- Vgl. Rudolf Anthony (Hrsg.): I’m not even a grown-up. The Diary of Jerzy Feliks Urman. Diary translated from the Polish by Anthony Rudolf and Joanna Voit, London 1991.
- Dieser Artikel basiert auf der Dissertationsarbeit der Autorin, die 2004 im Universitätsverlag Winter, Heidelberg, erschien: Noa Barbara Nussbaum: Für uns kein Ausweg. Jüdische Kinder und Jugendliche in ihren Schrift- und Bildzeugnissen aus der Zeit der Shoah, Heidelberg 2004.
- Hanno Loewy/Andrzej Bodek (Hrsg.): “Les Vrais Riches” – Notizen am Rand. Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lodz (Mai bis August 1944), Leipzig 1997, S. 37.
- Ebd., S. 42f.
- Judah Marton (Hrsg.): The Diary of Eva Heyman, Jerusalem/Yad Vashem 1974, S. 76, S. 84.
- Unveröffentlichtes Manuskript, Central Zionist Archives, Jerusalem, File L 58/810, S. 1.
- Mina Perlberger: Buried Alive: A Diary, Unveröffentlichtes Manuskript, United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., Archive File RG.-02.054, S. 16. Obwohl Mina Perlberger (geborene Glücksman) bereits 1917 geboren und damit zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung eine junge Erwachsene ist, sollen einige wenige Ausschnitte ihres Tagebuchs hier eingebunden werden. Die eindeutige Spätentwicklerin zeigte eine starke emotionale Bindung an ihre Herkunftsfamilie und verstand sich stets als „Kind“ ihrer Eltern, das sich zurück in die Geborgenheit der Familie sehnt. Mina Perlberger hat etwa 50 Jahre nach ihrer Befreiung ihren Text selbst aus dem Polnischen ins Englische übertragen. Die darin enthaltenen orthografisch und grammatikalisch unrichtigen Textstellen wurden in Rücksicht auf das Original nicht korrigiert.
- Zu extrem traumatisierenden Bedingungen zählt Grubrich-Semitis in ihrem Beitrag „Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma“ unter anderem das Herausgerissenwerden aus dem vertrauten sozio-kulturellen Milieu, die jederzeitige Erwartung des eigenen, gewaltsamen Todes, die Zerstörung von Privatheit, Ungültigkeit des Kausalitätsprinzips, permanente Entwürdigung und Erniedrigung sowie die Trennung von nahestehenden Personen. (Vgl. Hans-Martin Lohmann (Hrsg.): Psychoanalyse und Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1994, S. 210-236.)
- James E. Young E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/Main1997, S. 34.
- Dies ist im Übrigen auch der Grund, warum der Einsatz dieser Primärquellen für pädagogische Zwecke sorgfältig an das kognitive und emotionale Entwicklungsstadium der Lernenden angepasst werden muss. In der Regel empfiehlt sich in den jüngeren Altersstufen die Lektüre von authentischen Erinnerungstexten, die aus der sicheren Position des Rückblicks von Überlebenden verfasst wurden, und keinesfalls die Texte von gleichaltrigen AutorInnen, die ihren Überlebenskampf synchron zur erlebten Zeit in Tagebüchern und ähnlichen Dokumenten aufzeichnen. Vgl. dazu den Aufsatz „Shoa – Altersgerechter Unterricht für Kinder. Vorschläge der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem“ von Anna Stocker in: Anja Ballis/Klaus Maiwald (Hrsg.): Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule, Heft 2, 2013, S. 107 bis 121.
- Rudolf Anthony: I’m not even a grown-up, S. 37.
- James E. Young E. Young: Beschreiben des Holocaust, S. 25.f.
- Vgl James E. Young: Holocaust Documentary Fiction. The Novelist as Eyewitness, in: Berel Lang (Hrsg.): Writing and the Holocaust, New York/London 1988, S. 200.
- Mina Perlberger: Buried Alive: A Diary, S. 16.
- Yad Vashem (Hrsg.): Exhibition of Paintings by Children of the Theresienstadt Ghetto 1941-1945, Jerusalem/Tel Aviv/Haifa 1959, S. 42.
- Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony. Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, S. 82.
- Judah Marton (Hrsg.), The Diary of Eva Heyman, S. 34f.
- Ebd., S. 57.
- Judah Marton (Hrsg.): The Diary of Eva Heyman, S. 63.
- Presseagentur Nowosti (Hrsg.): Das Tagebuch der Maria Rolnikaite, Moskau/Wien 1966, S. 22.
- Ebd., S. 23.
- Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, München 1988, S. 127.
- Ebd., S. 126f.
- Jüdisches Museum Prag: File T325, Übertragung aus dem Tschechischen durch die Autorin. Anna Lindtová wurde am 19.3.1930 geboren und im Alter von 12 Jahren nach Theresienstadt verschleppt. Hier fiel sie der massiven Transportwelle im Herbst 1944 zum Opfer und kam am 28.10.1944 nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde.
