Bernd Körte-Braun
„My name ist Pinchas Gutter. I will answer any questions you might have for me.”
Pinchas Gutter, der heute in Toronto lebt, musste einen Teil seiner Kindheit im Warschauer Ghetto verbringen und im Alter von zehn Jahren, nach der Deportation der Familie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, die endgültige Trennung von seinen Eltern und seiner Zwillingsschwester erfahren. Seine Familie wurde ermordet, er selbst 1945 befreit. Seine Lebensgeschichte hatte er bereits mehrfach erzählt, bevor er im Herbst 2012 im Studio „Light stage 6“ an der University of Southern California (USC) das eingangs zitierte Versprechen formulierte und auf Hunderte Fragen antwortete, die digital aufgezeichnet wurden.
Die eigentlichen Adressaten seiner Antworten leben allerdings noch nicht und sie werden ihre Fragen erst dann stellen, wenn Pinchas Gutter sie persönlich nicht mehr beantworten kann. Es sind Schülerinnen und Schüler, die sich in einer Zeit mit dem Holocaust beschäftigen werden, in der in Folge des generationellen Wandels eine leibhaftige Begegnung mit Überlebenden nicht mehr möglich sein wird. In dem mit der Aufzeichnung beabsichtigten zukünftigen „Dialog“ werden somit die Antworten von Gutters Seite vorweggenommene oder Auszüge aus Antworten auf andere Fragen sein: Schüler stellen ihre Fragen an ein dreidimensional projiziertes „Gegenüber“, das Pinchas Gutter lebensgroß in einem Sessel sitzend zeigt. Die Auswahl „passender“ Antworten des Hologramms besorgt eine Spracherkennungssoftware. Sollte keine entsprechende Antwort gespeichert sein, werden die Schüler die von Gutter gesprochene und ebenfalls 2012 aufgezeichnete (default-)Antwort hören: „I’m sorry, I don’t know the answer to that question“.
„New Dimensions in Testimony“
Bei dem 3D-Hologramm mit Pinchas Gutter handelt es sich um einen Prototypen, dem bis zu zehn weitere Hologramme mit Überlebenden des Holocaust folgen sollen. Durchgeführt wird dieses Projekt von der USC Shoah Foundation, The Institute for Visual History and Education (USC SF) und dem Institute for Creative Technologies (ICT), die beide an der University of Southern California in Los Angeles angesiedelt sind. Ziel des Projekts mit dem Namen „New Dimensions in Testimony” sind die Aufzeichnung und die Präsentation von „testimony in a way that will continue the dialog between Holocaust survivors and learners far into the future.” Die Projektverantwortlichen sehen diese Inszenierung von Zeitzeugenschaft des Holocaust in „the age-old tradition of passing down lessons through oral storytelling, but with the latest technologies available.”
Die beiden Partner bringen für die Transformation von Überlebenden des Holocaust in 3D-Hologramme viel Erfahrung mit: Die USC Shoah Foundation ist verantwortlich für die mit über 50.000 Video-Interviews weltweit größte Sammlung mit Erinnerungsberichten von Überlebenden des Holocaust (in den 1990er Jahren weltweit in über 30 Sprachen aufgezeichnet). Das ICT war an der Produktion der 3D-Filme „The Curious Case of Benjamin Button“ sowie „Avatar“ beteiligt und beschränkt sich bei der Entwicklung von 3D-Hologrammen keinesfalls auf Überlebende des Holocaust.
In der Kuppel – das mediale Dispositiv
Hatte das ICT für seine Hologramme bislang ein kleineres „facial-recording system“ entwickelt und verwendet, so soll nun mit einer neuen „ligth-stage technology“ der ganze Körper möglichst lebensecht holografiert werden. Das Ziel sind interaktive digitale Doppelgänger der Überlebenden – dreidimensional und in Lebensgröße, die von unterschiedlichen Blickpunkten aus betrachtet werden können.
