Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Dr. Haim Saadoun
„Diese Zeit war gewiß eine der schrecklichsten in meinem Leben. Wiedereinmal wurde ich zu einer Entscheidung gemahnt, gerade jetzt, da meine Erschöpfung mir jede Anstrengung so schwer werden ließ. Und diesmal war es kein innerer Kampf mehr, es wurde eine dringende und endgültige Entscheidung vor aller Öffentlichkeit gefordert. Nach der Kriegserklärung hatte eine echte Begeisterung die ansässigen Juden in die Rekrutierungsbüros geführt. Nach der Befreiung meldete sich kein einziger mehr.
Die menschlichen Lebensgemeinschaften haben einen sicheren Instinkt. Der Krieg hatte uns unsere wahre Rolle in den Auseinandersetzungen der westlichen Welt gelehrt. Jedesmal, wenn wir sie gebraucht hätten, stellten sie sich taub. […] Das alles konnte für mich nicht so einfach sein. Als mein erster Zorn gegen Vichy, den Numerus clausus und die Fremdenlegion verraucht war, begann ich wieder am Verrat Frankreichs zu zweifeln. Es wäre mir unerträglich gewesen, mich damit abzufinden. Ich hatte meinen ganzen Ehrgeiz, meine Studien, mein ganzes Leben auf das Bekenntnis zu dieser Nation gesetzt. Was mußte ich jetzt noch aus mir herausreißen? Was würde mir dann noch bleiben? Während dieser entsetzlichen Zeit begann ich zu ahnen, daß ich endgültig scheitern würde. Mußte ich also das, worauf ich zusteuerte, verleugnen, ohne doch dorthin zurückkehren zu können, woher ich kam?“ (Albert Memmi: Die Salzsäule. Leipzig 1978, S. 291f.)
So hat Albert Memmi die Zeit des Zweiten Weltkriegs beschrieben. Er suchte nach einer Alternative zur historischen Erinnerung der Juden Tunesiens, wie sie bis zur Veröffentlichung seines Buches im Jahr 1953 gültig war. […]
Die Erinnerung eines Individuums oder einer Gruppe beginnt, sobald ein bestimmtes Ereignis endet, auch wenn die passende Perspektive noch nicht gefunden worden ist. Memmi, der zusammen mit einer Gruppe von Kameraden aus einem Arbeitslager entkommen war und versehentlich Zeuge der Kriegshandlungen wurde, schreibt: „Sie waren beinahe stolz auf ihre Erlebnisse. Sie begannen schon, ihre Erinnerungen zu ordnen“ (S. 286). Der Unterschied zwischen dem individuellen Erinnern und dem kollektiven Gedächtnis war ihm bewusst: „Kein Mensch, keine Familienüberlieferung wußte von einem bewaffneten Konflikt, in den wir verwickelt gewesen wären“ (S. 247). Mit entsprechender Behutsamkeit verfasste er seine Erinnerungen an diese Zeit. Doch woraus bezog Memmi die Kraft dazu? Spiegelt das, woran er sich erinnert, das kollektive Gedächtnis der Juden von Tunesien wider? Die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses historischen Erinnerns ist höchst kompliziert. Wer einst Zeuge der Ereignisse war, verliert den Bezug zu den Ereignissen in ihrem Kontext, und der Schriftsteller oder Historiker tut sich recht schwer damit, das historische Gedächtnis zu begreifen und seine Elemente zu analysieren. Ziel dieses Aufsatzes ist es, eine Facette der Entstehung eines kollektiven historischen Gedächtnisses der tunesischen Juden für eine bestimmte Zeitspanne aufzuzeigen, für die Zeit der deutschen Besatzung. Daher sollen erst in aller Kürze die historischen Fakten geschildert werden, um dann das historische Gedächtnis, das sich bis zum Erscheinen des Buches Die Salzsäule gebildet hatte, zu untersuchen. Auch der Beitrag dieses Werks zur Ausformung des historischen Gedächtnisses wird beleuchtet, und zum Schluss soll versucht werden, die Bedeutung dieser Epoche für den Autor selbst herauszuarbeiten.
