Wie kann das Erinnern an den Holocaust zukünftigen Generationen vermittelt werden, da die Begegnung mit Überlebenden oder anderen Zeitzeugen immer schwieriger wird?
Wie unsere Gesellschaft auch in Zukunft mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen wird, das ist für die zukünftige persönliche und gesellschaftliche Identität von Bedeutung. Immer wieder hört man Geschichtslehrkräfte von der Unlust und/oder Übersättigung in der Mittelund Oberstufe reden, wenn das Thema Holocaust auf dem Lehrplan steht. Diese Anzeichen treten nicht nur in unserer Gesellschaft auf. Auch in Israel distanzieren sich Jugendliche der dritten oder vierten Generation nach dem Holocaust von der Thematik und geben sich
unberührt.
Einzelschicksale betrachten
Vor diesem Hintergrund ist ein Paradigmenwechsel in der Didaktik des Holocaust anzeigt. Nicht mehr nur die Vermittlung von Fakten und Zahlen, sondern zudem die Stärkung subjektbezogener Sichtweisen wird propagiert. Schilderungen von Einzelschicksalen Überlebender oder Helfer sollen eine emotionale Beteiligung ermöglichen und die Reflexion der historischen und persönlichen Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Darstellungen des Alltagslebens vor und während des Holocaust sollen aus den passiven, anonymen Opfern wieder Subjekte des Handelns und Mitglieder der damaligen Gesellschaft machen.
Rollenspiele zur Ausgrenzung der Juden (wie z.B. einem anderen einen gelben Judenstern anzuheften) sind jedoch kritisch zu betrachten, da sie zum Verfestigen von Stereotypen beitragen können.
Die Begegnung mit der Lebensgeschichte einzelner Menschen, das Einfühlen und Mitfühlen öffnet für das historische Interesse. Über die Opfer und von den Opfern zu lernen heißt, sich mit ihren Augen der Geschichte zu nähern, Zusammenhänge zu beleuchten und persönliche moralische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren interessieren sich für Lebensgeschichten anderer Menschen, solidarisieren sich mit den Opfern und fragen nach Gleichheit und Gerechtigkeit.
Erinnern lernen
Die Kultur des Erinnerns der jüdisch-christlichen Tradition wird zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung: Erinnern bezieht sich auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Durch das Vergangene erhalten Gegenwart und Zukunft Sinn.
Unter dieser Perspektive wird auch der religiöse Zusammenhang deutlich. Stärker als im Sachunterricht setzten sich die Kinder im Religionsunterricht mit sich selbst, mit anderen und mit Gott auseinander. Existenzielle Grundfragen nach Leben und Verantwortung kommen hier zur Sprache. Christ sein heißt, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und für die Mitmenschlichkeit sensibilisiert zu sein. Das ethische Postulat der Barmherzigkeit und Nächstenliebe des Christentums und die jüdisch-christlichen Wert- und
Moralvorstellungen der Gebote („Du sollst nicht töten.“) sind zentrale Themen in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
In diesem Zusammenhang stellen Kinder häufig die Frage nach der Verantwortung Gottes: Warum hat Gott das Leiden der Menschen zugelassen? Darauf gibt es keine einfache Antwort. In Gesprächen kann man mit den Kindern das Fragen vertiefen. Menschen können Gottes Handeln nicht ermessen und kennen nicht die Gründe, warum etwas so und nicht anders geschehen ist. Die persönliche Glaubensaussage, dass Gott auch im Leiden bei den Menschen ist, nimmt die Fragen der Kinder in der biblisch-christlichen Tradition auf.
Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz
Wie kann jungen Menschen der Holocaust altersgerecht nähergebracht werden? Wie kann ihnen erklärt werden, was Menschen anderen Menschen angetan haben, ohne dass man die Kinder traumatisiert oder ihnen das Interesse an der Thematik frühzeitig nimmt? Im Sinne Adornos formulieren Abram und Mooren ein Postulat für jüngere Kinder: die „Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz“, in der eine detaillierte Darstellung extremer Grausamkeiten unterbleibt, aber dennoch der systematische Charakter der nationalsozialistischen Verfolgung nicht ausgeklammert wird (vgl. Pech, S. 28-29).
