1. Dialog und Medium
Über das „Ende der Zeitzeugenschaft“ wird bereits seit Jahrzehnten diskutiert, ebenso darüber, wie damit umzugehen sei. Im Zentrum dieser Debatte steht meist die Frage, wie die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen im pädagogischen Kontext gleichsam „ersetzt“ werden könne, was dann wiederum digitale Formate auf den Plan ruft. Dabei ist bereits der Begriff des Zeitzeugen problematisch, da er historisch völlig entkontextualisiert ist – weder die Frage, was bezeugt wird (die Shoah, der Zweite Weltkrieg, die DDR-Diktatur) noch von wem Zeugnis abgelegt wird (Täter, Opfer, Bystander) ist in diesem Begriff definiert. In Deutschland befördern Fernsehformate, die sich des Zeitzeugen als Beglaubiger historischer Vorgänge bedienen, diese moralische sowohl wie inhaltliche Einebnung. Durch die vermeintlich objektive mediale Inszenierung verschiedener Zeitzeugen werde ein „Nebeneinander konsensuell möglicher Positionen“ erzeugt und damit Widersprüche eingeebnet. Um eine solche Gleichsetzung zu vermeiden, wird hier im Folgenden der Begriff des Zeitzeugen vermieden und anstatt dessen von Überlebenden oder Zeugen der Shoah gesprochen. Darüber hinaus ist meiner Meinung nach die Frage bereits falsch gestellt. Digitale Formate wie z. B. Interviews mit Zeugen der Shoah – am bekanntesten sind wohl die Sammlungen des Fortunoff Archives und der USC Shoah Foundation – oder biografisch-dokumentarische Filme wie die im Folgenden vorgestellten von Yad Vashem, sind Artefakte sui generis. Betrachtet man sie als „Ersatz“ für das Gespräch mit persönlich anwesenden Zeugen der Shoah, verdrängt man die mediale Bedingtheit – das Medium ist hier nicht nur eine Art Zusatz, sondern ist selbst Teil des Artefakts – sowie den damit zusammenhängenden Umstand, dass wir es bei der Arbeit mit digitalen Formaten nicht mit einem Dialog zu tun haben, sondern höchstens einem aufgezeichneten Dialog zuschauen und zuhören können, ohne selbst Fragen stellen oder Anmerkungen machen zu können. Neueste Formate wie beispielsweise das Hologramm der USC Shoah Foundation tragen noch dazu bei, diesen Unterschied unkenntlich zu machen, indem sie einen Dialog suggerieren, wo es sich doch eigentlich um Algorythmen handelt. Es ist fraglich, ob dies einem kompetenten Umgang mit digitalen Formaten zuträglich ist. Gewinnbringender erscheint es daher, digitale Zeugenschaft als Format eigener Art zu betrachten und sich die Frage zu stellen, welches Potential diesem für die pädagogische Arbeit innewohnt und wie dieses Potential zur Entfaltung gebracht werden kann.