Die Zeit des Krieges kann in drei Epochen unterteilt werden: Die erste dauert von seinem Ausbruch bis zum Juni 1940; dies ist die Zeit der allgemeinen Begeisterung und der Bereitschaft, sich an die Seite Frankreichs zu stellen. Die zweite Epoche ist die der Vichy-Regierung, die Zeit der antijüdischen Gesetzgebung. Sie reicht vom Juni 1940 bis zum November 1942. Die dritte Epoche schließlich beginnt im November 1942 und endet im Mai 1943, sie steht im Zentrum unserer Untersuchung. Die Entwicklung des Krieges verläuft parallel zur immer stärkeren Bewusstwerdung Memmis, der sich immer klarer über sich selbst und seine Rolle innerhalb der jüdischen Gesellschaft wird, sowohl unter Menschen aus Europa wie auch unter denen aus Tunesien, die die Mehrheit der Tunesier ausmachten. Dies ist der Übergang von der Begeisterung zur Enttäuschung, später von der Enttäuschung hin zu seinen Versuchen, das eigene Leben nach seinen Wünschen zu gestalten. Dem jungen Erwachsenen, damals 23jährigen bietet der Krieg eine Gelegenheit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. In dieser Epoche legte er auch seinen eigenen Lebensweg fest.
Welche Erinnerung hatten die tunesischen Juden an die deutsche Besatzung? Die Erforschung dieser Frage ist in den letzten Jahren sehr wichtig geworden, und viele neue Informationen sind ans Licht gekommen. Gleichzeitig mangelte es vielen Wissenschaftlern an Material, um ein vollständiges Bild dieser komplexen Zeit zeichnen zu können. So besteht immer noch kein Zugang zu den tunesischen Archiven, und das Material, das in den französischen Archiven liegt und sich mit der deutschen Besatzung Tunesiens – und auch Frankreichs – beschäftigt, ist noch immer unter Verschluss. Sollte sich Material in den deutschen Archiven befinden, so hat es noch keinen Eingang in die verschiedenen Forschungsprojekte gefunden. Auch Zeitzeugenaussagen der Juden Tunesiens über diese Zeit existieren kaum.
Nur wenige Juden in Tunesien haben ihre Lebensgeschichten schriftlich festgehalten. Unter denjenigen tunesischen Juden, die nach Frankreich emigrierten, spielte die Beschreibung der Vergangenheit eine größere Rolle, doch stellt man verblüfft fest, dass es sich bei denjenigen, die ins Land Israel ausgewandert sind, ganz anders verhält. Es ist ein in jeder Hinsicht recht neues Phänomen – eine ganze Generation musste vergehen, bis die Juden Tunesiens über ihre Erfahrungen dort berichten wollten. Mindestens drei Tagebücher sind aus der Zeit der deutschen Besatzung Tunesiens erhalten. Dies zeigt immerhin, dass es den tunesischen Juden, die persönlich involviert waren, am Herzen lag, ihre Position und ihr Verhalten während der Besatzung zu erklären, vielleicht sogar, um dafür um Entschuldigung zu bitten. Der Rechtsanwalt Paul Guez war der Vorsitzende der Kommission zur Rekrutierung von Arbeitskräften in jener Zeit, und er veröffentlichte als Erster seine Erinnerungen („Sechs Monate Unterdrückung“), die bereits 1943 in Tunis publiziert wurden. Auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Moise Bourgei, brachte sehr schnell seine Erinnerungen heraus („Judenstern und Hakenkreuz“), nur einige Monate nach Erscheinen des Buches von Guez. Die Bücher sind sehr unterschiedlich, und auch die darin geschilderten Ereignisse sind nicht immer kongruent. Das passiert, wenn man Geschichte aufschreibt. Die Stimme des jüdischen Individuums, des einfachen Mannes, verhallte jedoch beinahe ungehört. Das Erscheinen der beiden Bücher in Tunesien fand keine Resonanz in der Öffentlichkeit. Die einflussreiche und wichtige jüdische Presse befasste sich kaum mit den Ereignissen jener Zeit.
Hier und dort tauchten zwar „Klagen der Unterdrückten“ auf, vereinzelt wurden Details über „unsere Märtyrer“, die ermordet worden waren, berichtet. Die deutsche Besatzung mit allem, was mit ihr zu tun hatte, wurde aber aus der öffentlichen Diskussion verbannt.
