Praktische Hinweise
Zeitlicher Rahmen: je nach Schulart und angewandter Methodik etwa zwei Unterrichtseinheiten.
Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler ab der 10. Jahrgangsstufe
Materialien:
- Pädagogische und didaktische Einführung für Lehrerinnen und Lehrer.
- Wesentliche biographische Informationen zu Hilde Sherman und Paul Salitter sowie Angaben zum historischen Kontext, visuell aufbereitet (siehe PDF Präsentation).
- Quellentexte, ergänzt durch Angaben zu ihrem Enstehungs- und Überlieferungshintergrund.
- Aufgabenstellungen, die zentrale Fragen benennen, die mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden sollten.
- Vorschlag zum Unterrichtsablauf.
Vorbereitung:
- Computer und Beamer zur Projektion der PDF-Präsentation
- Kopien der Quellen in ausreichender Stückzahl
- Ggf. Kopien der Arbeitsaufträge in ausreichender Stückzahl
Pädagogische Zugänge zum Thema Täterschaft
Individuelles Handeln im historischen Kontext verorten
Weder die Täterinnen und Täter, noch die Opfer des Nationalsozialismus wurden als Täter bzw. Opfer geboren. Täterschaft entsteht in Prozessen, in denen politische, gesellschaftliche und persönliche Faktoren zusammenwirken.
Mehr als 70 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes können persönliche Gründe, die zu Täterschaft geführt haben, in den meisten Fällen nicht mehr rekonstruiert werden. Aus historischen Dokumenten sind zwar die Verbrechen, die begangen wurden, ableitbar. Über die persönliche Motivation hingegen, die die Täterinnen und Täter antrieb, lässt sich oft nur spekulieren, zumal unverstellte Selbstaussagen nach wie vor kaum zu finden sind. In der Nachkriegszeit standen Bewertungen oder Einschätzungen des eigenen Handelns meist im Zusammenhang mit der juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechern. Die in diesem Rahmen getroffenen Selbstaussagen sind selbstverständlich mit Skepsis zu bewerten, da sie klar mit der Intention verbunden sind, die eigene Schuld zu relativieren oder gering erscheinen zu lassen.
In der pädagogischen Vermittlung des Themas Täterschaft scheint es ratsam, sich auf diejenigen Faktoren zu konzentrieren, die tatsächlich den überlieferten Dokumenten zu entnehmen sind. Daher steht in den vorliegenden Unterrichtsmaterialien weniger die Frage nach dem Warum im Vordergrund. Ebenso wenig erscheint es pädagogisch ergiebig, die Täterinnen und Täter in der ihnen eigenen Monströsität vorzuführen und den Lernprozess mit einer allzu offenkundigen Selbstdistanzierung zu beenden, ehe er überhaupt eingesetzt hat. Auch die Zuordnung von Täterinnen und Tätern zu bestimmten Kategorien (Gewalttäter, Schreibtischtäter, Mitläufer, Profiteure...) kann Prozesse des Nachdenkens vorschnell zum Abschluss bringen und verleitet zudem zur der falschen Annahme, dass menschliches Handeln stets konsistent und nach konsequent eingehaltenen Richtlinien abliefe. In der Realität zwischenmenschlichen Handelns ist das Gegenteil weitaus häufiger anzutreffen: Menschen handeln oft inkonsequent, viele Entscheidungen unterliegen scheinbar banalen äußeren Faktoren oder Zufällen. Der von dem polnischen Historiker Jan Tomasz Gross verwendete Begriff "Akteur"
Es macht für die Beurteilung menschlichen Verhaltens einen entscheidenden Unterschied, in welchem Kontext eine Person sich für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen entschied, da durch diesen Kontext die Handlungsoptionen einer Person abgesteckt werden.
