein Mensch kann vergessen, denn wenn er nicht vergessen kann, ist er nicht fähig, ein neues Leben aufzubauen. Nach einer solchen Zerstörung ein neues Leben aufzubauen, zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen? In der Vergesslichkeit lag die Fähigkeit, neues Leben zu schaffen ... irgendwie war der Wunsch zu leben so stark, dass er uns alle am Leben hielt ...”
Im folgenden Zitat denkt Abba Kovner, ein Führer der jüdischen Untergrund- und Partisanenbewegung in Litauen, über die Aktivitäten der Überlebenden nach der Befreiung nach:
„Es hätte mich auch nicht überrascht, wenn aus ihnen eine Bande von Räubern, Dieben und Mördern geworden wäre [...] Sie waren hungrig herausgekrochen, zerlumpt, zerbrochen und vernichtet. Und als erstes wollten sie sich um die elementaren Dinge bemühen: Brot, Unterkunft und Arbeit. All das hätte leicht in das Elend ihres sogenannten rehabilitierten Lebens verfallen können.”
Diskussion in der Klasse
- Wie waren die Bedingungen in den DP Lagern?
- Welche Bedeutung hatten kulturelle Aktivitäten in den DP Lagern? Wie beschreibt der Abgesandte des britischen Mandatsgebietes die vielen Angebote?
- Wie gingen die Überlebenden mit dem Verlust ihrer Familien, ihrer Heimat und ihres früheren Lebens um?
Die Bericha: Auswanderung aus Europa
Die Überlebenden aus den europäischen DP Lagern konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Auswanderung aus Europa, um anderenorts ein neues und produktives Leben aufzubauen. Obwohl viele die Hoffnung gehabt hatten, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, wurden sie durch den Antisemitismus und die Haltung der lokalen Bevölkerung zur Schlussfolgerung gezwungen, dass es in Europa keinen Platz mehr für Jüdinnen und Juden gab. Viele Insassen der DP Lager erklärten entschlossen ihre Absicht, nach Palästina auszuwandern. Die illegale Einwanderung der jüdischen Überlebenden aus Europa in das damalige Palästina wird „Bericha” genannt, das hebräische Wort für „Flucht”. Damals stand Palästina unter dem Mandat der britischen Regierung. Bis Mai 1948, dem Gründungsdatum des Staates Israel, verfolgte diese eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik. Viele jüdische Überlebende, die ins damalige Mandantsgebiet Palästina gelangen wollten, waren gezwungen, dieses auf illegale Weise zu erreichen. Einige wurden von den Briten abgefangen, wie es Rachel Ben-Chaim in ihrem Bericht beschreibt.
Rachel Ben-Chaim wurde 1926 in Ungarn geboren. Im Zweiten Weltkrieg war sie Gefangene in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Stutthof. Rachel überlebte einen Todesmarsch und im Januar 1945 wurde sie von russischen Soldaten befreit. Im Januar 1946 wanderte Rachel nach Palästina aus. Sie erinnert sich:
„Wir überschritten die Grenzen mit Hilfe verschiedener Strategien, mindestens vier oder fünf Grenzen. Zweimal erhielten wir falsche Papiere ... Eine Grenze überquerten wir zu Fuß. Ich trug jemandes Kind. Eine andere Grenze passierten wir mit einem Güterzug. Sie steckten uns in einen oder zwei Wagen und schlossen uns ein. Der leere Güterzug fuhr über die Grenze, um Waren zu liefern, und wir waren in den Waggons ... Später kamen wir in die Villa Emma in Italien, wo wir lange blieben, ohne viel zu tun. Nach einiger Zeit fuhren wir von dort ab und das ging so: sie luden uns auf Lastautos und befestigten die Abdeckplane über uns. Die Brigadesoldaten [jüdische Soldaten aus Palästina, die technisch gesehen zur britischen Armee gehörten, aber versuchten, den jüdischen Überlebenden dabei zu helfen, Palästina zu erreichen] sperrten die Straße ab und sagten, nur die Armee dürfe durch und wir seien die ‚Armee’. Sie brachten uns zum Hafen ... sie warfen uns fast [aufs Schiff], weil alles sehr schnell gehen musste. Wir mussten sehr rasch in den Laderaum, wir waren mehr als neunhundert. Sie schütteten uns in das Schiff hinein ...
Als das Schiff vor der Küste Palästinas ankerte, entdeckten uns die Engländer. Kriegsschiffe kreisten uns ein und dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde, obwohl seit damals 47 Jahre vergangen sind. Wir ankerten mitten auf dem Meer, hissten die Nationalflagge [die weiß-blaue Fahne mit dem Davidstern in der Mitte, die später als Flagge des Staates Israel angenommen wurde] und wir spürten, dass das ganze jüdische Volk am Ufer von Haifa stand, denn das Deck war überfüllt ... so etwas vergisst man nicht; das gab uns die Kraft, viele Schwierigkeiten zu überwinden.”
Ein Drittel der befreiten Überlebenden wanderte nicht nach Israel aus, sondern bevorzugte andere Länder. Sie emigrierten in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und in andere westliche Länder.
Ken Hamer wurde 1937 in der polnischen Stadt Lodz geboren. Ken und die meisten seiner Angehörigen verbrachten den Krieg versteckt in den Wäldern.
Ken erinnert sich an seine Erlebnisse nach Kriegsende:
„Wir waren einige Monate in Paris und konnten nicht nach Israel gebracht werden, denn sie nahmen keine Kinder unter einem bestimmten Alter [...] Ich glaube unter zwölf oder was auch immer [...] und da wir einen Onkel in Australien hatten, einen Onkel und einen Cousin, und wir hatten Pässe für Australien, also gingen wir dorthin.”
Diskussion in der Klasse
- Was wird unter dem Begriff „Bericha” verstanden?
- Wieso wollten viele Überlebende aus Europa auswandern?
- Wie beschreibt Rachel Ben-Chaim die illegale Einwanderung nach Palästina?
Schlussgedanke
Die Geschichten von der Befreiung und die Ereignisse danach im Leben der Überlebenden der Shoah haben kein einfaches und glückliches Ende. Das Trauma, das die Opfer des nationalsozialistischen Regimes erlitten, war so groß, dass sie sich nie vollständig davon freimachen konnten. Auf die eine oder andere Weise begleitet es sie ihr ganzes Leben.