Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
Avraham Hatal (Robert Attal)
November 1942. Ich war 15 Jahre alt. Auf dem Weg ins Gymnasium musste ich die Straßenbahn bis zum Frankreich-Tor nehmen, und von dort ging es mit einem Trolleybus weiter in die Schule. Es dauerte immer einige Minuten, bis der Trolleybus kam, und als ich wartete, blieb mein Blick plötzlich an etwas Merkwürdigem hängen: Ein bewaffneter Soldat stand vor der britischen Botschaft, die sich am Frankreich-Tor befand, Wache, und trug eine Uniform, wie ich sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Dieses Bild verfolgte mich den ganzen Weg – niemals zuvor hatte ich einen Soldaten vor der britischen Botschaft gesehen, und ich verstand nicht, was er dort zu tun hatte. Zuhause erzählte ich meinem Vater davon. Noch am selben Abend brodelten Gerüchte in der Stadt: Deutsche Truppen seien in der Stadt gelandet und hätten einige Schlüsselpositionen erobert, ebenso einige ausländische Botschaften. Ein oder zwei Nächte später schreckte die gesamte Bevölkerung vom schrecklichen Klang der Sirenen und von einer heftigen Explosion inmitten der Stadt aus dem Schlaf. Ob es bei der Explosion Verletzte gab, weiß ich nicht, doch danach gab es weitere Bombardierungen, die nicht weit vom Haus meiner Tante mütterlicherseits niedergingen. Ihren damals 12jährigen Sohn hat das schrecklich mitgenommen, bis zum Morgen wurde er von Krämpfen geschüttelt. Früh am nächsten Morgen eilte meine verstörte Tante zu meinem Vater, um mit ihm über ihre schlimmen Befürchtungen zu sprechen. Sofort bot mein Vater ihr an, dass sie bei uns wohnen könnten, sie und ihre vier Kinder, denn sie war Witwe. Hier sei angemerkt, dass unsere Familie schon aus meinen Eltern und insgesamt sechs Kindern bestand, sowie aus einer Tante meines Vaters im fortgeschrittenen Alter und einer weiteren Verwandten meiner Mutter, die wir „Tante Julie“ nannten. Sie war einige Monate zuvor aus Frankreich zu uns gekommen…(ich werde sie in meinen Erinnerungen noch mehrfach erwähnen). Alles in allem wohnten also 15 Menschen bei uns zuhause, und mein Vater war für sie alle verantwortlich.
Im Gebäude neben uns wohnten Franzosen, Italiener, Malteser und Juden. Unsere Wohnung hatte drei Zimmer und befand sich in der zweiten Etage. Das Viertel war bescheiden und grenzte an ein Gebiet mit kleinen Handwerksbetrieben und Werkstätten.
Doch wir waren nun mitten im Krieg. Unter unseren Augen nahmen die deutschen Soldaten in großer Eile wichtige Schlüsselstellungen in der Stadt ein. Luxushotels wurden geschlossen, Juden aus ihren Villen und Häusern vertrieben, was immer wieder Anlass für sorgenvolle Gespräche bot. Einige Tage später begannen die Alliierten mit der Bombardierung von Tunis. Der heftige Beschuss dauerte Tag und Nacht an. Die deutsche Armee stellte ihre Abwehrkanonen an verschiedenen Hauptverkehrsstraßen in der Stadt auf, und die Sirenen wechselten sich mit den Salven aus den Kanonen ab. Am nächsten Morgen waren die Mauern in der Stadt mit Ankündigungen in drei Sprachen beklebt: Französisch, Italienisch und Arabisch. Zu lesen war dort, dass „das Weltjudentum“ die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trage und ebenso für die Opfer, die die Bombardierungen der Alliierten gefordert hatten.