Dieser Vorgang der Verdrängung kann auf verschiedene Weise erklärt werden: Die deutsche Besatzung Tunesiens dauerte nur relativ kurze Zeit. Die Ereignisse hatten eine gewisse Intensität. Aber das Leiden der Juden in Europa wurde stärker thematisiert. Und schließlich standen die Juden nach dem Krieg vor ganz neuen Problemen. Manche handelten, statt über ihre Befindlichkeiten zu sprechen, zum Beispiel, indem sie nach Palästina einwanderten, vielleicht sogar illegal. Die historischen Begebenheiten blieben im Dunkeln, am Rand, außerhalb des Sichtfeldes.
Im Jahre 1953 veröffentlichte ein mit seinen 33 Jahren recht junger Mann ein Buch mit dem Titel „Die Salzsäule“. In jener Zeit stand Tunesien noch immer unter der Herrschaft Frankreichs, die 1881 begonnen hatte. Das Jahr 1953 sollte das Ende dieser Herrschaft bringen, den Übergang zu einem selbstbestimmten Staat. Für die jüdische Gemeinschaft war diese Situation zweischneidig: Sollten sie im unabhängigen Tunesien bleiben? War die Auswanderung nach Israel die bessere Alternative, oder doch der Umzug nach Frankreich? Sollten sie die tunesische Nationalbewegung unterstützen oder sich auf die Seite der französischen Anhänger des Status-Quo schlagen? Genau in diese Zeit fiel die Veröffentlichung jenes Werkes durch einen jungen Schriftsteller, der vor nicht allzu langer Zeit sein Studium in Frankreich abgeschlossen hatte, der aus einer armen Familie kam und dessen Ausbildung ohne die jüdische Gemeinde kaum möglich gewesen wäre. In seinem Werk schilderte er sein Leben in Tunesien und beschrieb das Leben der tunesischen Juden seit Beginn der französischen Besatzung. Besonders viel Raum räumte er den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung ein. Memmi wartete über 10 Jahre mit der Veröffentlichung seiner Erinnerungen aus jener Epoche, anders als die Bougei und Guez vor ihm. Außerdem griff er auf ein ganz anderes Stilmittel zurück, nämlich auf den autobiografischen Roman.
Schrieb er aus der Tiefe seines Herzens? Erschuf er eine neue Wirklichkeit? Meines Wissens nach bildet das Tagebuch Memmis aus seiner Jugendzeit die Grundlage dieses Romans. Geboren wurde er in Tunis, er gehörte zur zweiten Generation derjenigen Kinder, die in der französischen Epoche auf die Welt kamen. Er besuchte die Schule der „Alliance“ und lernte darüber hinaus im „Cheder“ [jüdischer Religionsunterricht], wie so viele andere seiner Generation. Seine Gymnasialzeit beendete er mit Auszeichnung und wurde Mitglied der zionistischen Jugendbewegung „Gedud HaKeren HaKayemet“. Nach dem Krieg zog er nach Paris und studierte an der Sorbonne, 1951 kehrte er nach Tunesien zurück und arbeitete als Lehrer an einem Gymnasium. 1953 veröffentlichte er „Die Salzsäule“, es war sein erstes Buch. Viele weitere sollten folgen, darunter einige Werke, die auf die Lebenswirklichkeit der Juden Tunesiens gegründet waren, sowie wichtige soziologische Schriften über das Verhältnis zwischen dem Formenden und dem Geformten, dem Kolonialherrscher und dem Beherrschten. In diesem Zusammenhang untersuchte er auch jüdische Fragen im Allgemeinen und das jüdische Leben unter der Kolonialherrschaft im Besonderen. In seine philosophischen Betrachtungen ließ er immer wieder persönliche Erinnerungen einfließen, die seine Thesen illustrierten und auf den Punkt brachten. In „Die Salzsäule“ konzentrierte er sich auf seinen persönlichen Blickwinkel, von dem aus er eine kollektive jüdische, vielleicht sogar eine universelle Botschaft ableitete.