Die Aufzeichnung von Pinchas Gutter als Prototyp für künftige 3D-Hologramme erfolgte 2012 in einem kuppelförmigen Studio der USC mit einem Durchmesser von acht Metern, von über 6.000 multiplen LEDs ausgeleuchtet und vor einem Green Screen, der das Freistellen von Gutter im Schnittstudio erleichtert. Vor insgesamt sieben high-speed Kameras erinnerte Gutter drei Stunden lang seine Lebensgeschichte. Für die Holografie von weiteren Überlebenden ist die Nutzung von bis zu 50 Kameras vorgesehen. Geplant ist außerdem eine Projektion der Hologramme in den freien Raum. Die Präsentation des Prototypen mit Gutter erfolgte in dem Demonstrationsfilm allerdings noch auf einem Display.
Im ICT-Studio „Light stage 6“ sind die meisten Kameras auf das Gesicht, dann auf die Hände und die restlichen schließlich auf den übrigen Körper von Pinchas Gutter ausgerichtet.
Die Gesichter bzw. die „talking heads“ stehen bereits bei den zweidimensionalen videografierten Selbstzeugnissen im Zentrum. Zur Kameraeinstellung bei den Interviews für das „Yale’s Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies” bemerkt Geoffrey Hartman rückblickend: „Despite TV’s disdain for ‘talking heads’, that is exactly what we aimed for. The survivor as talking head and embodied voice.” Das Gesicht ist Sitz der Sinne und der Stimme, in ihm zeigen sich aber auch nonverbale Regungen und Reaktionen, Mimik und Ausdruck. Hieraus dürfte seine Vormachtstellung bei der Aufzeichnung von Pinchas Gutter und anderen Überlebenden des Holocaust resultieren. Und für die Individualität werden neben dem Gesicht die Gesten der Hände als entscheidend erachtet, die schließlich wesentlich zur gewünschten „dialogischen“ Interaktion mit dem Hologramm beitragen sollen. Außerdem gelten Mimik und Gestik als wichtige Indizien für die Glaubwürdigkeit eines Menschen und damit für die Überzeugungskraft seiner Erzählung. Der große Rest des Körpers dient der Komplettierung einer möglichst lebensechten Abbildung und damit der Herstellung der erhofften Authentizität der Projektion.
Bei der Vorwegnahme zukünftiger Rezeptionsgewohnheiten ist ebenso die Wahl der Kleidung von Bedeutung. Diese trägt bei einer Ganzkörperdarstellung stärker zum Erscheinungsbild bei als bei einer Kameraeinstellung auf „talking heads“ und beeinflusst damit Wirkung und Rezeption der Erzählung bzw. der „Antworten“.
Drei-D(imensionale) Geschichte der Juden bisher
Die 3D-Hologramme des Projekts „New Dimensions in Testimony“ sind vor allem als zukünftige „museum settings“ gedacht. In heutigen Museen werden 3D-Präsentationen zur jüdischen Geschichte wie auch zur Verfolgungsgeschichte von Juden bereits eingesetzt. In Reaktion auf den von Neonazis verübten Brandanschlag 1994 auf die Synagoge in Lübeck initiierte Marc Grellert ein Projekt an der TU Darmstadt, in dem mittlerweile mehr als 20 in der NS-Zeit zerstörte Synagogen als computeranimierte 3D-Konstruktionen visualisiert wurden. In der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin kann eine davon, die frühere Synagoge im sächsischen Plauen, virtuell betrachtet werden. Navigiert wird der ‚Synagogenbesuch‘ per Joystick.