Wir hatten weder ein Radio noch Zeitungen, und Nachrichten verbreiteten sich von Mund zu Mund: Morgens fragten wir uns, wo bombardiert worden war, denn den Lärm der Explosionen hatten wir nachts gehört, und nachts versuchten wir herauszufinden, welche Stadtviertel getroffen worden waren und ob und wie viele Verletzte es gegeben hatte.
Nach kurzer Zeit ergriffen Angst und Sorge die jüdische Gemeinde. Um mich herum hörte ich immer wieder von Juden, die von dem deutschen Machthaber zur Arbeit gezwungen wurden. Und von der Entführung junger Juden, mit denen das Soll erreicht werden sollte, das die deutschen Besatzer festgelegt hatten und vom jüdischen Büro für die Bereitstellung von Arbeitskräften, das sich im Gebäude der Alliance Universelle Israélite befand, eingehalten werden musste. Das Soll konnte aber nie erfüllt werden. Unter diesen Umständen beschloss mein Vater, dass es sicherer sei, das Haus nicht mehr zu verlassen. Wir hofften, dass bald bessere Zeiten anbrechen würden.
Doch es kam immer schlimmer: Es gab eine nächtliche Ausgangssperre, der Strom fiel dauernd aus, es wurde bombardiert und es gab keine Nachrichten (oder richtiger – es gab falsche, sich widersprechende Nachrichten). Schließlich traf uns ein weiterer Schlag: Es mangelte an Grundnahrungsmitteln, und das Brot wurde rationiert. Brot war die Grundlage allen tunesischen Essens. Besonders wir sechs Kinder litten schrecklich darunter. Die Bombardierungen wurden immer stärker, Tag und Nacht gingen sie auf uns nieder. Die amerikanischen „fliegenden Festungen“ warfen ihre Bomben vor allem um den Hafen und den Flughafen herum ab, doch wegen der Abwehrraketen der Deutschen, die überall in der Stadt verteilt waren, mussten die Flugzeuge der Alliierten sich beeilen und warfen ihre Fracht schnell, oftmals weit entfernt vom eigentlichen Ziel ab. Daher wurden viele Zivilisten getroffen.
Nachts wurde mehr bombardiert als tagsüber. Wenn wir die Luftschutzsirene hörten, gingen wir schnell ins Erdgeschoss unseres Gebäudes, in die Wohnung einer Nachbarin: Diese kleine Wohnung war unser einziger Schutzraum, und sie musste uns alle dort beherbergen.
Im Halbdunkel hockten wir dort in dem einzigen Zimmer. Der Lärm der Flugzeuge, die direkt über unsere Köpfe hinweg flogen, erschütterte uns – wortwörtlich – , ebenso wie der Lärm der Abwehrraketen und die Einschläge der Bomben. Ich weiß nicht, was wir alle machten, während wir darauf warteten, dass der Angriff vorüberging, jeder betete wohl in seiner Sprache. Im dürftigen Licht einer Kerze las ich Psalmen. Einmal beeilten wir uns so sehr, nach unten zu kommen, dass wir unsere Wohnungsschlüssel vergaßen. Seitdem hatte ich mir angewöhnt, mich beim Ertönen der Sirene eilig anzuziehen, meinen zweijährigen Bruder hochzunehmen und dann zu überprüfen, dass ich in meine Jackentasche Taschentücher und die Schlüssel gesteckt hatte. So kam ich immer als Erster bei unserer Nachbarin im Erdgeschoss an. Manchmal hatte ich gleich mehrmals in einer Nacht diese Übung zu bewältigen. Einmal hatten wir sogar vergessen, einen unserer Cousins zu wecken – friedlich verschlief er den ganzen Luftangriff.
Als die Luftangriffe immer häufiger und immer stärker wurden, schlug unsere Nachbarin meinem Vater vor, dass wir unsere Wohnung verlassen und mit ihr zusammen zu ihren Verwandten ziehen sollten – nach Hammam-Lif, das etwa 15 Kilometer entfernt vom südlichen Ende von Tunis lag. Die kleine Stadt wurde damals gerade eine „offene Stadt“, denn der Bey und seine Familie [gemeint ist die tunesische Königsfamilie] hatten dort ihren Winterpalast bezogen. Mein Vater, der inzwischen von seinen Sorgen und der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, ganz zerfressen war, hielt das für eine gute Idee.