Der Roman spielt gleichzeitig auf zwei Handlungsebenen und folgt zwei Perspektiven. Die erste Ebene ist die Geschichte des Heranwachsens und das Erwachsenwerden eines Kindes. Die andere Ebene, die der Umgebung, handelt von der Entwicklung des Kindes im Rahmen der Veränderungen, die sich in der jüdischen Gemeinde abspielten: Die Gasse, die Stadt, die Welt. Gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde verlässt der Autor die alte, traditionelle Weltordnung und erreicht die moderne Kultur. Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive des Kindes, das sein eigenes Leben beschreibt. Doch hat diese persönliche Geschichte auch eine allgemeingültige Botschaft – so erlaubt sich der Autor, Anmerkungen eines Erwachsenen einzufügen, eines erwachsenen Philosophen und Soziologen. Beispielsweise seine Schilderung, wie er aus eigener Entscheidung in das Arbeitslager geht, das die Deutschen in Tunesien errichtet haben, und wie er zu dieser Entscheidung kam. Dann fügt er hinzu: „Ich bin wirklich der Ansicht, daß das, was ich in der Verzweiflung jener Zeit war, optimistisch war.“ (S. 259). In diesem Zusammenhang steht der Satz des Autors als Soziologe: „Ich will mich nicht entschuldigen, ich berichte, was ich glaube berichten zu müssen.“ (S. 261).
An anderer Stelle, in seinem Buch „Die Befreiung des Juden“, gesteht Memmi, früher ein Tagebuch geführt zu haben: „Meine besonderen Eigenschaften als Ghettobewohner, die mir solche Angst eingejagt hatten, erschienen mir plötzlich lächerlich: „Miniaturprobleme“! So schrieb ich es in mein Tagebuch. „Jude sein; in seiner Hauptsache während Unterdrückung und Zwang“ (Tel Aviv: Am Oved, 1976, S. 13). Ja, Memmi zitiert aus seinem eigenen Tagebuch, um seine Ideen zu illustrieren. Das Tagebuch dient ihm als Quelle für sein Werk; als Hülle für die Beschreibung der deutschen Besatzung. In der Nacht der ersten Bombardierungen schreibt er: „Ich glaube, an jenem Abend führte ich mein Tagebuch wie heute Abend.“ (S. 248). „Heute Abend“ bezieht sich auf die Zeit, als er „Die Salzsäule“ schrieb; „jener Abend“ ist der Abend der Bombardierungen. So entsteht eine Verbindung zwischen dem Beginn der 1950er Jahre, als er das Buch schrieb, und dieser Nacht der ersten Bombardierungen. Sobald er verstanden hatte, was die deutsche Besatzung Tunesiens bedeutete, machte er sich daran, für sich selbst eine Lösung zu finden, und sein Tagebuch war, neben anderen Dingen, ein wichtiges Medium dafür. „Als mir die wahnwitzige Bestie im Nacken saß, dachte ich zuerst an meine eigene Rettung, und sofort fielen mir die Beziehungen zu meinen französischen Bewunderern ein. Man glaubt nicht so ohne weiteres, daß einen die eigenen Götter verraten.
Vorher jedoch brachte ich meine Papiere in Ordnung. “Ein paar politisch angehauchte Bücher und Broschüren ließ ich in der Waschküche verschwinden. In Henrys Garten vergrub ich andächtig ein paar fast fertige Gedichte und zahlreiche Entwürfe. Ich wußte nicht genau, was ich am meisten fürchtete, die Bombenangriffe, die neugierigen Hände der Kinder oder die deutschen Nachforschungen.“ (S. 252).