- NS-Ideologie und der ihr innewohnende eliminatorische Antisemitismus
- NS-Deutschland als autoritärer Staat
- Potentieller Profit bei Befehlsausführung
- Potentielles Risiko bei Befehlsverweigerung
- Ausmaß des Wissens um das weitere Schicksal der Deportierten
Die hier angegebenen Faktoren sollten keinesfalls Gegenstand vager Vermutungen sein. Die Lernenden benötigen, um zu einer differenzierten und pädagogisch ertragreichen Beurteilung geschichtlicher Vorgänge zu gelangen, verlässliche und historisch abgesicherte Aussagen. Dabei muss allerdings mit berücksichtigt werden, dass auch die Faktoren, die den Handlungskontext einer Person letztendlich prägten, manchmal unscharf bleiben müssen. So kann vom Bestehen einer gesetzlichen Regelung (wie zum Beispiel der im Folgenden erwähnte Paragraph 92 zur Bestrafung von Ungehorsam) nicht immer eindeutig darauf geschlossen werden, dass diese Regelung auch tatsächlich Anwendung fand. Daher muss versucht werden, die historische Realität so genau wie möglich zu beschreiben, dabei in Kauf nehmend, dass sich nicht immer alle Fragen eindeutig beantworten lassen.
Vergleichbares Vergleichen und Beurteilen
Der Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit liegt also zunächst darin, die Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen von Menschen aus Quellen zu rekonstruieren und nachzuvollziehen, welche Koordinaten den jeweiligen Handlungskontext bildeten.
Erst in einem zweiten Arbeitsschritt können die Lernenden schließlich an die Ebene der Bewertung menschlichen Handelns herangeführt werden. Hier ist es sinnvoll, verschiedene Handlungsoptionen zu durchdenken und die Handlungen, Unterlassungen und Entscheidungen unterschiedlicher Personen aus vergleichbarem Handlungskontext miteinander zu vergleichen.
Dadurch kann die entscheidende Erkenntnis gewonnen werden, dass zwar die erdrückende Mehrheit der Akteure während der NS-Zeit darum bemüht war, den Erwartungen des NS-Systems zu entsprechen, um dadurch für ihr eigenes Leben relative Sicherheit und Wohlstand zu erreichen, dass es aber auch einige Wenige gab, die ihre Entscheidungen offensichtlich nicht an den Normen der NS-Ideologie ausrichteten. Diese Wenigen – viele von ihnen wurden von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt – trafen ihre Entscheidungen entgegen einer grundlegenden Normverschiebung, die im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft Schritt für Schritt den Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden vorbereitete: Die Norm der Ungleichheit, d. h. die ideologische, gesellschaftliche und politische Übereinkunft, dass tradierte moralische Grundsätze zwar weiterhin für die Gemeinschaft der Dazugehörigen („Volksgemeinschaft“) Gültigkeit haben, bestimmte Gruppen (v.a. die Juden) aber aus diesen Grundsätzen auszuschließen sind. Dass die Norm der Ungleichheit zum geltenden Gesetz wurde, öffnete den Weg zu einem Genozid, der von einer breiten Mehrheit geduldet, mitgetragen oder aktiv gefördert wurde, ohne dabei dem Bewusstsein einer Normübertretung Raum zu geben. Diese Konstellation einer scheinbar wertekonservativen Gesellschaft, die den Genozid durch Ausgrenzung der Opfer aus dem geltenden Normensystem legitimiert, wird von Heinrich Himmler in seiner Posener Rede ausdrücklich mit dem Motiv des „Anständigen“ gefestigt:
„(...) Von Euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1 000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. (...)“
- Vgl. Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München: C.H. Beck, 2001, S. 20.
- Vgl. hierzu den Begriff des Referenzrahmens, der von Welzer und Neitzel entwickelt wurde, in: Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2011.
- Die Rede, die Heinrich Himmler am 4.10.1943 in Posen hielt, kann unter dem Link http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/posener/ abgerufen werden.
Fallstudie: Die Deportation deutscher Jüdinnen und Juden von Düsseldorf nach Riga – Didaktische Überlegungen
Die vorliegenden Unterrichtsmaterialien laden zu einer Fallstudie ein. Sie beleuchten die Deportation von über 1 000 deutschen Jüdinnen und Juden im Dezember 1941 aus unterschiedlichen Perspektiven. Kernstück der pädagogischen Arbeit bildet der Bericht des deutschen Polizisten Paul Salitter, der diesen Transport von Düsseldorf nach Riga begleitete und nach Abschluss seines Dienstauftrags ausführlich an seine Vorgesetzten berichtete.