Bereits am nächsten Tag zogen wir nach Hammam-Lif. Dazu mussten wir erst den Bahnhof erreichen und dann einen Zug nehmen, der uns ans Ziel unserer Träume bringen sollte.
Wir waren so viele, dass wir in zwei Gruppen zum Bahnhof fahren mussten. Von einem Araber mietete mein Vater einen Pferdewagen, und ich übernahm die Organisation dieser kleinen Auswanderung. Wir kamen durch die verlassensten Straßen, und nach etwa einer Stunde erreichte ich den Treffpunkt, wo ich auf meine Eltern und den Rest der Familie wartete. Als sie ankamen, erzählten sie, dass der Wagen seine Route geändert habe und durch die Hauptstraßen der Stadt gefahren sei, und meine Mutter, die eine auffällige Erscheinung war, hatte Angst, erkannt zu werden. Sie schämte sich, zuoberst auf einem mit Gegenständen beladenen Pferdewagen zu sitzen. Also setzte sie den Weg mit verhülltem Gesicht fort, worüber wir Kinder schrecklich lachen mussten. Und dann mussten wir alle über eine Stunde auf den Güterzug warten, der uns mitnehmen sollte.
Bei Einbruch der Nacht erreichten wir Hammam-Lif. Die betagten Eltern unserer Nachbarin empfingen uns freundlich in ihrer Wohnung, die drei Zimmer hatte und sich im Erdgeschoss befand. Alle drängten sich dort zusammen, unsere Familie, unsere Gastgeber und weitere Verwandte und Bekannte von ihnen.
Morgens wachten wir in einer friedlichen Kleinstadt auf, deren Klima unglaublich angenehm war. Es gab genug zu Essen, und meinem Vater wurden die Finanzen des ganzen Hausstandes übertragen. Meine Tante übernahm die Herrschaft in der Küche, während mein Vater zum Einkaufen auf den Markt geschickt wurde.
Eines Tages stürmte ein junger Araber ins Haus, gefolgt von einem deutschen Offizier. Er zeigte auf uns und rief dem Offizier auf Deutsch zu: „Juden! Juden!“ Der Deutsche schien sich zu wundern, was er in einer Gruppe von Kindern und alten Leuten zu suchen hatte. Eilig kam meine Tante aus der Küche, in einer Hand einen Topf voller Fleischbällchen, und lud ihn ein: „Essen Sie, greifen Sie zu!“ Das Essen rührte der Deutsche nicht an, mit leeren Händen zog er davon.
Morgens gingen mein Bruder, mein Cousin und ich zum Strand, wo wir mit den arabischen Kindern stritten, die Steine nach uns warfen. Wir verteidigten uns, indem wir eines von ihnen fingen und es ordentlich verprügelten. Sobald es anfing zu schreien, verschwanden seine Kumpanen, in den Händen ihre Sandalen und Schuhe.
Nach drei Wochen in Hammam-Lif beschloss mein Vater, dass es an der Zeit sei, nach Tunis zurückzukehren. Daran änderten auch die üblen Neuigkeiten nichts, die uns inzwischen erreicht hatten: Es gab Entführungen, Bombardierungen und Mangel an verschiedenen Dingen, außerdem gab es Gerüchte, dass verlassene Wohnungen von Flüchtlingen aufgebrochen wurden, die dann entweder dort wohnten oder sie plünderten. Anfang Januar [1943] kehrten wir also in unsere Wohnung in Tunis zurück. Wir mussten uns ganz von neuem zurechtfinden. Nahrungsmittel wurden immer knapper.