Als er sein Tagebuch versteckt hatte, endete für ihn eine Epoche, eine neue Zeit bricht an. Auch als er in Erwägung zieht, eine Gruppe von Aufständischen gegen die Deutschen ins Leben zu rufen, wird der Unterschied zwischen der Niederschrift der Tagebücher und der des Buches spürbar. „Diese Bilanz, die von einer unseligen Einfachheit ist, ziehe ich erst jetzt. Damals hatte ich zum Glück keine Vorstellung, wie groß unsere Verlassenheit war.“ (S. 251). Das „jetzt“ funktioniert hier wie oben „heute Abend“. „Damals“ entspricht „jenem Abend“. Auch im Lager hielt er seine Erlebnisse schriftlich fest: „Ich habe regelmäßig Tagebuch geführt, es füllte drei Hefte, und doch, wenn ich diese Zeit zusammenfassen wollte, es wäre mir nicht möglich.“ (S. 271). Als er aus dem Lager geflohen und sein Leben wieder in geordnete Bahnen gelenkt hatte, kehrte er auch wieder zum Tagebuchschreiben zurück, doch gleichzeitig war er Zeuge einer tiefgreifenden, durch den Krieg ausgelösten Veränderung: „Seit mehreren Wochen hatten die Umstände es mir nicht erlaubt, mein Tagebuch zu führen. Jetzt nahm ich diese Gewohnheit mit peinlicher Sorgfalt wieder auf. Aber dabei änderte sich mein Blickwinkel. Vorher war er beinahe metaphysisch gewesen, unpersönlich, leidenschaftlich um die Welt und ihr Verständnis kreisend. Jetzt wurde ich der einzige Mittelpunkt, um den sich alles drehte. Wer bin ich im Grunde? Wohin hat dieser lange Kampf, den ich seit der Sackgasse kämpfe, geführt?“ (S. 290). Die Niederschrift, die mit „heute Abend“ begonnen hatte, beendet Memmi nachdenklich, gepeinigt von schrecklichen Erkenntnissen und einer Identitätskrise. Auch das historische Gedächtnis Memmis, so behaupte ich, stützt sich in erster Linie auf seine eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die gewissen literarischen Veränderungen unterzogen wurden. Daneben liegen seinem Gedächtnis natürlich Bruchstücke persönlicher Erinnerungen zugrunde, sowohl aus der Zeit, als er das Buch verfasste, als auch über die Dinge, die er bei den „Chronisten“ (S. 248) gelesen hatte, also bei den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Er verspürte einen Drang, mit ihnen zu diskutieren und zu streiten. Das Tagebuch kann als wichtige historische Quelle angesehen werden, mit deren Hilfe man den Gemütszustand dieses jungen Mannes unter dem Vichy-Regime und der deutschen Besatzung verstehen kann. So wird aus dem persönlichen Erleben eines Kindes hier die Geschichte einer großen jüdischen Gemeinde, vielleicht sogar eine allgemeine Geschichte der Juden. Der Roman sollte Zeugnis ablegen und sowohl das Geschehene festhalten als auch den Nachgeborenen davon berichten.
Was brachte Memmi dazu, seine Worte zu veröffentlichen? Scheinbar war es ihm zu einem für die Juden Tunesiens schicksalshaften Moment ein Anliegen, sein Leben von neuem zu bewerten. Das galt insbesondere für die Zeit des Krieges, die im Fokus seines Schreibens stand. „Ich kann diese Behauptung wagen, da ich Grund genug zur Klage über unsere Bürger habe. Da war das Getto, leicht mit ein paar Mann von der Außenwelt abzuschneiden und zu umstellen, ungeschützt nach allen Seiten. Die Deutschen konnten dort plündern, vergewaltigen, töten, wie sie wollten. Denen, die das heute nicht wahrhaben wollen, war es damals gelungen, sich in einem Haus im Europäerviertel zu verstecken. Konnte man das ganze Getto verstecken?“ (S. 256). Seine Kritik an den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde fiel noch schärfer und schmerzhafter aus: „In den Büros merkte ich, daß die Bürger, wenn sie sich um die Organisation des Ganzen kümmerten, es vor allem deshalb taten, weil sie sich und ihre Kinder retten wollten. Die Söhne der Reichen hielten alle Stellen beim Hilfsdienst besetzt. […] Man hatte auch beschlossen, gewisse Klassen von Leuten zu schonen, zum Beispiel die Intellektuellen. […] „Wir haben die Elite der Gemeinde retten wollen“, erklärte allen Ernstes ein Älterer. […] Weil sie die sehr hohen Kosten für die Lager trugen, schien es den Bürgern nur recht, daß ihre Söhne eine Sonderstellung einnahmen. Ich dagegen vergaß nicht, daß ich zu den Armen gehörte, und ließ mich auf keine Spitzfindigkeiten ein.“ (S. 258f.). Auch für den Held von Memmis Geschichte ist der persönliche Angriff auf die Elite der Juden Tunesiens während der deutschen Besatzung ein bedeutungsvoller Schritt auf dem Weg der Selbsterkenntnis.