Handlungskontext
In Anlehung an die o.g. pädagogischen Überlegungen gilt es nun zunächst, den Handlungskontext Paul Salitters zu rekonstruieren. Salitter traf demnach seine Entscheidungen zunächst als Zugehöriger zur NS-Volksgemeinschaft. Die folgenden Informationen zu seinem Handlungskontext sollten als Arbeitsgrundlage dienen:
- Polizisten erhielten intensive ideologische Schulung („weltanschauliche Erziehung“), die sicherstellen sollte, dass der rassistische Kern der NS-Ideologie verinnerlicht und zu einem Bestandteil ihres Denkens wurde.
Sie fielen, ebenso wie Wehrmachtsangehörige, unter die Rechtssprechung des Militärstrafgesetzbuchs. Es bestand die theoretische Möglichkeit, § 92 (Bestrafung von „Ungehorsam“) so zu interpretieren, dass durch ihn auch Abweichungen von der NS-Ideologie bestraft werden konnten. Man kann jedoch annehmen, dass das erwünschte Verhalten eher direkt durch die Dienststelle erzeugt wurde, entweder durch positiven Anreiz (Vergünstigungen, Förderung der Karriere) oder durch gegenteilige Maßnahmen.
Die Begleitung von Transporten war unter Polizisten generell begehrt und galt als Aufstiegschance.
Es kann als gesichert angenommen werden, dass Polizisten, die ab Herbst 1941 Transporte in den Osten begleiteten, über eindeutiges Wissen (aber nicht immer über Detailwissen) darüber verfügten, welches Schicksal den Deportierten bevorstand. - Das Verhalten von Beamten unterlag dem Beamtenrecht. Der Kontakt mit Jüdinnen und Juden sowie jegliches „judenfreundliches Verhalten“ galt demnach als unzulässig und konnte dienststrafrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen. Unterschiede zwischen "anständigen" und "unanständigen" Juden als Begründung für Kontakt anzugeben, war ebenfalls unzulässig.
- Das Verhalten von Zivilpersonen fiel unter die Rechtssprechung des deutschen Strafgesetzbuchs. Hier wurde „Judenrettung” bis Oktober 1941 nicht als Straftatbestand aufgeführt. Erst seit dem 24.10.1941 galt der Erlass, dass judenfreundliche Handlungen „aus erzieherischen Gründen” mit bis zu drei Monaten Haft bestraft werden können.
Dieser Kontextbeschreibung lässt sich also entnehmen, dass der Polizeibeamte Paul Salitter wohl in erster Linie mit Aufstiegschancen rechnen konnte, würde er den Auftrag seines Vorgesetzten vorschriftsgemäß durchführen. Es kann angenommen werden, dass der bestehende theoretische Strafrahmen kaum zur Anwendung kam, sondern dass zunächst der unmittelbare Vorgesetzte erwünschtes (also radikalisiertes) Verhalten gegenüber Jüdinnen und Juden honorierte und ideologisch abweichendes Verhalten sanktionierte, letzteres zum Beispiel durch Karriereverzögerungen, Auferlegung von Sonderschichten, Stigmatisierung vor Arbeitskollegen, etc. Salitters Bericht ist zudem klar zu entnehmen, dass er wusste, welches Schicksal den deportierten Juden bevorstand, dass sie also in ein Ghetto eingeliefert würden, in dem der Massenmord an den europäischen Juden bereits in vollem Gange war.
Täter- und Opferperspektive
In dem vorliegenden Unterrichtsmaterial wird dem Bericht des Polizisten Paul Salitter eine weitere Quelle gegenübergestellt: die Zeugenaussage von Hilde Sherman (geb. Zander), die in dem von Salitter begleiteten Zug aus ihrer Heimat verschleppt wurde und als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebte. Damit wird die Perspektive des Täters als eine von mehreren Perspektiven relativiert, und die ihr scheinbar innewohnende objektive Wahrheit wird konterkariert. Die reale Erfahrung der Deportierten, die weder von Salitter noch von seinen Untergebenen oder Vorgesetzten wahrgenommen wird, nämlich die physisch lebensbedrohliche und menschlich unerträgliche Situation der im Waggon eingepferchten Menschen, wird auf diese Weise sichtbar.