2. Digitale Zeugnisse
Gleich anderen Formen der Zeugenschaft (Memoiren, Autobiografien, Berichte) unterscheiden sich audiovisuelle Zeugnisse von anderen historischen Quellen dadurch, dass sie die Ebene der persönlichen Erfahrung in sich verkörpern. Es ist überhaupt erst das subjektive Erleben, das die Autorität des Zeugnisses begründet, denn es geht in ihnen zumeist nicht vorrangig um die Erfassung oder Bestätigung einer „objektiven“ Wahrheit, sondern um die subjektive Aneignung und Verarbeitung des Erlebten. Audiovisuelle und literarische Zeugnisse unterscheiden sich wiederum voneinander durch ihre je spezifische Medialität und den Kontext ihrer Entstehung: Während der Verfasser einer Autobiografie, in der er über das während der Shoah Erlittene Zeugnis ablegt, dies in der Regel über einen längeren Zeitraum tut, das Geschriebene wieder und wieder lesen, redigieren oder neu schreiben kann, steht der Zeuge in audiovisuellen Formaten einem Interviewer oder Begleiter gegenüber, dem er unmittelbar antwortet. Damit haftet dem audiovisuellen Zeugnis der Charakter des Situativen und Interaktiven an, es ist eine Momentaufnahme, die im Zusammenspiel von mindestens zwei Personen gemeinsam erzeugt wird. Das bedeutet nicht, dass ein audiovisuelles Zeugnis zwingend unmittelbarer oder authentischer ist als ein schriftliches Zeugnis, zumal Interviews in der Regel gemeinsam mit dem Interviewten vorbereitet werden und einige Zeugen ja auch nicht zum ersten Mal vor der Kamera stehen. Es sind schlicht andere Faktoren, die hier eine Rolle spielen. Nicht nur die Fragen und die Haltung des Gesprächspartners sind bereits Teil des Ergebnisses. Schon das Setting, die Umgebung, andere anwesende Personen etc. haben ihren Anteil an dem Resultat. Durch ihre spezifische Medialität unterscheiden sich audiovisuelle Zeugnisse wiederum von persönlichen Gesprächen mit Zeugen der Shoah, das Medium verschmilzt mit seinem Inhalt und ist von diesem nicht mehr abzuziehen. Der Unterschied zwischen persönlichen Gesprächen mit Zeugen der Shoah und audiovisuellen Zeugnissen fällt gewissermaßen mit dem Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis in eins.
Wenn man bei Zeugnissen der Shoah im Allgemeinen und bei audiovisuellen Zeugnissen im Besonderen die Subjektivität als das entscheidende Charakteristikum ausmacht, gelangt man damit sogleich zur Gretchen-Frage: Wie wirkt sich diese Subjektivität des Zeugnisses auf dessen „Wahrheitsgehalt“ aus, auf dessen Präzision und Glaubwürdigkeit? Es ist unstrittig, dass sich in die Erinnerungen der Zeugen Elemente einschleusen, die erst durch später angeeignetes Wissen, durch Gelesenes oder Hörensagen hinzugekommen sind, nun aber Bestandteil des Zeugnisses geworden sind. Bemängeln einige Historiker also die Ungenauigkeit der Erinnerung zumal so viele Jahre nach dem Ereignis, so besteht eine andere Gefahr in der Überhöhung oder Überidentifikation des Rezipienten mit dem Zeugen. Angesichts dieser Problematiken stellt sich die Frage, worin überhaupt der spezifische Wert audiovisueller Zeugnisse liegt, was im Folgenden diskutiert werden soll.
Klar ist allerdings auch, dass die apodiktische Gegenüberstellung von subjektiven Zeugnissen und solchen historischen Quellen, die als objektiv angesehen werden, z. B. behördliche Schriftstücke, Fotos, die in offiziellem Auftrag entstanden sind u.a., in die Irre führt. In Zeugnissen der Shoah geht es weniger um die historisch exakte Rekonstruktion der geschichtlichen Ereignisse oder um die Bestätigung traditioneller Quellen. Die Dokumente der Täter sind nach wie vor unverzichtbar, um Abläufe, Institutionen, Akteure, Praktiken zu rekonstruieren. Gleichwohl muss man sich gewahr sein, dass es sich bei diesen Quellen um Herrschaftswissen handelt. Allein die euphemistischen Bezeichnungen für den organisierten Massenmord – „Evakuierung“, „Sonderbehandlung“, „Endlösung“ – zeugen von dem Standpunkt der Täter und davon, dass Täterquellen nichts weniger als objektive Quellen sind. Sie sind mit dem Ziel der Propaganda für die eigene Gesellschaft, der Vertuschung nach außen oder schlicht der Erniedrigung der Opfer erzeugt worden. Geoffrey Hartman, Gründer eines der ältesten Visual History Archives, spricht davon, dass durch diese Quellen nichts anderes entstehen würde als „das Bild einer sich selbst dokumentierenden Maschine“ . Gleichwohl scheinen diese Quellen die öffentliche Wahrnehmung der Geschichte des Holocaust zu dominieren, sie werden beispielsweise auch heute noch in deutschen Schulbüchern oftmals ohne jeden weiteren Kommentar zu ihrem Ursprung verwendet.