Durch den Krieg kann der Heranwachsende eine Bilanz seines bisherigen Lebens ziehen. Damit wird er in die Lage versetzt, sich selbst eine neue Welt zu erschaffen. Memmis Selbstfindungsprozess ist in drei Stufen unterteilt. Die erste davon könnte man als Epoche des Erlebens klassifizieren. „Als mir die wahnwitzige Bestie im Nacken saß, dachte ich zuerst an meine eigene Rettung“ (S. 252).
„Alles, was ich tat, kam aus einer plötzlichen Eingebung.“ (S. 248). Diese Reaktion in ihrer Verbitterung, ihrem Zorn – auf die Franzosen, auf die Welt und auf sich selbst – lässt ihn an Rache denken. Sofort setzt er einen Kündigungsbrief an den Direktor der Schule, an der er gerade unterrichtet, auf. „Als ich das Büro verließ, fühlte ich mich beinahe quitt mit den Verfolgern von Vichy: Ich hatte es ihnen heimgezahlt.“ (S. 249). Mit der wahnwitzigen Bestie im Nacken kann er nur darüber nachdenken, wie er sich selbst retten soll […]. „Hatte ich recht, hatte ich unrecht, mich allein aus der Affäre zu ziehen? Ich schadete niemandem und konnte für niemand etwas tun. Außerdem könnte ich das Arbeitslager bei meinem Gesundheitszustand nicht überstehen.“ (S. 254).
Doch durch den Zorn, die Wut, die Verbitterung und die Frustration lässt sich keine neue Welt erschaffen. Dazu, um also die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, müssen andere Mittel gewählt werden. Der Held des Buches beschließt bei Kriegsausbruch, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Dies ist die zweite Stufe der Selbsterkenntnis, nämlich das Erkennen der eigenen Situation und die Veränderung derselben. Als erstes beschloss er, seine Stelle in der Schule zu kündigen. Als nächstes entschied er sich, seine Aufgaben in der jüdischen Gemeinde aufzugeben und ins Arbeitslager zu gehen. Dies ist eine sehr schwierige persönliche Entscheidung; sie birgt Gefahren, in physischer Hinsicht wird er dort sehr leiden, vor allem, weil er selbst nicht gesund ist. Außerdem kann sie völlig falsch verstanden werden. Diese Entscheidung fällt er, nachdem er zwei Dinge erkannt hat, die der Krieg mit sich brachte: Erstens den Verrat der Franzosen, die ihr wahres Gesicht – oder ihre Fratze – endlich zeigten. Es ist nicht leicht, sich mit dem Scheitern der Träume abzufinden. Durch diesen Verrat steht unser Held nun körperlich und geistig ganz allein da. Frankreich wird ihm keinen Schutz gewähren. Aber das ist auch eine intellektuelle Krise, denn Frankreich ist die Nation der Werte und der Kultur. Die Juden Tunesiens hatten diese Kultur bewundert. Die zweite Tatsache, die ihn zu seiner Entscheidung bewog, ist die Bestechlichkeit der jüdischen Elite unter der deutschen Herrschaft. Einen derart offensichtlichen Mangel an Gerechtigkeit konnte er nicht ertragen. Das Gewissen von Benillusch, dem literarischen Ich von Albert Memmi, wird immer schlechter, je mehr er über das Leben in den Arbeitslagern in Erfahrung bringt und hört, wie manche Familien täglich in den Büros des Gemeinderates vorsprechen. So seien Frauen in die Büros gestürmt „schrien den längst machtlosen Leitern Beleidigungen entgegen, spuckten ihnen ins Gesicht, wälzten sich auf dem Boden. Eine von ihnen warf dem Gemeindevorsteher, um ihm begreiflich zu machen, was ihr einziger Sohn zu leiden hatte, den Inhalt einer Schachtel mit Wanzen ins Gesicht. Eine andere, deren Sohn ermordet und halb verbrannt worden war, versuchte, eines der Büros anzustecken. Was sollte man tun, mein Gott, was sollte man tun? Für all diese Männer, die in den Lagern litten und starben, für diese halb wahnsinnigen Frauen?