Der Ordnungspolizist Paul Salitter steckt die Eckpunkte seines Handelns und Denkens exakt im Rahmen der nationalsozialistischen Ideologie ab. Diese erfordert die Deportation von Jüdinnen und Juden aus der deutschen „Volksgemeinschaft“, und zwar nicht als Akt blinden Hasses und unkontrollierter Gewalt, sondern als unbestreitbar notwendige Maßnahme, durch die die ideologische Gesetzmäßigkeit von Inklusion und Exklusion in die Realität umgesetzt wird. Es ist ein wesentliches Merkmal dieser Ideologie, dass sie sich als moralisch integer („anständig“) versteht. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Deportation von über 1 000 Menschen gewaltfrei abgelaufen wäre. Salitters Bericht sowie vor allem Hilde Shermans Erinnerungen enthalten unzählige direkte und indirekte Hinweise darauf, dass der Umgang mit den Deportierten nichts mit einem bürokratisch „sauber“ abgewickelten und ideologisch schlicht erforderlichen Vorgang zu tun hatte, sondern von Respektlosigkeit, brutaler Gewalt und vollständiger Missachtung der verschleppten Menschen und ihrer grundlegenden Rechte geprägt war. In Salitters Wahrnehmung stellt jedoch dieses Vorgehen keine Verletzung zwischenmenschlicher Normen dar, da er offenbar fraglos übernommen hat, was die NS-Ideologie bereitstellte: nämlich die Versicherung, dass für diejenigen, die physisch aus der „Volksgemeinschaft“ entfernt werden, die Normen einer moralisch intakten Gesellschaft nicht mehr gelten. Grundlegende Rechte eines Menschen auf freie Wahl des Wohnsitzes, körperliche Unversehrtheit, Wahrung eines respektvollen Umgangs usw. werden also für Zugehörige der NS-Volksgemeinschaft (z.B. für Salitter selbst und die Männer der ihm unterstellten Wachmannschaft) nach wie vor als selbstverständlich angesehen, während es gleichzeitig möglich ist, diese Rechte den Ausgeschlossenen abzusprechen. Salitters Bericht ist ein Textstück, das er als Mitglied der NS-Volksgemeinschaft verfasst, um auf optimale Weise seine Zugehörigkeit zu demonstrieren und die ihr innewohnenden Vorteile (zum Beispiel Beförderung, soziale Bestätigung) auszuschöpfen.
Die Perspektive der Nachkriegszeit
Ein weiteres Dokument, das dieser Unterrichtseinheit beigefügt wurde, ist ein Brief, den Paul Salliter im Jahr 1947 an die Polizeiverwaltung schrieb. Dieser Brief dokumentiert eine Zeit des Umbruchs. Salitter hat verstanden, dass die NS-Volksgemeinschaft, in der er aufgehoben war, zusammengebrochen ist und er sich nun „in der neuen Demokratie“ seine Position zu sichern hat. Das fundamental Erschreckende an der Person Salitters ist die Art und Weise, in der er diesen Umbruch vollzieht: Der massive Normbruch des Dritten Reiches, nämlich die Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen aus dem Konzept einer Gesellschaft gleichwertiger Mitglieder, wird von Salitter offensichtlich zu keiner Zeit seines Lebens kritisch reflektiert. Er vermeidet es, die Normen und Moralvorstellungen, die seinen Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen übergeordnet sind, einer eigenverantwortlichen Prüfung zu unterziehen. Sein Brief zeigt, dass sein Lebenskonzept darin bestand, übergeordnete Normen zu übernehmen, ohne sie weiter zu hinterfragen. So ist es ihm ohne weiteres möglich, sich einer Reihe unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen als loyaler Bediensteter zur Verfügung zu stellen, ungeachtet der vernichtenden Auswirkungen, die sein Handeln innerhalb des NS-Staates auf die ausgegrenzten und verfolgten Gesellschaftsgruppen hatte:
„Ich verspreche, auch in der neuen Demokratie meine ganze Persönlichkeit in den Dienst der Sache zu stellen, genau so, wie ich es unter den Regierungen Wilhelms II, Ebert, Hindenburg und im dritten Reich getan habe, und bitte, mich wieder in den Dienst der Schutzpolizei – wenn auch im Dienstrang eines Oberinspektors – verwenden zu wollen."