Doch nicht nur Synagogenarchitektur oder rituelle wie profane Dinge erfahren eine virtuelle dreidimensionale Rekonstruktion. Eine besonders gelungene Präsentation von Exponaten in Form von Hologrammen mit 3D-Effekt, unter ihnen z. B eine Fotografie von Theodor Herzl, regte im Jüdischen Museum Wien die Besucher zum Mitwirken und Mitdenken an – bis zur Entfernung der Hologramme im Jahr 2012. Die mehr als 20 Hologramme in der Wiener Dorotheergasse verkehrten die (auch heute technisch noch immer nicht ganz überwundene) Schwäche der Holografie – nämlich ihre Abhängigkeit bei der Rezeption von der Perspektive des Rezipienten – gleich in einen doppelten Zugewinn: Klar und deutlich zu sehen waren die holografierten Exponate eben nur aus einer ganz bestimmten Perspektive. Die Suche nach dem besten Blickpunkt vor dem Hologramm verwies den Betrachter auf seinen eigenen Anteil an der Rezeption der ausgestellten Exponate. Veränderte er seinen Standpunkt vor dem Hologramm, so verlor das Exponat für ihn seine klaren Konturen und machte ihn im besten Fall auf den Zusammenhang von Standpunkt, Bewegung und Rezeption aufmerksam. Und schließlich verweist diese Visualisierungsform, bei der sich „ästhetische und epistemische Praxis“ (Klaus Leggewie) überlappen, auch auf den Umstand, dass mit der Ermordung der Menschen eine große Zahl potenzieller originaler Ausstellungsexponate zur jüdischen Geschichte ebenso verloren gegangen sind.
3D-Holografie
In dem Projekt „New Dimensions in Testimony“ ist neben der beabsichtigten „dialogischen“ Interaktion die mediale und möglichst lebensechte Präsentation von Überlebenden des Holocaust als 3D-Hologramme die große technische Neuerung, deren zukünftige Weiterentwicklung auch ohne „Dialog“ schwer abzusehen ist. Die 3D-Holografie könnte ja „bloß“ als neue Darstellungsform lebensgeschichtlicher Erinnerungsberichte dienen. Sollte die 3D-Holografie in Zukunft zur gängigen Präsentations- und damit Rezeptionsform audiovisueller Artefakte werden, so wären die 3D-Hologramme von Überlebenden des Holocaust (wenn auch wiederum nur bis zur nächsten technischen Neuerung) attraktive Quellen zur Einbeziehung persönlicher Erfahrungen von Verfolgten beim historischen Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust. Je vertrauter und gewohnter die Form der Präsentation aufgenommen wird, desto näher empfinden sich die Rezipienten damit dem Zeitpunkt der Aufzeichnung und desto weniger weit weg erscheinen ihnen die erinnerten Ereignisse. Diese Form der Affirmation geschieht bei zweidimensionalen audiovisuellen Selbstzeugnissen ebenso wie bei einer unmittelbaren Begegnung mit einem Überlebenden des Holocaust: „Es ist seine Funktion als Mittler zwischen der Welt der Vergangenheit und der Gegenwart, die die Wertschätzung des Zeitzeugen ausmacht; in ihm versichert sich die Jetztzeit ihres unmittelbaren Zugangs zur Vergangenheit.“
Heutigen Schülerinnen und Schülern erscheint das 3D-Hologramm mit Pinchas Gutter in dem Demonstrationsfilm noch ähnlich fremd und entfernt wie z. B. die Audio-Interviews mit Überlebenden des Holocaust, die der US-amerikanische Psychologe David Boder 1946 auf dem damals brandneuen Drahttonrekorder in DP-Lagern aufzeichnete. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die Schüler beide Techniken als zu wenig ausgereift wahrnehmen. Lehrerinnen und Lehrer äußern dagegen wiederholt Skepsis darüber, dass Überlebende des Holocaust überhaupt holografiert werden sollen. Dabei sind Zeitzeugnisse immer medial verfasst. Und so müsste in Zukunft beim historischen Lernen mit Erinnerungsberichten eben der Einfluss der Holografie auf Darstellung und Rezeption der Erinnerungen von Überlebenden mitreflektiert werden, während heute die audiovisuelle Aufzeichnungsapparatur und die entsprechenden Interview-Settings oder die immer seltener werdende Situation eines unmittelbaren „Zeitzeugengesprächs“ mit in die Analyse der Erzählungen einbezogen werden sollten.