Die Erzählungen von Zeugen stellen demgegenüber ein Korrektiv, eine Gegenüberlieferung zur „offiziellen“ Narration dar. Die Zeugen sprechen für sich selbst und geben Auskunft von der Spiegelung der Geschichte im Individuum, von der Sichtweise der Individuen auf Geschichte, der Verarbeitung der Erlebnisse und Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart. Hartman legt dies folgendermaßen dar: „Sie [Zeugnisse von Überlebenden, B.H.] können eine Quelle für historisches Wissen sein oder dieses bestätigen, doch ihre wahre Stärke liegt darin, die psychologischen und emotionalen Begleitumstände des Kampfs ums Überleben zu registrieren – und dies nicht nur im Hinblick auf damals, sondern auch auf heute.“ Anstatt Zeugnisse der Shoah also als sekundäre Bestätigung traditioneller Quellen zu betrachten, gilt es zu verstehen, dass es etwas gänzlich anderes ist, das wir aus den Zeugnissen lernen können, etwa „was es hieß, unter Bedingungen zu leben, in denen jede Form von sittlicher Wahl von den Verfolgern systematisch unmöglich gemacht wurde und in denen es so gut wie ausgeschlossen war, ein Held zu sein“ .
Damit wird gerade der subjektive Charakter, der hier zumindest auch unverschleiert hervortritt, zum spezifischen Wert der Quelle. Verabschiedet man sich von der Erwartung, dass Zeugen der Shoah als Historiker fungieren müssen, so ermöglicht dies die Erkenntnis, dass es andere Qualitäten sind, die diese Zeugen uns mitzuteilen haben. Mehr noch: gerade die vermeintlich objektive Betrachtung der Shoah kann dann fragwürdig erscheinen. Der Schriftsteller Jean Améry, der von der Gestapo gefoltert und danach über Breendonk nach Auschwitz deportiert wurde, hat in den sechziger Jahren autobiografische Essays über das Erlittene verfasst. Es handelt sich hierbei um Erzählungen eines Zeugen, der Opfer geworden ist und der schon deshalb keinen Anspruch auf so etwas wie Objektivität erhebt. Im Gegenteil, der Vorstellung, das, was ihm wiederfahren war, einer objektiven Betrachtung zu unterziehen, entgegnet er: „Es hat die Untat als Untat keinen objektiven Charakter: Massenmord, Folter, Versehrung jeder Art sind objektiv nichts als Ketten physikalischer Ereignisse, beschreibbar in der formalisierten Sprache der Naturwissenschaften: Es sind Taten innerhalb eines physikalischen, nicht Taten innerhalb eines moralischen Systems.“
Überdies, so subjektiv die Erfahrungen der Überlebenden auch sein mögen, so verbirgt sich hinter ihnen gleichwohl ein kollektives Schicksal, sodass mit der Beschreibung dieses Verbrechens die subjektive Ebene auch gleich wieder überschritten wird. Dabei spielt möglicherweise auch eine Rolle, dass viele Überlebende der Shoah der Auffassung sind, gar nicht in erster Linie für sich zu sprechen, sondern für die, die kein Zeugnis mehr ablegen können, weil sie ermordet worden sind oder für immer verstummten. Claude Lanzmann spricht in diesem Sinne von den Zeugen, die in seinem Film Shoah sprechen, nicht als Überlebenden, sondern als „Wiedergänger, die fast schon im Jenseits über dem Boden des Krematoriums schwebten und zurückgekommen sind. Diese Menschen sagen niemals ‚ich‘, sie erzählen nicht ihre eigene Geschichte. Sie sagen ‚wir‘, weil sie für die Toten mit sprechen.“ Was genau ist es, das diese Zeugen berichten, das über die Darstellung von „Ketten physikalischer Ereignisse“ hinaus geht?