- Vgl. hierzu: Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibattalion 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg 1999 sowie: Carsten Dams / Klaus Dönecke / Thomas Köhler: „Dienst am Volk“- Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur. Frankfurt 2007 sowie: Wolf Kaiser / Thomas Köhler / Elke Gryglewski: „Nicht durch formale Schranken gehemmt.“ Die deutsche Polizei im Nationalsozialismus. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012 sowie: Thomas Köhler: Mörder in Grüner Uniform. Die Ordnungspolizei als Schlüsselorganisation in der Umsetzung des Holocaust, in: Martin Langebach und Hanna Liever, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017
- Quelle: Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011, Personalakte Paul Salitter.
Vorschlag zum Unterrichtsablauf
- Einführung mithilfe historischer Dokumente (Folien 2 und 3)
Die Unterrichtseinheit beginnt mit einer gemeinsamen Betrachtung der historischen Fotografie, die eine Gruppe jüdischer Menschen unmittelbar vor ihrer Deportation zeigt. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, Details zu beschreiben und mit ihrem Vorwissen zu verknüpfen.
Folgende Kenntnisse sollten gesichert werden:- Kennzeichnung der jüdischen Deutschen mit dem gelben Stern wurde im September 1941 verpflichtend eingeführt.
- Im selben Monat ordnete Hitler den Beginn der systematischen Massendeportation der deutschen Juden an. Die Verschleppung der Opfer an den Ort ihrer Vernichtung im Osten Europas war Bestandteil des NS-Plans zur totalen Vernichtung des jüdischen Volkes, der in der nationalsozialistischen Sprache als "Endlösung der Judenfrage" bezeichnet wurde.
- Anders als in vielen europäischen Ländern unter NS-Besetzung, wurden die deutschen Jüdinnen und Juden nicht in Ghettos, sondern in sogenannten Judenhäusern oder anderen Sammelstellen konzentriert, ehe sie deportiert wurden.
- Auf dem Foto sind Jüdinnen und Juden aus Coesfeld abgebildet, die am frühen Morgen des 10.12.1941 von der Gestapo aus dem „Judenhaus“ in der Kupferstraße abgeholt und in den Schlossgarten gebracht wurden. Zusammen mit anderen Juden aus benachbarten Gemeinden wurden sie in einem Lastkraftwagen zur Sammelstelle Gertrudenhof in Münster deportiert. Von dort ging die Deportation weiter in Richtung Rigaer Ghetto.
- Das Foto wurde im Auftrag der örtlichen NSDAP-Parteileitung von Anton Walterbusch aufgenommen. Es handelt sich hier um eine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die am 13.12.41, also zwei Tage später als Hilde Sherman, aus derselben Region nach Riga deportiert wurde. Von den abgebildeten Personen überlebte lediglich eine: Wilhelmine Cohen (zweite von links, mit Hand an der Hutkrempe). Alle anderen Personen haben nicht überlebt. 15 sind im Ghetto Riga verschollen und drei im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig.
- Vor ihrer Verschleppung wurden die Betroffenen schriftlich über Ort und Zeitpunkt ihres Abtransportes informiert. Sie wurden zudem angewiesen, Handgepäck (max. 50 kg) und Verpflegung für den Transport mitzunehmen. Bargeld, Wertpapiere und Wertgegenstände durften nicht mitgenommen werden sondern mussten bereits vor dem Transport an die deutschen Behörden abgeliefert werden.
Vertiefende Informationen zum historischen Hintergrund finden Sie hier.
Abschließend wird die Strichliste betrachtet, die offensichtlich von Salitter oder in seinem Auftrag angefertigt wurde. Sie zeigt die Erfassung der Opfer nach verschiedenen Kategorien. Der Verwendungszweck dieser Statistik ist unklar. Sie zeigt jedoch Salitters Blick auf die Deportierten als bloße statistische Elemente, und damit eine Haltung, die jegliche Empathie gegenüber den Schicksalen dieser Menschen vermissen lässt.
- Einführung in die Biografien und deren historischen Kontext (Folien 4 und 5)
Mit Hilfe der Präsentation macht die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler mit dem biographischen Hintergrund von Hilde Sherman (geb. Zander) und Paul Salitter bekannt. Dabei werden auf den Folien personenbezogene Daten jeweils unter dem Zeitstrahl angegeben, während Informationen zum historischen Kontext überhalb des Zeitstrahls angeordnet sind.
Salitters Biographie wird zunächst nur bis zum Kriegsende erläutert.