“ (S. 258). Und dann wurde Alexandre Benillusch direkt angegriffen: „Eine von ihnen hatte einen Anfall von Hysterie, und ich ihr, von dem Eindruck überwältigt, ungeschickt half, sich wieder zu beruhigen, überschüttete sie mich mit Verwünschungen, fragte mich, was ich denn hier tue, ich sei doch so alt wie ihr Sohn, warum sich ihr Sohn im Lager befinde und ich hier auf meinem Sessel.“ (S. 258). Das Ergebnis war eindeutig: „Ich fühlte, daß ich nicht mehr das Recht hatte, mich allein dieser Katastrophe zu entziehen.“ (S. 258). Bei der Beschreibung des Krieges konzentriert er sich anfangs ganz auf seine eigene Situation. Er fühlt sich der Gruppe zugehörig, die er ignorieren wollte, von der er sich all die Jahre fernhielt. Und dann verursachte der Krieg eine erneute Solidarität mit dieser Gruppe: „Ich habe um meine Entlassung gebeten, weil ich es unerträglich fand, zu bleiben. Schmerzlich und endgültig entdeckte ich die Existenz der anderen. Gleichzeitig entdeckte ich, daß ich mich niemals nur mit meinem eigenen Glück zufriedengeben würde. Ich war blind genug zu glauben, daß ich irgend etwas für sie tun könne.“ (S. 259).
Ab hier fällt Benillusch weitere Entscheidungen. Hier beginnt der dritte Abschnitt, in dem der junge Heranwachsende sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Er könnte zwar den Dingen im Lager ihren Lauf lassen, aber er wird aktiv. Obwohl er die Gebete und ihren Ablauf vergessen hat, organisiert er einen Gottesdienst, er initiiert Lerngruppen, obwohl sich seine Sprache sehr von der der meisten anderen Insassen unterscheidet. Er beruft eine Versammlung ein, in deren Verlauf „HaTikvah“ gesungen wird, obwohl er selbst gar kein Zionist ist. Was zählt, ist das Handeln, die Tat. „Nach und nach kam mir zum Bewußtsein, wie sinnlos und verblendet es war, weiter im Lager zu bleiben, und langsam reifte in mir der Entschluß zur Flucht.“ (S. 271). Einst hatte er beschlossen, ins Lager zu gehen, nun beschließt er, es zu verlassen. Allerdings ist hier der Prozess der Selbsterkenntnis tiefergehend. Das zentrale Thema der Predigt, die er während der Versammlung im Lager gehalten hatte, war die Würde: „Ich gründete meine Predigt auf die Würde, glaube ich, und auf die notwendige Pflicht, sie zu wahren. Und ich brachte Hygiene und Würde miteinander in Zusammenhang.“ (S. 266). Parallel zum Erkennen der eigenen Würde zeigt er auch den Prozess auf, den die Gemeinde auf dem Weg der Selbsterkenntnis durchmacht.
Die Zeit des Krieges ist die Umkehrung der Modernisierung, wie sie die jüdische Gemeinde erlebt hatte. Die Entwicklung der Umgebung verlief, wie wir schon sagten, von der Gasse in die Stadt, von der Stadt in die Welt. Die Richtung, die die Juden Tunesiens eingeschlagen hatte, sollte ihren kulturellen und gesellschaftlichen Horizont erweitern. Die Taten Benilluschs sind das Gegenteil davon. Mit Ausbruch des Krieges wendet er sich hilfesuchend an die Franzosen, die ihn, wie bereits beschrieben, enttäuschten. Erst dann wandte er sich an die jüdische Gemeinde, und deren Leitung enttäuschte ihn mindestens so sehr wie die Franzosen. Das Lager, das Zusammenleben mit seinen Stammesgenossen beschränkten seine physische und kulturelle Welt. Für ihn ist der Krieg der Übergang von einer universalen zu einer partikularen Epoche, der Zeit der Nationalität, vielleicht sogar des Zionismus – das Gegenteil des Prozesses, der vor dem Krieg begonnen hatte, der aus der Partikularität, nämlich der Religion und der Nation, hin zu etwas Universalem führen sollte.