„Dialogische“ Interaktion in der Zukunft
Die Imagination zukünftiger Fragen von Schülern zum Holocaust, die Umsetzung der Intention, einen „Dialog“ mit einigen Überlebenden des Holocaust über ihren Tod hinaus zu verlängern, ist ohne Zweifel ein sehr ehrgeiziges Unterfangen. Dabei besteht eine große Aufgabe in der möglichst zutreffenden Einschätzung zukünftiger Entwicklungen bei der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Holocaust, ja der Erinnerungskultur überhaupt. Eine zweite maßgebliche Herausforderung ist eine technische: Das Ziel einer „dialogischen“ Interaktion macht die Spracherkennungssoftware – eine „Siri-style natural language technology“ zum Dreh- und Angelpunkt: Vorausgesetzt, seine Projektion als 3D-Hologramm ist irgendwann dank der technischen Weiterentwicklung vom lebenden Pinchas Gutter nicht mehr zu unterscheiden, so bleibt die Spracherkennungssoftware die entscheidende Instanz für eine Interaktion zwischen den Schülern und dem Hologramm. Sie müsste die Fragen der Schüler und die Antworten des Hologramms von Pinchas Gutter verknüpfen und dabei auch die Emotionen und die Motivationen der Schüler mitberücksichtigen, die sie mit ihren Fragen verbinden. Sie müsste für ein einfaches „Nein“ oder ein bloßes „Ja“ an der richtigen Stelle sorgen. Und sie müsste erkennen, wenn eine Frage wiederholt formuliert wird oder in Reaktion auf eine z. B. antisemitisch konnotierte Frage diese als solche bezeichnen und zurückzuweisen.
Sollte dies alles in Zukunft möglich sein, so blieben die Interaktion aber noch immer einseitig und die Rollen festgelegt: Die Schüler fragen, das Hologramm antwortet. Und die Antworten stammen aus dem 2012 aufgezeichneten Sample von Pinchas Gutters Antworten auf Hunderte von Fragen, die Stephen Smith, Executive Director der USC Shoah Foundation, stellvertretend für künftige Schülergenerationen formuliert hat.
Von heute aus betrachtet verschränkten sich in der zukünftigen „dialogischen“ Interaktion der Schüler mit dem Hologramm alle drei geschichtlichen Zeitdimensionen: die Gegenwart („Light stage 6“ an der USC, Erinnerung und Antworten von Pinchas Gutter im Jahr 2012), die Vergangenheit (sein von Pinchas Gutter erinnertes Leben vor, während und nach dem Holocaust bis zum Interview) und die Zukunft (Fragen der Schüler). Letztere, da eben noch nicht eingetreten bzw. erfahren, muss dabei von heute aus imaginiert werden. Somit bestimmt die Vorstellung von der Zukunft das gegenwärtige Bestreben der Partner an der USC, die Erinnerungen an Vergangenes für kommende Generationen aufzubereiten.
„Digitale Medien prägen nicht nur die Gegenwart gesellschaftlicher Kommunikation, sie bestimmen auch zunehmend unser Verständnis der Vergangenheit und begründen neue Formen von Geschichtsvermittlung und Opfergedenken.“ Dieser Befund von Eric Meyer gilt mit großer Sicherheit auch für die Zukunft. Ob die 3D-Holografie das kommunikative Gedächtnis ebenfalls in die Zukunft verlängern wird, ist eine Frage, auf die das 3D-Hologramm vermutlich folgendermaßen reagieren würde: „I’m sorry, I don’t know the answer to that question“.
Dabei hatte Pinchas Gutter eingangs versprochen, alle Fragen zu beantworten.
Vorzuwerfen ist ihm dies indes nicht. Die Frage wurde Pinchas Gutter im Herbst 2012 sicherlich nicht gestellt und ein wirklicher Dialog mit einem Menschen ist doch auf seine Lebenszeit beschränkt.
Bernd Körte-Braun ist Historiker und Judaist. Seit 2008 ist er am Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin für das Projekt „Zeugen der Shoah. Video-Interviews in der schulischen Bildung“ verantwortlich. Zuvor beschäftigte er sich mit der Entwicklung multi-medialer Anwendungen für den Geschichtsunterricht und war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Jüdischen Museum Berlin.