3. Witnesses and Education
Das Projekt „Witnesses and Education“ geht auf eine Kooperation zwischen der International School for Holocaust Studies (ISHS), Yad Vashem und dem Multimedia Center der Hebrew University Jerusalem zurück. Es handelt sich dabei um biografisch-dokumentarische Filme mit Zeugen der Shoah, die seit 2007 erstellt werden. Diese Filme zeichnen die Lebenswege jüdischer Verfolgter der Shoah nach, die heute allesamt in Israel leben. Die Protagonisten werden in den Filmen dabei begleitet, wie sie an die Orte ihrer Kindheit, aber auch an die Orte der Verbrechen zurückkehren, und dabei über das Erlebte und Erlittene berichten.
Die Filme wurden von der Bildungsabteilung Yad Vashems mit der Absicht konzipiert, die biographischen Geschichten der Überlebenden für die Bildungsarbeit zugänglich zu machen. Daher finden sich auch wesentliche Prinzipien des pädagogischen Ansatzes Yad Vashems in den Filmen wieder: So bestärken die Filme die jüdische Perspektive auf die Shoah, indem sie auf die Selbstwahrnehmung der jüdischen Verfolgten setzen, anstatt über sie zu sprechen oder sie gar durch Propagandafilme und Fotografien gleichsam aus den Augen der Täter anzuschauen. Die Darstellung und Interpretation der historischen Ereignisse wird den Zeugen selbst überlassen, sie sind Subjekt, nicht Objekt der Dokumentation. Es sind ihre Stimmen, die wir hören, es sind ihre Gesichter, die wir sehen. Auch ist die Geschichte der Überlebenden nicht auf die Zeit der Verfolgung begrenzt. Zwar liegt hierauf der Schwerpunkt, jedoch wird darüber hinaus dem Leben vor der Verfolgung sowie dem Weiterleben danach einiger Raum gegeben. Auf diese Weise werden die Überlebenden nicht auf den Status des Opfers, zu dem die Täter sie machten, reduziert, sondern als komplexe, selbstbestimmte Individuen erfahrbar. Die Geschichten der Protagonisten spielen sich in verschiedenen Regionen Europas ab und selbst innerhalb jedes einzelnen Filmes führen die Lebenswege der Protagonisten über verschiedene Orte und Länder, teilweise durch Flucht, Deportation und Vertreibung, aber auch z. B. durch die bewusste Entscheidung zur Alija. Durch die Schilderung der Lebenswege verschiedener Familien wird somit einerseits der transnationale Charakter der Shoah, aber auch die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in Europa vor 1933 erfahrbar.
Wesentliche Elemente in allen Filmen dieser Reihe sind Entscheidungen, Dilemmasituationen und Wendepunkte. Gerade diese Momente sind es, die anders als mit Zeugnissen der Überlebenden gar nicht darstellbar wären, da sie über die rein äußerlichen und quantifizierbaren Fakten hinausweisen. In den Erzählungen der Zeugen wird deutlich, wie stark ihr Handlungsspielraum durch die Maßnahmen der Täter bereits zusammengeschrumpft war. Zugleich konnten sie nicht nicht handeln, sondern mussten Entscheidungen unter Bedingungen treffen, die Lawrence Langer als „choiceless choice“ bezeichnet. Vieles hing von der Willkür der Täter, vom Handeln anderer Akteure, oder auch vom Zufall ab, während sie selbst oft nur noch wenig Einfluss auf ihr Geschick nehmen konnten und dennoch verzweifelt versuchten, sich und ihre Familien zu retten. Somit wird die Geschichte der Shoah nicht zuletzt als das Resultat menschlichen Handelns erfahrbar. Sämtliche Protagonisten bestimmten mit ihrem Handeln und Entscheiden direkt oder indirekt den Fortgang des Geschehens, wobei die Bedingungen, unter denen sie dies taten, unterschiedlicher nicht sein konnten – je nachdem, auf welcher Seite des Geschehens sie standen.