In unser Haus zog nun auch der Onkel meiner Mutter mit seiner Frau. Er war eigentlich Techniker bei der Eisenbahngesellschaft. Häufig konnte er nicht nach Hause kommen, da er außerhalb der Stadt arbeitete. Eines Tages arbeitete er am Bahnhof von Sus. Die Stadt war leer, die Einwohner waren vor den Bombardierungen geflüchtet. Als Luftalarm ertönte, versteckte er sich in einem offenstehenden Büro. Niemand war dort, und zu seiner Verblüffung entdeckte er auf einem Tisch ein Paket mit Wertmarken für Brot. Er nahm es an sich und gab uns das ganze Paket, als er nach Tunis zurückkehrte. Wir haben uns sehr gefreut, denn wir litten schrecklich unter den Einschränkungen. Jedes Kind schnitt sein Brot für sich selbst, und wem es gelang, die meisten Scheiben aus seinem Stück Brot zu schneiden, der gewann einen „Kuss“.
Das Klima von Tunis ist bekanntermaßen der Gesundheit nicht besonders zuträglich. Während des Krieges waren die Hygienebedingungen grauenhaft. So verbreitete sich die Krätze, von uns kurz „Juckdich“ genannt. Die ganze Familie steckte sich an und alle mussten mit Schwefel behandelt werden, und zwar in einer öffentlichen Dusche, die die Stadtverwaltung den Anwohnern zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellt hatte.
Nun ist es an der Zeit, ein wenig von „Tante Julie“ zu erzählen. Diese Tante war sehr wichtig, insbesondere für mich, und zwar sowohl wegen ihrer liebevollen Art als auch wegen ihrer Großzügigkeit. In Bizerte wurde sie mit 17 oder 18 Jahren mit einem reichen Händler verheiratet. Weil sie weder lesen noch schreiben konnte, brachte ihr Mann einen Privatlehrer ins Haus, der ihr beibrachte, auf Französisch zu lesen und zu schreiben. Nach einigen Jahren verließ das Paar Bizerte und zog nach Frankreich. In Le Havre eröffneten sie ein Geschäft für exotische Früchte. Kinder hatten sie keine. Als die Vichy-Gesetze erlassen wurden, begriff der Mann unserer „Tante“, dass sein Geld auf seinem Bankkonto eingefroren worden war und er es nicht mehr abheben konnte. Er starb an gebrochenem Herzen. Im Sommer 1942 gelang es „Tante“ Julie, Vichy-Frankreich zu verlassen, und sie kam zu uns nach Tunis. Meine Eltern hatte sie in Le Havre kennengelernt und sie hatten sich sofort gut verstanden. Sie schätzten sie sehr. Als sie nach Tunis kam, wurde ich ihr Fremdenführer bei ihren vielen Besuchen. Dabei konnte ich viel lernen, denn sie besuchte verschiedene Menschen, denen sie Nachrichten aus dem besetzten Frankreich überbrachte. Niemand von ihnen war Jude.
Während der ganzen Nazi-Besetzung wohnte „Tante“ Julie bei uns. Sie war ein kulturell sehr interessierter Mensch, und ihr Französisch war hervorragend, dank der klassischen Werke und Romane, die sie gelesen hatte. Für uns sang sie Lieder aus der Zeit vor dem Krieg, und sie erzählte Geschichten aus Paris, wie es zu Beginn der Besatzung dort gewesen war. Während unserer Zeit in Hammam-Lif versammelte sie abends die Erwachsenen um sich und erzählte ihnen auf Judeo-Arabisch Geschichten, die sie in französischer Sprache gelesen hatte. Bei diesen Geschichten spitzte ich die Ohren immer ganz besonders.
