Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler ab 12 Jahre
Inhalt:
- Vorbemerkungen
- Hintergrundinformation
- Kindheit vor dem Krieg
- “Und dann brach der Krieg aus...“
- Das Leben im Ghetto
- Deportation und Leben im Versteck
- „[...] jetzt musst du erwachsen sein, verstehst du?”
- Ankunft im Kibbuz
- Schlussgedanken
Vorbemerkungen
Diese Unterrichtseinheit ermöglicht es Schülerinnen und Schülern, sich mit einem Holocaust-Überlebenden und seinen Erzählungen aus der Shoah auseinanderzusetzen. Uri Orlev erzählt in seinem Buch „Das Sandspiel” seine persönliche Geschichte, aus der Perspektive eines Kindes. Er beschreibt darin seine Erfahrungen im Ghetto, die Ermordung seiner Mutter und sein Leben im Versteck.
Hintergrundinformation
Uri Orlev wurde als Jerzy Henryk Orlowski in Warschau im Jahre 1931 geboren. Man nannte ihn Jurek. Als kleines Kind wusste er anfangs nicht, dass er ein Jude war. Als der Zweite Weltkrieg im September 1939 ausbrach, wurde sein Vater zum Wehrdienst in der polnischen Armee eingezogen. Im November 1940 wurden Jurek und seine Familie gezwungen, ins Warschauer Ghetto umzusiedeln. Nachdem seine Mutter mehrere Jahre in einer Ghettofabrik gearbeitet hatte, wurde sie krank. Im Januar 1943 wurde sie im Krankenhaus von den Nazis erschossen. Nach dem Tod seiner Mutter kümmerte sich seine Tante Stefa um Jurek und seinen Bruder Kazik.
Im Februar 1943 wurden die Brüder aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt und im polnischen Teil von Warschau versteckt. Zur Zeit des Warschauer Ghetto – Aufstands im April 1943 waren beide bereits seit zwei Monaten im Versteck. Aus Angst vor den Nazis wurden die Brüder in ein einsames Landhaus gebracht und für mehrere Wochen in einem dunklen Keller versteckt, den sie nur nachts verlassen durften. Im Sommer 1943 wurden Jurek und Kazik gemeinsam mit ihrer Tante in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert, wo sie zwei Jahre leben mussten. Nach der Befreiung schaffte es seine Tante, ihnen eine Einreiseerlaubnis für das vorstaatliche Israel zu besorgen. Schließlich ließen sich die Brüder im Kibbuz Ginegar nieder.
„Ich wurde 1931 in Warschau geboren. Mein Vater war ein Arzt. Ich aber wollte Straßenbahnfahrer werden. Ich wollte mich an den Stehsitz hinter dem Lenkrad lehnen und Passanten und Droschken und Autos warnen, indem ich mit einem Eisenpedal die Klingel auslöste, die so schön bimmelte. Bis mir klar wurde, dass ein Polizist viel mächtiger war, besonders der Verkehrspolizist, der mit einer Bewegung seiner Hand allen Fahrzeugen befehlen konnte, anzuhalten oder zu fahren. Da beschloss ich, Polizist zu werden. [...]
Kurz nach der Geburt meines Bruders zogen wir aufs Land, weil meine Mutter uns von den Straßen der großen Stadt fern halten wollte. Von dem Schmutz. Von den Flüchen und den Bazillen. Wir zogen in ein neues Zweifamilienhaus. Mein Vater fuhr jeden Morgen in die Stadt zu seiner Praxis und kam immer erst spätabends zurück. Wir waren nur sonntags mit ihm zusammen. Im Sommer fuhr er mit mir Boot oder Kajak und im Winter machten wir Skiwanderungen. Um meinen Vater zu sehen, stand ich morgens oft früh auf und schaute zu, wie er Gymnastik machte. [...] Wenn mein Vater sich angezogen hatte, brachte ich ihm seine Schuhe und dann frühstückten wir.”1
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Beschreibt Jureks Kindheit vor dem Krieg. Führt Beispiele aus dem Text mit an.
Jureks Vater Maximilian Orlowski war Arzt, und seine Mutter Zofia half ihm in der Klinik in der Stadt. Jurek liebte es, Bücher zu lesen und Abenteuerspiele mit seinem Bruder zu spielen. Als die beiden ins Schulalter kamen, kehrte die Familie Orlowski wieder in ihr Zuhause in Warschau zurück. 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Die deutsche Armee fiel in Polen ein und eroberten die Hauptstadt Warschau.