Eine Sequenz aus der Geschichte von Malka Rosenthal , die 1934 in Stanislawow geboren wurde, verdeutlicht diese Konstellation: Sie berichtet, dass sie sich, nachdem sie mithilfe ihres polnischen Kindermädchens aus dem Ghetto Stanislawow habe entkommen können, gemeinsam mit ihrer Mutter bei deren ehemaligem Professor in Lwow habe verstecken können. Nach einigen Monaten hätten Malka und ihre Mutter sich ein neues Versteck suchen müssen, weil jemand auf sie aufmerksam geworden und es zu gefährlich geworden sei. Um sich in einem kleinen Dorf zu verstecken, seien sie ein sehr hohes Risiko eingegangen und mit dem Zug in Richtung Ottynia gereist, hoffend, dass niemand sie erkennen würde. Aber der schlimmste Fall tritt ein. Ein Mitreisender habe gerufen: „Eine Jüdin und ihr jüdischer Balg!“ und ein Tumult sei ausgebrochen, das ganze Abteil sei gewaltsam auf Mutter und Tochter losgegangen und Mitreisende hätten schon die Notbremse ziehen wollen, um die beiden der Gestapo zu übergeben. In dem Moment, so erzählt Malka, sei ein Ukrainer hervorgetreten und habe vor den möglichen Konsequenzen bei Betätigen der Notbremse für alle gewarnt und gesagt, dass er ohnehin aussteigen müsse und daher genauso gut die beiden mitnehmen und der Gestapo in seinem Ort übergeben könne. Beim Aussteigen habe er die beiden brutal vor sich hergestoßen. Erst als der Zug weitergefahren sei, habe er sich als Bekannter der Familie zu erkennen gegeben und ihnen geholfen, in das Versteck zu gelangen, in dem sich bereits Malkas Vater aufgehalten habe.
Diese Sequenz gibt einige Auskunft über Kollaboration und Widerstand, Hilfe und Verrat. Der Rezipient lernt zum einen, dass das Handeln und Entscheiden von Malka und ihrer Mutter in einem Rahmen stattfand, der keinerlei wirkliche Optionen bot, sondern unter den Vorzeichen eines Genozids stand. Zum anderen wird sichtbar, dass das Handeln und Entscheiden anderer Personen eine große Rolle für den Fortgang der Geschichte spielte. Während völlig unbeteiligte Passagiere sich zum Verrat entscheiden und Mutter und Tochter den deutschen Behörden übergeben wollen, was wahrscheinlich einem Todesurteil gleichgekommen wäre, entscheidet sich ein Mann unter Vortäuschung falscher Tatsachen, den beiden zu helfen und damit zugleich ein erhebliches Risiko für sein eigenes Leben einzugehen. Diese Sequenz stößt verschiedene Fragen an, die in einem pädagogischen Kontext zu diskutieren wären: Zunächst einmal ließe sich beschreiben, welche Akteure welche Entscheidungen getroffen bzw. Handlungen ausgeführt haben. Dann gälte es, den Hintergrund dieser Entscheidungen und Handlungen zu analysieren. In Bezug auf Malka und ihre Mutter wäre beispielsweise zu klären: Welche Handlungsoptionen hatten sie, welches Risiko sind sie bei der Bahnfahrt eingegangen, was waren mögliche Konsequenzen, wären alternative Handlungen möglich gewesen? Die anderen Passagiere betreffend ließe sich fragen: was wussten sie über die Konsequenzen, die Malka und ihrer Mutter bei einer Auslieferung an die Gestapo drohten, welche Vorteile hätte diese Auslieferung für sie selbst gehabt, was war der ideologische Hintergrund ihres Handelns, welche alternativen Handlungen wären denkbar gewesen? Schließlich der Helfer: welches Risiko ging er selbst ein, konnte er die möglichen Folgen seines Handelns überblicken usw. Hierbei gilt es, historisch akkurat vorzugehen und diese Fragen nicht der Spekulation zu überlassen. Es lässt sich beispielsweise historisch nachweisen, welche Strafen im besetzten Polen darauf ausgesetzt waren, Juden zu helfen, auch das Vorhandensein antisemitischer Einstellungen innerhalb der polnischen und ukrainischen Gesellschaft ist belegt. Es geht dabei nicht darum, psychologisch zu ergründen, warum Person A eine andere Entscheidung getroffen hat als Person B. Wir wissen durch Malkas Zeugnis einfach, dass sie es tat und können nun versuchen, die Hintergründe und möglichen wie tatsächlichen Folgen dieses Handelns zu analysieren sowie es mit dem Handeln anderen beteiligter Akteure zu vergleichen, welches von Passivität über Kollaboration bis zu Hilfe reichte.