Nach unserer Rückkehr nach Tunis wurde uns wieder bewusst, dass Krieg war, und dass wir dasselbe erdulden und erleiden mussten wie alle anderen Einwohner der Stadt. Luftangriffe, Einschränkung der Nahrungsmittel, Stromausfälle und vieles mehr… glücklicherweise war der Winter nicht besonders streng, es regnete nur leicht und die Temperaturen waren verhältnismäßig mild. […] Sofort fiel mir die Aufgabe zu, den ganzen Haushalt mit Lebensmitteln zu versorgen, und das war nicht einfach. Jeden Morgen zwischen drei und vier kam Tante Julie an mein Bett und weckte mich mit den Worten: „Robert, Zeit zum Aufstehen!“ Mit einem Satz sprang ich aus meinem Bett. Während ich mich fertigmachte, schnitt Tante Julie zwei dünne Scheiben Brot, tunkte sie in Olivenöl, streute ein wenig Zucker über sie, wickelte sie in Zeitungspapier und gab mir zwei Körbe: Und so dauerte es nur wenige Minuten, und schon war ich bereit loszugehen.
Der städtische Zentralmarkt lag etwa einen Kilometer von unserem Haus entfernt. Zwar war das Brot rationiert, aber Gemüse konnte man – in beschränkten Mengen – nach den eigenen Vorlieben einkaufen. So kam es mir gar nicht in den Sinn, auf einem Markt einzukaufen, der zwar näher an unserer Wohnung lag, wo aber wahrscheinlich die Auswahl viel kleiner gewesen wäre. Trotz der Entfernung stapfte ich also durch die Dunkelheit zum städtischen Zentralmarkt, um einen abwechslungsreichen und großzügigen Einkauf nach Hause zu bringen. Anfangs kamen mir gar keine Verkehrsmittel in den Sinn, also ging ich zu Fuß. Nach einigen Tagen aber fiel mir auf, dass um etwa die gleiche Zeit ein Wagen mit zwei Pferden mein Viertel verließ, manchmal sogar zwei Wagen. Sie fuhren in die Stadt und suchten Fracht, egal welcher Art, die sie gegen Geld transportieren konnten. Hörte ich die herangaloppierenden Pferde, drückte ich mich an die nächstgelegene Wand und sprang dann auf den Wagen auf, wenn er an mir vorbeifuhr. So gewann ich einige Hundert Meter. Leider waren die Straßen um diese Zeit so leer, dass mancher Passant mich entdeckte, wenn ich hinten auf dem Wagen stand, und nicht selten rief der dem Kutscher auf Arabisch zu „Hinter Dir!“, woraufhin dieser mich dann entdeckte und mit Hilfe seiner Peitsche versuchte, mich loszuwerden. Dann sprang ich vom Wagen und ging zu Fuß weiter. Um vier Uhr morgens stand ich vor den Toren des Marktes.
Zwei oder drei Menschen warteten dort immer schon. Wenn dann um sieben die Türen geöffnet wurden, hatten sich meist schon um die Hundert Menschen am Eingang angestellt. Wir wurden in kleinen Gruppen von fünf oder sechs Personen eingelassen, langsam und geräuschvoll rückte die Schlange vorwärts. Sobald ich auf dem Markt war, versuchte ich, so viel wie möglich zu ergattern. Gegen Mittag waren meine Körbe dann zur Hälfte voll, und müde und hungrig kehrte ich nach Hause zurück. So verging Tag um Tag. Zwei- oder dreimal in der Woche ging ich nachmittags los und stand an, um Nahrungsmittel im Lebensmittelgeschäft zu bekommen, oder getrocknete Kichererbsen oder Bohnen im arabischen Viertel. Beides wurde in kleinen Behältern auf der Straße verkauft.
Nur ein einziges Mal hatte ich schreckliche Angst. Das war während der Bombenangriffe vom 2. März 1943. Mitten am Tag sah ich die „fliegenden Festungen“ der Amerikaner, wie sie über dem Stadtzentrum Bomben abwarfen, und die Abwehrraketen der Deutschen, die wild um sich feuerten. Ich betete inständig, dass sie ihre zerstörerische Fracht so schnell wie möglich abwerfen würden. Abends hörten wir dann von enormen Schäden und sehr vielen Toten.
