Ein Traum
Wenn ich groß bin, werde ich diese schöne Welt sehen
In einem riesigen Vogel aus Eisen sitzend
Werde ich die Höhen des Universums durchqueren
Über dem Wasser: Fluss, Meer und Ozean.
Die Wolke wird mir Schwester sein und der Wind Bruder
Ich werde die Sphinxen sehen und die Pyramiden
Auf der so alten Erde der Göttin Isis
Ich werde die Unermesslichkeit des Niagara durchqueren
Und mich in der Sonne der Sahara baden.
Quer über die Berge des Tibet, die sich in den Wolken verlieren
Über das schöne Geheimnis der Lama-Zauberer...
Dann werde ich die anstrengende Hitze verlassen für die Gletscher des
Nordens
Ich werde über den Inseln der Känguruhs vorbeikommen, über den
Ruinen von Pompeji.
Über der Heiligen Erde des Alten Testaments
Über dem Land des berühmten Homer
Immer gleichermaßen verzaubert von der Schönheit der Welt
Die Wolke wird mir Schwester sein und der Wind Bruder.
Zit.n.: Noa B. Nussbaum: Für uns kein Ausweg. Jüdische Kinder und Jugendliche in ihren
Schrift- und Bildzeugnissen aus der Zeit der Shoah, Heidelberg 2004, S. 128-129.
Abraham (Abramek) kam am 18. Februar 1930 in Lodz (Polen) zur Welt.
Wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs endete Abrameks Schulzeit bereits nach zwei Jahren. Nach der Besetzung von Lodz im September 1939 durch deutsche Truppen wurden Abramek und seine Familie in das Ghetto, das im Frühjahr 1940 errichtet wurde, gesperrt. Abramek und sein Vater wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Abramek musste bei einem Schuster arbeiten, während sein Vater Mendel als Leiter einer Papierfabrik eingesetzt wurde. Nach der Auflösung des Ghettos im Sommer 1944 wurden Abramek und seine Eltern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Der Vater konnte Abramek während der ersten Selektion retten. Ein anderes Mal wollte Mendel seinen Sohn vor der harten Arbeit schützen und versteckte Abramek in der Baracke, während er selber das Lager für den Arbeitseinsatz verließ. Bei seiner Rückkehr fand er Abrameks Bett leer vor – sein Sohn war in die Gaskammer geschickt worden. Andere Gefangene, die an diesem Tag ihre Kinder mit zur Arbeit genommen hatten, kehrten am selben Abend mit ihren Kindern in die Baracke zurück. Abramek wurde im September 1944 im Alter von 14 Jahren ermordet. Auch seine Mutter Johet-Gitel wurde in Auschwitz ermordet; Mendel Koplowicz war der einzige Überlebende der Familie.
Als Abramek 13 Jahre alt war, schuf er das Gemälde „Gebet“, das einen jüdischen Mann, gekleidet in traditioneller Tracht und in einen Gebetsschal gewickelt, beim Gebet zeigt. Sein Vater Mendel entdeckte das Kunstwerk ebenso wie Abrahams Notizbuch mit Gedichten und Satiren nach der Befreiung bei seiner Rückkehr in das ehemalige Ghetto. Abraham hatte alles auf dem Dachboden zurück gelassen.
Mendel Koplowicz heiratete später Haya Grynfeld, die zusammen mit ihrem Sohn Eliezer Lolek den Holocaust überlebt hatte. 1957 emigrierte die Familie nach Israel.
1983 starb Mendel Koplowicz, der niemandem von dem Bild und dem Notizbuch erzählt hatte. Erst nach dem Tod seiner Frau fand Eliezer Lolek die von Mendel aufbewahrten Erinnerungen an seinen Sohn.
Während des Besuches von Papst Frankziskus in Yad Vashem am 26.05.2014 wurde ihm ein Replikat dieses Gemäldes überreicht und ein Ausschnitt des Gedichtes „Traum” gelesen.
Literatur:
Biografische Informationen zu Lili Latzman „Meine Oma Lili Latzman ist in Kaunas, Litauen, aufgewachsen. Im Jahr 1941, bevor die Nazis Litauen besetzten, floh sie nach Russland und von da in ein Waisenhaus nach Kasachstan. So überlebte sie. Ihr Bruder Daniel Latzman blieb in Kaunas und kam zusammen mit Lillis Großmutter in der Shoah ums Leben. Sein Name findet sich in der Datenbank der Namen der Opfer in Yad Vashem“.
Tal Gutberg, Lilis Enkelin