Es war jedoch nicht nur das Handeln anderer Akteure, welches oftmals buchstäblich über Leben und Tod entscheiden konnte. Auch der Aspekt des Zufalls sowie unvorhersehbarer Wendungen konnten eine große Rolle spielen. Der Film „Woher wird meine Hilfe kommen“ erzählt das Leben der Schwestern Fanny und Betty Ichenhäuser, geboren 1919 und 1923 in Frankfurt am Main, die nach der Machtergreifung nach Holland flüchteten und deren Leben nach der deutschen Besatzung Hollands eine völlig unterschiedliche Wendung nahm, nachdem sie sich trennten. Die ältere Schwester, Fanny, hat die Möglichkeit, sich mit ihrem Mann auf dem Bauernhof bei einer holländischen Familie zu verstecken, ihr neugeborener Sohn ist in der gesamten Zeit bis Kriegsende bei verschiedenen anderen Personen versteckt. En passant erfahren wir hier übrigens auch, dass die Retter nicht immer lange ausgereifte, theoretisch fundierte Rettungsabsichten hatten, sondern dass Solidarität mit den Verfolgten für sie bisweilen einfach „selbstverständlich“ gewesen sei, wie im Falle von Fannys Helferfamilie. Die jüngere Schwester, Betty, entschließt sich, bei der Mutter zu bleiben, da es zu riskant gewesen sei, die Mutter mit ins Versteck zu nehmen. Während die ältere Schwester mit ihrem Mann im Versteck überlebt und dort ständiger Angst vor Entdeckung, die auch einige Male beinahe erfolgt, sowie quälender Platznot ausgesetzt ist, wird die jüngere Schwester mit der Mutter im September 1943 nachts aus ihrem Haus verschleppt und in Westerbork interniert, von wo aus die beiden Frauen im Januar 1944 weiter nach Bergen-Belsen deportiert werden und damit der Lebensgefahr in jeder Sekunde unmittelbar ausgeliefert sind. Die Entscheidungen der beiden Schwestern haben ihre Wege in einer Weise getrennt, die sie unmöglich vorher hätten antizipieren können. Auch hieran lässt sich erkennen, wie weit der Handlungsspielraum der jüdischen Verfolgten bereits von den Tätern eingeschränkt war, dass sie aber dennoch unter diesen dramatischen Bedingungen Tag für Tag handeln und entscheiden mussten, was oftmals zu fürchterlichen Dilemmasituationen führte – in diesem Fall musste sich Fanny von ihrem wenige Monate alten Baby trennen, um die Überlebenschancen für alle Beteiligten zu erhöhen, Betty musste sich zwischen der eigenen Rettung und dem Beistand für ihre Mutter entscheiden.
Die Verwendung der Filme in einem pädagogischen Kontext ist somit einerseits dazu geeignet, Empathie mit den Protagonisten zu erzeugen. Sowohl einer (Über-)Identifikation mit den Opfern als auch einer distanzierten Abwertung, die z. B. in der verständnislosen Frage, warum die Verfolgten „nicht einfach“ geflohen wären, Widerstand geleistet hätten etc. kann somit entgegengearbeitet werden. Die Rezipienten lernen, dass die Überlebenden autonome, komplexe Persönlichkeiten waren und sind, die von den historischen Ereignissen der Shoah auf unterschiedliche Weise betroffen waren, die jedoch auch ein Leben vor und nach der Verfolgung hatten oder immer noch haben. Schließlich dient die Analyse von Handlungen und Entscheidungen vor ihrem jeweiligen Handlungskontext dazu, zu einer differenzierten Bewertung anstatt einer pauschalen Vorverurteilung zu gelangen. Die Geschichte der Shoah wird als das Resultat menschlichen Handelns und Entscheidens erfahrbar. Damit wird der Mythos, man habe unter den Bedingungen einer Diktatur keine Wahl gehabt, entkräftet.