- Uri Orlev: Das Sandspiel, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1997, S. 7-11, (Übersetzung von Mirjam Pressler).
„Ich hatte schon vor dem Krieg viel gelesen. [...] Ich liebte Bücher über Kriege und haarsträubende Abenteuer. Ich liebte Bücher über erwachsene Helden oder über Kinder, die eine Mühsal nach der anderen durchstehen und viel leiden mussten, bis alles gut ausging. Wenn ein Buch traurig endete, fühlte ich mich noch lange nach dem Lesen ganz schlecht. [...] Je mehr ich las, umso mehr wuchs mein Neid auf die Helden, die in den Büchern beschrieben wurden. Warum passierte mir nie etwas? Und dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Ich verstand nicht sofort, dass diesmal auch mir etwas passierte.”
2
„Wer ist nicht schon einmal morgens aufgewacht und wollte nicht aufstehen und hoffte, dass irgendetwas passieren würde? Dass man zum Beispiel Fieber bekommt oder dass sogar ein kleiner Krieg ausbrechen oder ein Sturm aufkommen würde – er müsste keinen wirklichen Schaden anrichten, aber stark genug sein, damit man weiterschlafen könnte. Das ist es, was mir tatsächlich passiert ist. Die Deutschen kamen und ich war von der Schule befreit.”
3
„Meine Mutter dachte, wenn die Deutschen kämen, würden sie Warschau mit Kanonen angreifen, deshalb wäre es besser, im Zentrum zu wohnen, weit weg von der Kampflinie [...] Aber meine Mutter hatte nicht an Luftangriffe gedacht. Nach einem Monat Bombardement mussten wir uns aus dem großen, brennenden Haus retten. In Filmen sieht man manchmal eine brennende Stadt. Flammen schlagen aus den Fenstern der Häuser und man hört die Holzbalken von der Hitze bersten. Der Schrei eines Menschen, der aus dem Fenster dringt, weil der Fluchtweg versperrt ist, das Krachen der zusammenbrechenden Mauern. Genau so war es. Wir rannten die Straße entlang. Meine Mutter hielt mich und meinen Bruder an den Händen. Die Funken, die auf uns herabsprühten, fingen auf dem Mantel meines Bruders an zu brennen. Auf meinem nicht. Tante Mela rannte neben meinem Bruder und schlug die Glut aus. [...]
Als wir uns aus dem brennenden Viertel gerettet hatten, schleppten wir uns lange durch dunkle Straßen und klopften vergeblich an die Türen der Häuser. Überall hatten die Hausmeister die Türen verschlossen, um zu verhindern, dass Tausende von Flüchtlingen in die Treppenhäuser drangen.”4
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Wie werden Kriege in Jureks Büchern dargestellt? Wie stellt sie sich Jurek vor?
- Woran erinnert sich Jurek in Bezug auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges?
- Ibid., S. 25-26.
- Ibid., S. 22-23.
- Ibid., S. 26-27.
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Jureks Vater zum Wehrdienst in der polnischen Armee eingezogen. Ende 1940 wurde der neunjährige Junge zusammen mit seiner Familie in das Ghetto zwangsumgesiedelt. Das Warschauer Ghetto war ein abgeriegeltes Stadtviertel, in dem ungefähr 450.000 Jüdinnen und Juden auf extrem engen Raum eingesperrt waren. Die Situation im Ghetto war sehr hart: viele Jüdinnen und Juden starben an Hunger und Krankheiten; Kinder hatten es besonders schwer. In dem Bemühen, diese schwierige neue Realität zu meistern, dachten sich Jurek und sein Bruder Geschichten aus.
„Die Deutschen stopften eine halbe Million Menschen in das Ghetto, Juden aus Warschau und aus der Umgebung, und nachdem das ganze Viertel mit einer Mauer eingeschlossen worden war, machten sich Hunger und Krankheiten breit. Ich verließ jeden Morgen das Haus und ging zum Unterricht, den mir noch immer Fräulein Landau erteilte. Die Bücher und Hefte versteckte ich unter meinem Pullover, weil es den jüdischen Kindern im Ghetto verboten war zu lernen. [...] Jeden Morgen bekam ich von meiner Mutter ein Stück Brot für die Zehn-Uhr-Pause. [...] Unterwegs sah ich auch die Toten, die man im Morgengrauen auf den Bürgersteig gelegt hatte. Sie waren mit Zeitungen bedeckt. Ob es Kinder oder Erwachsene waren, sah man an der Größe. Wenn ich von Fräulein Landau nach Hause kam, lagen sie schon nicht mehr da.