- Quellenstudium und Diskussion (Folie 6)
Die Schülerinnen und Schüler machen sich mit den Quellen vertraut. Dies kann durch Selbststudium, Gruppenarbeit, oder durch gemeinsames lautes Lesen erfolgen. Die Arbeitsaufträge 1 und 2 können bereits während der Lektüre mit bearbeitet werden. Sie dienen als Grundlage der folgenden Diskussion.
Die Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen Paul Salitters und anderer in den Berichten erwähnten Personen bzw. Personengruppen (Reinigungsfrau, Stationsvorsteher, Lokalbevölkerung, Rotes Kreuz, Salitters Wachmannschaft, ...) werden zunächst benannt und in ihren jeweiligen historischen Handlungskontext eingebettet.
Daraufhin kann zur Diskussion übergeleitet werden, nämlich der Frage, wie die Handlungen der genannten Personen, insbesondere aber Salitters, heute zu beurteilen seien. Verschiedene Einschätzungen Salitters kommen zur Sprache, beispielsweise die als kleinlicher Beamte, dessen oberstes Ziel die Pünktlichkeit des Zuges zu sein scheint, oder aber die des überzeugten und fanatischen Nationalsozialisten, der in seinen Opfern keine ebenbürtigen Menschen, sondern bloßes Cargo sieht. Häufig ergeben sich am Ende dieser ersten Diskussionsrunde Zweifel darüber, welche gesicherten Erkenntnisse denn nun tatsächlich aus den verfügbaren Quellen abgeleitet werden können. - Einbezug der Nachkriegsperspektive (Folie 7)
Mit Hilfe der Präsentation stellt die Lehrperson nun die Umstände von Paul Salitters kurzer Inhaftierung durch die Alliierten bei Kriegsende, sein Beschwerdeschreiben vom 16.1.1947, sowie die Eckpunkte der ihn betreffenden deutschen Nachkriegsjustiz vor. Salitters Beschwerdeschreiben kann als weiterer Quellentext ausgegeben werden. Der entscheidende Ausschnitt wird auf der Präsentation wiedergegeben. Er sollte Ausgangspunkt der folgenden Diskussion sein.
- Abschlussdiskussion (Folie 8)
Jetzt kann die Frage nach einer möglichen Einschätzung der Person Salitters neu aufgeworfen werden. Durch die zusätzliche Quelle wird erschlossen, dass seine zentrale Motivation offensichtlich in einer möglichst optimalen Selbsteinordnung in das ihn umgebende Gesellschafts- und Rechstsystem liegt. Er schiebt Verantwortung ab auf das jeweilige System und bietet an, „seine ganze Persönlichkeit in den Dienst der Sache zu stellen“, und zwar ohne dieses System eigenständig mit eigenen Wertvorstellungen abzugleichen.
- Quellenreflexion: Täter- und Opferperspektive (Folie 9)
Abschließend sollte gemeinsam reflektiert werden, welche Funktion den Erinnerungen Hilde Shermans in den vorangegangenen Überlegungen zukommt. Durch die Gegenüberstellung zweier Quellen aus Täter- und Opferperspektive wird deutlich, dass Dokumente aus der Perspektive der Täterinnen und Täter jeweils nur einen – meist von NS-Ideologie geprägten – Blick auf die historischen Ereignisse preisgeben können und dass sie, um die Erfahrungsebene der Opfer erfassbar zu machen, durch deren Perspektive ergänzt werden müssen.
- Anknüpfungspunkte an die Gegenwart (Folie 10)
Geschichte ist ein unabgeschlossener Prozess, der für unser Verständnis der Gegenwart erhellend sein kann. Aus dem historischen Studium des Holocaust und insbesondere aus der Auseinanderstetzung mit Täterinnen und Tätern können folgende Einsichten gewonnen werden, die in ihrer Relevanz unmittelbar unsere heutige Gesellschaft berühren:
- Geschichtliche Ereignisse werden von menschlichen Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen beeinflusst. Es darf daher angenommen werden, dass die Geschichte des Holocaust einen anderen Verlauf genommen hätte, hätten sich mehr Individuen dem Normbruch der Ungleichheit widersetzt und ihre Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen an der Norm prinzipieller Gleichwertigkeit aller Menschen orientiert.