Am deutlichsten wird der Einfluss des Krieges auf Alexandre Benillusch in der heftigen Identitätskrise des Heranwachsenden. Diese Identitätskrise lässt ihn dann auch seine eigenen Entscheidungen treffen und in die Tat umsetzen: „Ich hätte alles selbst wiederentdecken, alles selbst wiederaufbauen und alle Lehrmeinungen nachprüfen müssen. Aber läßt sich etwas aufbauen mit Zorn und Aufruhr, mit Ärger und Neid, mit Verwirrung und Schande?[…] Ich fühlte mich nicht wohl in meinem Geburtsland und kenne kein anderes, ich habe eine geborgte Kultur und eine Muttersprache, mit der sich kaum etwas ausdrücken läßt, ich habe keinen Glauben, keine Religion, keine Traditionen, und ich schäme mich dessen, was davon noch tief in mir zurückgeblieben ist. […] Ich gehöre zur französischen Kultur, bin aber Tunesier. […] Ich bin Tunesier, aber Jude, in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht also ein Ausgestoßener, da ich die Landessprache mit einem eigenen Akzent spreche, der in der Betonung nur schlecht dem Gefühlston der Mohammedaner angepaßt ist; Jude zwar, der aber mit der jüdischen Religion und dem Getto gebrochen hat, der die jüdische Kultur nicht kennt, zugleich aber das nicht mehr gläubige jüdische Bürgertum haßt; […]“ (S. 308).
Sechs Monate lang litten die Juden Tunesiens unerträglich unter der deutschen Besatzung. Diese Tatsache wurde für die Juden aus Tunesien, allgemein bekannte Persönlichkeiten und andere ein ausreichender Grund für die Behauptung, dass die Shoah auch das Schicksal der Juden Tunesiens bestimmte, und von dort war es nicht mehr weit zu der Verallgemeinerung, dass sie das Schicksal der Juden in den islamischen Ländern bestimmte. Meiner bescheidenen Meinung nach entspricht das nicht der Wahrheit, das Leiden der Juden in den islamischen Ländern im Allgemeinen und speziell das Leiden der Juden in Tunesien ist nicht vergleichbar mit dem, was die Juden Europas während der Shoah erlitten. Es besteht keine Verbindung zwischen dem Leiden der Juden Tunesiens und dem Versuch, daraus politisch-gesellschaftliches Kapital zu schlagen. Die Juden Tunesiens selbst fanden nicht, dass sie Opfer der Shoah der europäischen Juden waren, weder zu jener Zeit, noch rückblickend in einer historischen Perspektive.
Der Autor musste scheinbar lange nach einem guten Titel für sein Buch suchen: „Ich wunderte mich, daß ich keine Furcht habe; aber die Gewöhnung kann an die Stelle des Mutes treten, und in Wahrheit war ich schon lange dieser Entdeckung auf der Spur: daß ich sterbe, weil ich mich nach mir selbst umgewandt habe. Es ist verboten, sich selbst anzublicken, und ich habe mich schließlich selbst erkannt. Kann ich noch weiterleben über diesen Blick hinaus, den Blick von Lots Weib, die Gott in eine Säule verwandelte?“ (S. 311).
Und diesen Titel hat der Autor nicht zufällig ausgewählt. Es stellt sich nur die Frage, ob er die Dinge richtig versteht und so niederschreibt, wie er sie erlebte.
Dr. Haim Saadoun hat über den Zionismus in Tunesien zwischen 1918 und 1948 promoviert. Er ist Dozent an der Open University of Israel und am Institut für zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem. Haim Saadoun ist außerdem Direktor des Centers zur Dokumentation und Erforschung der Juden Nordafrikas während des 2. Weltkrieges.
Übersetzung eines Aufsatzes, der in der Zeitschrift „Bischwil Hasikaron“ [Zur Erinnerung], Nr. 25, Oktober/November 1997 erschienen ist.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Alice Meroz
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