Abschließend wäre zu diskutieren, ob diese Filmreihe auch zur pädagogischen Arbeit in verschiedenen nationalen und kulturellen Kontexten geeignet ist. Zwar sind die meisten Filme bereits mit Untertiteln in mehreren Sprachen versehen. Ursprünglich sind die Filme jedoch für ein junges israelisches Publikum als Zielgruppe konzipiert worden. Bei allen Protagonisten handelt es sich um Personen, die sich nach der Shoah in Israel niedergelassen haben und zum Zeitpunkt der Dreharbeiten dort mit ihren Familien leben. Am Ende der Filme wird die Kontinuität jüdischen Lebens in Israel betont, indem die Familien der Überlebenden, ihre Kinder, Enkel, Urenkel usw. gezeigt oder zumindest erwähnt werden. Am prägnantesten ist dies wiederum im Film der Schwestern Ichenhäuser. Sie sitzen am Ende in Jerusalem auf einer Terrasse mit Panorama, die eine im Rollstuhl, die andere auf der Steintreppe daneben. Nach und nach kommen deren Familienmitglieder hinzu und wir lernen, dass die Schwestern zusammen insgesamt vier Kinder, vierzehn Enkel und zweiunddreißig Urenkel haben. Zwei der Enkel von Fanny, Aharon und Yonatan Razel, begleiten Teile des Films musikalisch. Schließlich sitzen die beiden Schwestern in einer großen Gruppe von Familienangehörigen aller Altersgruppen. Läuft dieses Filmende mit dem Fokus auf Überleben und Kontinuität Gefahr, die Millionen Toten vergessen zu machen? Verschweigt es, dass die meisten Opfer der Shoah nicht die Möglichkeit eines „Neuanfangs“ hatten? Handelt es sich hier um ein „Happy End“? Nun, zum einen wäre eine Erzählung, die in der vollständigen Zerstörung endet, schwer in einem pädagogischen Kontext zu verwenden. Jedoch legt eine genauere Betrachtung die Verneinung dieser Fragen nahe. Die Erzählung wirklich jedes einzelnen Protagonisten der Filme ist von der Erfahrung des Verlusts und der Vernichtung um der Vernichtung willen durchzogen. Die Protagonisten erzählen von der Zerstörung ihrer Familien, welche als bleibendes Trauma geschildert wird. Der im damaligen Polen geborene Avraham Aviel , der seine Mutter und Brüder in der Shoah verlor, erinnert die Worte seines Vaters: „Mein Sohn, ich bin schon ein älterer Mann, aber du wirst überleben, und wirst eine Familie gründen und alles vergessen.“ Mit seiner eigenen Kommentierung dieser Vater-Worte entkräftet Avraham jedoch jede Vorstellung vom „Glück“ des Überlebens: „Ich habe eine wundervolle Familie gegründet. Aber vergessen kann ich nicht.“ Als die Deutschen besiegt wurden, sei ihm erst das Ausmaß der Katastrophe bewusst geworden. Zurück in der einstigen Heimat muss er feststellen, dass es diese Heimat nicht mehr gibt: „Es war niemand mehr da, es war keiner übrig geblieben.“ So handelt es sich mitnichten um Geschichten mit Happy End, sondern um biografische Narrationen von Personen, die sich nach der Shoah bewusst dazu entschieden haben, ihre Zukunft im jüdischen Staat Israel zu sehen, der seine Bürger bestmöglich vor antisemitischen Übergriffen schützt. Dass das Überleben, welches überhaupt erst die Voraussetzung für eine Zukunft in Israel war, die Ausnahme und nicht die Regel war, wird in den Filmen schmerzhaft zu Bewusstsein gebracht.