- Das Ausloten von Handlungsoptionen kann oft die Augen dafür öffnen, dass das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft nicht immer die einzige, und nicht immer die beste Option ist. Dies bedeutet auch, dass dem Einzelnen ein hohes Maß an Verantwortung für seine Handlungen, Entscheidungen und Unterlassungen zukommt.
- Normverschiebungen sind oftmals Gegenstand öffentlicher Debatten in demokratischen Gesellschaften. Die Lernenden sollten ermutigt werden, diese Debatten aufmerksam mitzuverfolgen bzw. sich an ihnen zu beteiligen.
- Geschichtliche Ereignisse werden von menschlichen Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen beeinflusst. Es darf daher angenommen werden, dass die Geschichte des Holocaust einen anderen Verlauf genommen hätte, hätten sich mehr Individuen dem Normbruch der Ungleichheit widersetzt und ihre Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen an der Norm prinzipieller Gleichwertigkeit aller Menschen orientiert.
- Vgl. Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München: C.H. Beck, 2001, S. 20.
Quelle 1- Informationen zu den Quellen
Paul Salitters Bericht
Von den Deportationsberichten und den Kriegstagebüchern sind nur wenige erhalten geblieben. Gegen Kriegsende 1945 wurde das Archiv der Ordnungspolizei in Prag, wo diese Dokumente überwiegend aufbewahrt wurden, bewusst vernichtet. Außerdem ist das Hauptamt der Ordnungspolizei in Berlin während eines alliierten Luftangriffes zerbombt worden. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Transporte lediglich mit kurzen Ereignismeldungen in den entsprechenenden Kriegstagebüchern erwähnt worden sind. Detaillierte Berichte wie der von Paul Salitter wurden wohl vor allem dann geschrieben, wenn sich die Transportführer bei ihren Vorgesetzten beschweren wollten, Verbesserungsvorschläge hatten oder wenn sie sich hervorheben wollten.
Die Ordnungspolizei des NS-Staates bestand aus etwa 2,8 Millionen Männern. Der Historiker Christoph Spieker konnte bislang 47 Fälle dokumentieren, in denen Polizisten „Rettungswiderstand“ leisteten. Prozentual liegt damit die Zahl derer, die sich widersetzten und Juden halfen, im Promillebereich.
Den folgenden Bericht (gekürzt) verfasste Paul Salitter nach seiner Rückkehr von Riga.
Hilde Shermans Erinnerungen
Der folgende Text ist ein Auszug der transkribierten Zeitzeugenaussage, die die Überlebende Hilde Sherman (geb. Zander) im Jahr 1994 in Yad Vashem ablegte.
Klicken Sie hier, um zu den Quellentexten zu gelangen.
Quelle 2
Paul Salitters Bewerbung um Wiedereinstellung in den Polizeidienst, eingereicht am 16.01.1947, Düsseldorf
Paul Salitter war von den Alliierten als „Minderbelasteter“ (Stufe III der Entnazifizierungskategorien) eingestuft worden, was bedeutete, dass er mit einer monatlichen Pensionszahlung von 150 RM
Klicken Sie hier, um zu dem Dokument zu gelangen.
Literaturtipps
- Bastian Fleermann / Hildegard Jakobs: Düsseldorfer Deportationen. Massenverschleppungen von 1933 bis zur Befreiung 1845 (= Kleine Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Bd. 5), Düsseldorf: Droste Verlag, 2015
- Wolf Kaiser / Thomas Köhler / Elke Gryglewski: „Nicht durch formale Schranken gehemmt." Die deutsche Polizei im Nationalsozialismus. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012
- Thomas Köhler: Mörder in Grüner Uniform. Die Ordnungspolizei als Schlüsselorganisation in der Umsetzung des Holocaust, in: Martin Langebach und Hanna Liever, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017
- Andreas Determann / Matthias M. Ester / Christoph Spieker: Die Deportationen aus dem Münsterland. Katalog zur Ausstellung im Gepäcktunnel des Hauptbahnhofs Münster, Münster: Villa ten Hompel 2008
- www.yadvashem.org (insbesondere die Datenbank zu den Deportationen)
- Dieser Betrag entsprach in etwa dem Durchschnittseinkommen in Deutschland in den Jahren 1946 und 1947 (Quelle: Wikipedia).
- Quelle: Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011, Personalakte Paul Salitter