Wegen des Hungers gab es auf der Straße sogenannte Schnapper. Sie schnappten sich alles, was essbar aussah. Ihr Trick bestand darin, das Essen sofort in den Mund zu stecken, weil man es ihnen dann nicht mehr wegnehmen konnte. Eines Tages riss mir ein Schnapper in schmutzigen Lumpen mein Brotpäckchen aus der Hand. Er schnappte es und stopfte es sich sofort in den Mund.”5
„Irgendwann hatte ich mir ausgedacht, dass der Krieg, die Vernichtung der Juden, überhaupt nicht in der Wirklichkeit stattfand. Dass ich das alles nur träumte. In Wirklichkeit war ich der Sohn des chinesischen Kaisers und mein Vater, der Kaiser, hatte befohlen, mein Bett auf eine große Bühne zu stellen. Um das Bett herum standen zwanzig weise Mandarine. Sie hießen Mandarine, weil jeder eine Mandarine auf seinem Hut befestigt hatte. Mein Vater befahl ihnen, mich in Schlaf zu versetzen und diesen Traum träumen zu lassen, damit ich eines Tages, wenn ich seinen Thron erbte, wüsste, wie schlimm Kriege sind, was Hunger bedeutete und was es hieß, verwaist zu sein. Damit ich nie Kriege führen würde. Mein Bruder liebte diese Geschichte. Jedes Mal, wenn etwas passierte, wenn eine Bedrohung auftauchte und wir uns in plötzlicher Gefahr befanden, drängte mich mein Bruder, ihm diese Geschichte zu erzählen. […] Und wenn wir keine Zeit hatten, die Geschichte von Anfang an zu erzählen, wie der Hof des chinesischen Kaisers aussah und was ich dort aß und welche Befehle ich den vielen Dienern gab, begnügte er sich mit der Bestätigung, dass ich all das, was wirklich um uns herum geschah, nur träumte.“
6
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Welche Rolle spielen Vorstellungskraft und Phantasie in Jureks Leben im Ghetto?
- Welche Beziehung zwischen Jurek und seinem Bruder ist aus den Leseausschnitten erkennbar?
Anmerkung für Lehrerinnen und Lehrer:
Der tagtägliche Überlebenskampf und die unerträglichen Lebensbedingungen im Ghetto verstärkten Jureks Vorstellungskraft, die ihm half seine Situation erträglicher zu machen. Als der Ältere der beiden Brüder, teilte Jurek seine ausgedachte Welt mit seinem Bruder und versuchte ihn dadurch zu schützen. Jurek war erst elf Jahre alt und war bereits dazu gezwungen, Verantwortung für seinen jüngeren Bruder Kazik zu übernehmen. Während des Krieges geschah es oft, dass Kinder Erwachsenenrollen übernehmen mussten. Oft mussten die Eltern tagsüber Zwangsarbeit verrichten oder waren bereits deportiert worden, oder sie konnten aufgrund ihrer physischen Verfassung nicht mehr die Kraft aufbringen, für ihre Kinder zu sorgen. Durch diese Umstände wurden Kinder häufig gleichsam über Nacht zu Erwachsenen („sudden maternity“).
Die folgenden Auschnitte beschreiben Jureks tägliches Leben im Ghetto:
„Wenn ich meine Tante besucht hatte, ging ich immer auch zu meiner Großmutter, weil sie Mitleid mit mir hatte und mir oft einen halben Zloty gab, damit ich mit der Rikscha nach Hause fahren konnte. Ich fuhr sehr gerne Rikscha. Besonders, wenn sie gepolstert war, goldene Verzierungen hatte und mit Glöckchen geschmückt war. Meine Mutter verbot mir, mit einer gepolsterten Rikscha zu fahren, wegen der Flöhe, die sich in der Polsterung verstecken konnten. Im Ghetto gab es Flecktyphus, der durch die Flöhe übertragen wurde. Täglich starben viel Menschen an dieser Krankheit. Meine Mutter erlaubte mir nur, Rikschas zu benutzen, deren Bänke aus Holz waren. Aber ich genoss es, mich wie ein König zu fühlen. In einiger Entfernung vom Haus stieg ich ab, damit meine Mutter mich nicht zufällig ertappte. [...]