Vorwissen ordnen, Realität verarbeiten
Kinder begegnen der Thematik im Fernsehen, greifen Gesprächsfetzen in den Familien oder im Umgang mit älteren Geschwistern auf. Fragen sie Erwachsene z.B. nach der Bedeutung der Hakenkreuzschmierereien, reagieren diese oft hilflos und ausweichend. Ihr Vorwissen ist oft unstrukturiert, teilweise mit diffusen Ängsten besetzt. Es reicht vom Namen Hitler bis hin zu detaillierten Kenntnissen über Verbrechen in den Konzentrationslagern. Von Opfern und Tätern haben Kinder oftmals verzerrte oder stereotype Vorstellungen.
m Klassengespräch sollte nur vorsichtig darüber gesprochen werden, da die Kinder versuchen könnten, sich in der Schilderung grausamer Ereignisse zu übertrumpfen. Wenn allerdings diese Vorstellungen nicht individuell thematisiert werden, können Halbwahrheiten und Vorurteile ungebremst wachsen oder auch in eine Faszination an der Macht der Nationalsozialisten umschlagen.
Dieses Vorwissen der Schülerinnen und Schüler gilt es zu ordnen, um ihnen eine Perspektive für die Entwicklung eigener Handlungskompetenzen anzubieten und der Ohnmacht entgegenzuwirken. Durch die Beschäftigung mit dem Holocaust wird nicht eine vermeintlich heile Welt zerstört. Die Kinder erhalten vielmehr Hilfen zur Verarbeitung dieser Realität.
Elternarbeit verstärken
Gerade weil die Erinnerung an den Holocaust immer wieder kontrovers diskutiert wird, ist es für die Lehrerinnern und Lehrer wichtig, nicht nur den didaktischen Aspekt in den Blick zu nehmen, sondern auch den eigenen Standpunkt zu diesem komplexen Thema bewusst zu reflektieren. Die didaktisch reduzierte Vermittlung des Themas in der Grundschule darf nicht zu stereotypen oder gar falschen Erklärungsmustern führen.
Sehr wichtig ist eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern (s. Elternbrief im Materialkasten unten). Auf einem Elternabend kann das Thema ein eventuell zum Einsatz kommendes Buch und die pädagogischen Zielsetzungen in der Arbeit mit Grundschulkindern erläutert werden. Die Lehrerinnern und Lehrer sollten deutlich machen, dass die Inhalte sensibel ausgewählt und bestimmte Aspekte wie die Rassenideologie oder die Konfrontation mit grausamen Fotos oder Beschreibungen ausgeblendet werden.
Sabine Konevic ist Grundschullehrerin und Fachleiterin für Evangelische Religionslehre in Münster.
Beispiel eines Elternbriefes
Liebe Eltern,
im Religionsunterricht werde ich mit den Kindern in den nächsten Wochen das Thema Holocaust behandeln. Ich möchte Sie an dieser Stelle darüber informieren, damit Sie auf mögliche Fragen Ihres Kindes vorbereitet sind.
Im Unterricht werden wir gemeinsam ein Buch über ein jüdisches Mädchen lesen, das den Holocaust in einem Versteck überlebt hat. Ziel des Unterrichts ist es, den Kindern am Beispiel dieser Lebensgeschichte ausgewählte Ereignisse des Holocausts altersgerecht näher zu bringen und sie für die Geschichte eines betroffenen Menschen zu sensibilisieren.
Es ist mir wichtig, Ihnen vorab mitzuteilen, dass im Unterricht keine Konfrontation mit grausamen Bildern oder Details der Verbrechen der Nazidiktatur beabsichtigt ist. So werden keine Fotos von Menschen in den Konzentrationslagern oder Ähnliches gezeigt.
Für alle Eltern biete ich vorab eine kurze Einführung in das Buch an und stehe für Fragen zur Verfügung.
Wann: Montag, den 23. Januar, 15.00 Uhr
Wo: im Klassenraum
Ich freue mich über eine rege Teilnahme!
Mit freundlichen Grüßen
Auszug aus: Grundschule Religion 12/2005. S. 4-6