Das Pessachfest kam näher. Der Erwerb von Mazzot war eine beinahe unlösbare Aufgabe. Stundenlang wartete ich vor der Mazzot-Fabrik, umgeben von Ungeduld und Chaos, und alles für einige Kartons ungesäuerter Brote. Einen Tag vor dem Fest schickte mein Vater mich los, um Wein einzukaufen. In meinen Korb legte ich fünf oder sechs leere Flaschen. Ich sollte sie mit Wein gefüllt zurückbringen. Als ich die Kreuzung erreichte, spürte ich plötzlich eine enorme Hitze: Ein Tanklastwagen war mit einem deutschen Militärfahrzeug zusammengestoßen. Am Ort des Unfalls schlugen die Flammen einige Meter hoch in den Himmel. Ein deutscher Offizier rannte plötzlich los und wollte die Insassen des Militärfahrzeugs retten, und ich stand ihm zufällig im Weg. Er rannte mich um und warf mich dabei zu Boden. Ich rappelte mich vom Bürgersteig auf, meine Hose war zerrissen, die Flaschen zersplittert, Ellbogen und Knie aufgeschürft. Ich kehrte nach Hause zurück und wollte mich umziehen, aber meine Mutter bekam einen fürchterlichen Schreck, als sie mich sah. Dennoch ging ich wieder los, und eine Stunde später konnte ich einige gefüllte Weinflaschen auf unserem Tisch abstellen.
Sechs oder sieben Mal mussten wir den Seder am Pessachabend unterbrechen, mal war Luftalarm, mal wurde bombardiert, mal fiel der Strom aus. Um es uns etwas leichter zu machen, sagte mein Vater zu meiner Mutter: „Sieh dir nur an, was für ein Glück deine und meine Mutter haben, denn sie müssen diesen Alptraum hier nicht miterleben.“ Das war richtig, denn beide Großmütter lebten in Sus, etwa 150 Kilometer südlich von Tunis, und Sus war bereits am 17. April 1943 von den Alliierten befreit worden.
Meine Eltern sammelten aufmerksam jede kleinste Neuigkeit oder Information über das Kriegsgeschehen und über das Vorrücken der Alliierten. Wir waren noch zu jung, um die Bedeutung der Nachrichten zu verstehen, die im Umlauf waren. Es genügte uns, dass wir in den Gesichtern unserer Eltern Hoffnung sahen. So vergingen die Tage.
Am 7. Mai 1943, einem Freitag, konnten wir ab dem frühen Morgen mit eigenen Augen sehen, wie die deutschen Truppen die Stadt verließen. Rauchsäulen standen über einigen Gegenden. Große Veränderungen lagen in der Luft. Und wirklich, am Nachmittag desselben Tages rückten die ersten Panzer der siegreichen Alliierten in die Stadt ein, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Große Freude machte sich breit. Tunis war befreit worden.
Avraham Hatal (1927-2011) hat als Bibliothekar des Ben-Zvi Institutes in Jerusalem dessen umfangreiche Sammlung von judeo-arabischen Schriften aufgebaut. Nach seiner Einwanderung von Tunesien nach Israel im Jahr 1954 widmete er sich Zeit seines Lebens der Erforschung und Sammlung von Dokumenten über die Juden Nordafrikas und Griechenlands.
Übersetzung eines Aufsatzes, der in der Zeitschrift „Bischwil Hasikaron“ [Zur Erinnerung], Nr. 25, Oktober/November 1997 erschienen ist.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Alice Meroz
The good news:
The Yad Vashem website had recently undergone a major upgrade!
The less good news:
The page you are looking for has apparently been moved.
We are therefore redirecting you to what we hope will be a useful landing page.
For any questions/clarifications/problems, please contact: webmaster@yadvashem.org.il
Press the X button to continue