Eines Tages erfasste mich Mitleid mit dem Jungen, der immer im Torbogen unseres Hauses saß und mit einer jeden Tag leiser werdenden Stimme rief: ‘Ein Stück Brot. A schtikele brojt. Ein Stück Brot.’ Niemand schien ihm etwas zu geben, vielleicht weil es überall viele solcher Kinder gab. Ich stellte mich etwas entfernt von ihm hin, streckte die Hand aus und rief mit kräftiger Stimme: ‘Eine milde Gabe für einen armen Jungen...’
Zu meiner Überraschung gaben mir die Leute Geld. Ein Mann blieb stehen und sagte zu seiner Frau: ‘Schau, ein Junge aus einer guten Familie. Er sieht noch anständig aus.’
Innerhalb kurzer Zeit bekam ich viel Geld. Ich wäre gern in das kleine Spielwarengeschäft gegenüber gegangen und hätte mir endlich das Taschenmesser gekauft, das meine Mutter mir nicht kaufen wollte. Ich könnte damit jemanden verletzen, meinte sie, mich selbst oder meinen kleinen Bruder. Doch dann dachte ich, dass das nicht richtig wäre. Dafür hatte ich nicht gebettelt. Ich gab dem Jungen das ganze Geld, ging nach Hause und erzählte meiner Mutter stolz, was ich getan hatte. Meine Mutter blickte mich streng an und fragte: ‘Hat dich jemand von den Nachbarn gesehen? Sie werden noch glauben, ich hätte dich zum Betteln geschickt. Was für eine Schande! Der Sohn von Doktor Orlowski!’ Ich musste ihr versprechen, so etwas nie wieder zu tun. Doch von da an gab meine Mutter mir manchmal eine Münze für diesen Jungen.”8
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Welche Entscheidungen trifft Jurek in dem Ausschnitt?
- Wie reagiert Jureks Mutter, als sie von seinen Taten hört?
- Ibid., S. 31-33.
- Ibid., S. 46-47.
- Nussbaum, Noa Barbara: Für uns kein Ausweg. Jüdische Kinder und Jugendliche in ihren Schrift- und Bildzeugnissen aus der Zeit der Shoah, Heidelberg 2004, S. 153f.
- Uri Orlev: Das Sandspiel, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1997, S. 35-37, (Übersetzung von Mirjam Pressler).
Im Jahre 1942 begannen die Nazis, die Warschauer Jüdinnen und Juden in Lager zu deportieren, meistens in das Vernichtungslager Treblinka. Die Jüdinnen und Juden, die im Ghetto zurückgeblieben waren, arbeiteten in Werkstätten und versuchten, der immer schlimmer werdenden Lage standzuhalten. Die wenigen verbleibenden Kinder lebten in ständiger Angst, deportiert zu werden und waren gezwungen, sich zu verstecken. Jeden Tag, während ihre Mutter in einer Fabrik arbeitete, versteckten sich Jurek und Kazik bis sie zurückkehrte. Der elf Jahre alte Jurek beschreibt seine vorherrschende Angst im Versteck:
„Ich hasste es, im Versteck zu sitzen und Angst zu haben, sie könnten uns finden. Diese Angst hatte ich auch, wenn wir uns zusammen mit den Erwachsenen versteckten. Manchmal saßen wir zusammengekauert auf dem Dachboden, in einem Schuppen, in einem Schrank oder hinter einer Ziegelmauer. Wir durften keinen Ton von uns geben. Zu hören waren nur die Suchenden, ihre Schritte, ihr Klopfen an den Wänden – finden sie uns, finden sie uns nicht –, wir durften nicht husten und nicht niesen und ausgerechnet dann hatte man eine Kröte im Hals oder die Nase juckte.”
9
„[…] In Wahrheit spielten wir ein Spiel. Ich war Tarzan, der Herrscher der Welt, und mein Bruder war nicht mein Bruder, sondern mein Feind, mit dem ich mich im Krieg befand. Und wenn Frieden war, wurde er wieder zu meinem Bruder, der das Nachbarland regierte. Wir hatten beide eine große Armee und während der sechs wirklichen Kriegsjahre führten wir im Spiel unseren eigenen Krieg. Die Form des Spiels wurde von den äußeren Bedingungen bestimmt. Nachts oder in einem dunklen Versteck erzählten wir uns einfach, was wir mit unseren Armeen taten. Konnten wir tagsüber auf dem Fußboden spielen, führten wir regelrechte Schlachten mit Bleisoldaten, mit Schachfiguren oder mit großen Haufen Spielkarten, die ich aus den verlassenen Wohnungen der Nachbarhäuser geholt hatte. Wenn wir nicht mit in die Fabrik genommen wurden, um uns dort zu verstecken, und wenn wir nicht in unser Versteck im Haus gehen mussten, führten wir zwölf Stunden lang abwechselnd Kriege und Friedensverhandlungen auf dem Fußboden des Zimmers, bis die Erwachsenen von der Arbeit zurückkamen.”
10
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Mit welchen Schwierigkeiten sind die Brüder im Leben im Ghetto konfrontiert? Wie versuchen sie, damit umzugehen?
- Welche Bedeutung nehmen ihre Spiele ein?
- Ibid., S. 4.
- Ibid., S. 40-42.
Kurz darauf wurde Jureks und Kaziks Leben noch schwieriger und gefährlicher. Aufgrund der schweren Arbeit und der untragbaren Lebensumstände im Ghetto wurde ihre Mutter Zofia krank. Sie kam ins Krankenhaus und wurde dort von den Deutschen erschossen.
„Auch meine Mutter war schon nicht mehr da. Sie war im Januar 1943 im Krankenhaus von den Deutschen erschossen worden. Mein Bruder und ich blieben bei unserer Tante Stefa, die bis zum Ende des Krieges um unser Leben kämpfte.“
11
„Solange meine Mutter noch da war, glaubte ich zu fühlen, dass es eine unsichtbare Gestalt gab, die mich immer beschützte. Der Tod meiner Mutter erschütterte diesen Glauben, doch nach einiger Zeit nahm meine Mutter den Platz dieser geheimnisvollen Gestalt ein und nun war sie es, die immer über uns wachte.”
12
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Wie versucht Jurek mit dem Tod seiner Mutter umzugehen?
Nach dem Tod ihrer Mutter schmuggelte ihre Tante Stefa die Brüder Jurek und Kazik in den polnischen Teil von Warschau. Später versteckten sie sich wochenlang in einem dunklen Keller. Im Jahre 1943, nachdem sie im Versteck entdeckt worden waren, wurden die Brüder in das Konzentrationslager Bergen-Belsen in Deutschland deportiert. Ihre Tante gelang es nach der Befreiung, Reisedokumente zu beschaffen, die es ihnen erlaubten, nach Palästina (Britisches Mandat) zu emigrieren. Von diesem Moment an waren die Brüder auf sich allein gestellt. Jurek erinnert sich an die Worte seiner Tante vor ihrer Abreise.
„‘Jurek, pass auf’, sagte [Stefa]. ‘Morgen hast du keine Tante mehr, die dir alles erklärt. Also höre gut zu. Hier hinein packe ich nur Essen für unterwegs. Und in Kaziks Rucksack nur Kleidung. […] in den anderen Rucksack packe ich etwas zu essen für den ersten Teil des Wegs. Belegte Brote. Pass auf, dass ihr euch nicht draufsetzt. Wo hast du das Notizbuch? Verliere es ja nicht, Gott behüte! Jurek, jetzt musst du erwachsen sein, verstehst du? [...] Und zieht abends in Palästina die Wollpullover an. Man sagt, die Nächte dort seien sehr kalt, auch im Sommer. Hörst du, Jurek?’ [...] ‘Und dass ihr es nicht wagt, euer richtiges Alter zu sagen’, warnte [Stefa]. ‘Kazik, du bist neunzehnhundertfünfunddreißig geboren, und du Jurek, neunzehnhundertdreiunddreißig. Vergesst das nicht. Sonst bleibt euch nicht genügend Zeit für die Schule und ihr müsst bald arbeiten. Ihr seid nicht wie alle anderen Kinder. Ihr habt sechs Jahre verloren durch den Krieg.’ Kazik drückte sich an sie und sagte kein Wort.”
13
Diskussionsvorschläge für Lerngruppen
- Welche Anweisungen gibt Tante Stefa den Brüdern? Wie bereitet sie die Brüder auf die Reise vor?
Anmerkungen für Lehrerinnen und Lehrer:
Jurek und Kazik sind Waisen. Bis zu diesem Zeitpunkt versuchte ihre Tante Stefa, so gut sie konnte auf sie aufzupassen. Nun sind sie jedoch mit der Tatsache konfrontiert, die Schwierigkeiten des Lebens ohne eine Elternfigur meistern zu müssen. Da Jurek der ältere Bruder ist, sind die Anweisungen hauptsächlich an ihn gerichtet und er muss die Verantwortung für beide übernehmen, obwohl er zu dem Zeitpunkt erst 13 Jahre alt ist.
- Ibid., S. 37-38.
- Ibid., S. 46.
- Uri Orlev: Die Bleisoldaten. (Übersetzung: Mirjam Pressler) Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 1999, S. 306-307.
Nach einer langen Reise kamen die Orlowski Brüder in Palästina (Britisches Mandat) an, und zogen in den Kibbuz Ginegar. Im Kibbuz wurden die Namen der beiden Brüder in hebräische Namen geändert – Jurek wurde Uri, und Kazik wurde Yigal.
„Der Kibbuz war ein sehr seltsamer Ort. Am ersten Abend nach unserer Ankunft musste ich mich auf dem großen Rasen neben dem Speisesaal einfinden. Alle Leute, die polnisch sprachen, versammelten sich um mich und ich erzählte ihnen, was im Krieg geschehen war. Ein paar Stunden lang regte sich niemand und keiner sagte etwas. Nur die Grillen waren zu hören, das Muhen von Kühen oder in der Ferne das Bellen eines Hundes. [...] Der Kibbuz wurde mir zu einer neuen Heimat und die wenigen Jahre, die ich dort die Schule besuchte, wurden zu meiner zweiten Kindheit.”
14
Diskussionsverschläge für Lerngruppen
- Inwiefern kann Jureks Ankunft im Kibbuz als ein Wendepunkt in seinem Leben betrachtet werden?
- „Neue Heimat”, „Zweite Kindheit” was bedeutet dies für Uri Orlev?
Anmerkungen für Lehrerinnen und Lehrer:
Trotz Jureks schmerzhafter Erfahrungen während und nach dem Krieg, beschreibt er die Nacht, in der er anderen Kibbuz-Mitgliedern seine Geschichte erzählte, sehr positiv.
Jurek Orlowski änderte seinen Namen in Uri Orlev. Er heiratete und hat heute vier Kinder und zwei Enkel. Er wurde Schriftsteller und schrieb viele Bücher für Erwachsene und Kinder.
„Ich weiß nicht, ob mir das Schreiben über die Vergangenheit hilft, sie zu bewältigen. Ich weiß nur, dass es mir nicht möglich ist, als Erwachsener zu sprechen oder an die Dinge zu denken, die mir passiert sind. Ich muss mich an sie erinnern, als wäre ich noch immer ein Kind. Es sind seltsame Details, manche komisch, andere bewegend, die Kindheitserinnerungen an sich haben und die von Kindern auch leicht verstanden werden.”
15
Schlussgedanken
Zusätzlich zu den extremen Lebensbedingungen, denen die Kinder ausgesetzt waren, litten sie oft unter der Abwesenheit erwachsener Menschen, die sie leiten und schützen könnten. Zusätzlich dazu mussten Kinder mit der Trennung von ihren Familien und geliebten Personen umgehen. Mithilfe seiner Fantasie versuchte und gelang es Jurek, diese Schwierigkeiten zu meistern. Die Geschichten, die er erschuf, gaben Jurek und Kazik Kraft den Holocaust zu überleben. Derselbe kreative Geist inspirierte Jurek/Uri später dazu, Schriftsteller zu werden und damit zukünftigen Generationen seine eigene Geschichte zu übermitteln.
- Uri Orlev: Das Sandspiel. (Übersetzung: Mirjam Pressler) Beltz Verlag, Weinheim, 1997, S. 68-69.
- Ibid., S. 76.