- Hanno Loewy/Andrzej Bodek (Hrsg.): “Les Vrais Riches” – Notizen am Rand, S. 54.
- Ebd., S. 55.
- Mina Perlberger, Buried Alive: A Diary, S. 209.
- Berufsverband Bildender Künstler Schwaben-Nord und Augsburg e.V. (Hrsg.): Kinderzeichungen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, Augsburg 1990, S. 159. Karel Sattler, geboren am 16.11.1932, wurde im September 1942 von Prag nach Theresienstadt verschleppt. Eine zweite Deportation brachte ihn am 4.10.1944 nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.
- Vgl. hierzu Myra Levick: See what I’m Saying. What Children Tell Us Through Their Art, Dubuque 1998, S. 103. Hier werden „shaky lines“ bei der Interpretation von Kinderzeichnungen als ein Warnsignal unter vielen aufgeführt.
- Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973, zitiert nach: Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 119. Das Ringen der Kind-AutorInnen um ein sinnstiftendes emplotment darf selbstverständlich nicht verwechselt werden mit den fragwürdigen Versuchen späterer Generationen, aus unterschiedlichen Beweggründen heraus dem Leiden der Opfer der Shoah retroaktiv Sinn und Bedeutung zu verleihen. Lawrence Langer weist in diesem Zusammenhang klar das tröstliche Urteil Nachgeborener zurück, dass Leiden eine tiefere Bedeutung habe, dass es stärkende, verfeinernde oder gar erlösende Funktion für die menschliche Seele habe – Zuschreibungen, die nur allzu oft gerade den Texten und Hinterlassenschaften junger AutorInnen zur Zeit der Shoah, übergestülpt werden. (Vgl. Lawrence Langer: Art from the Ashes. A Holocaust Anthology,New York 1995, S. 5.).
- Bruno Bettelheim: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, München 1982, S. 72.
- Percy Matenko (Hrsg.): Yitskhok Rudashevski: The Diary of the Vilna Ghetto. June 1941 - April 1943, Beit Lohamej HaGhetaot 1973, S. 106.
- Ebd., S. 28f.
- Eva Roubickova: We're alive and life goes on. A Theresienstadt Diary, New York 1998, S. 31.
- Saul Friedmann (Hrsg.): The diary of Gonda Redlich, Lexington 1992, S. 84.
- [36] Rat der jüdischen Gemeinden in Böhmen und Mähren (Hrsg.): Theresienstadt, Wien 1968, S. 124.
- Ebd., S. 119f.
- Vgl. Nicholas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hrsg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, München 1996, S. 109.
- Diese Aufforderung bildet den Titel des Bandes, in dem Helga Weissová selbst im Jahr 1998 ihre eigenen Theresienstädter Zeichnungen herausgegeben hat: Helga Weissová: Zeichne, was du siehst. Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt/Terezín, Göttingen 1998.
- James E. Young: Germany's Vanishing Monuments, in: Yisrael Gutman/Avital Saf: Major Changes within the Jewish People in the Wake of the Holocaust, Jerusalem 1996, S. 641-648, insbes. S. 645.
- Mina Perlberger, Buried Alive: A Diary. S. 14.
1. Einführung
Jerzy Feliks Urman war elf Jahre alt, als er die Zyankalikapsel zerbiss, die er im Mund hatte. Die Männer der Kripo, die den Jungen an diesem 13.11.1943 in dem ostgalizischen Städtchen Drohobycz im Versteck aufgestöbert hatten, waren durch den Selbstmord des Jungen dermaßen verwirrt, dass sie verschwanden, ohne die Eltern des Kindes mitzunehmen. Diese haben Jerzy begraben, nachdem sie ihm nachts mit Hilfe von Essbesteck heimlich ein Grab gescharrt hatten. Achtzehn Tage vor seinem Tod hat Jerzy damit begonnen, Tagebuch zu schreiben. An Tagen, an denen er nicht weiß, was er aufschreiben soll, notiert er, wie das Wetter ist, und ein paarmal steht da einfach nur: „Die Katze miaute.“1
Der folgende Beitrag2 ist den mitunter zutiefst verstörenden Hinterlassenschaften jüdischer Kinder und Jugendlicher gewidmet, die inmitten einer Welt, die für sie nicht mehr bewohnbar war, in ihren kreativen Arbeiten einen sinn- und kontinuitätsstiftenden Diskurs errichteten. Die Tagebücher, Gedichte und Zeichungen, die hier vorgestellt werden, entstanden im osteuropäischen Raum während der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, ihre Schöpfer sind Kinder und Jugendliche, die gemeinsam mit ihren Familien oder allein auf sich gestellt um ihr Überleben kämpften.
Zum einen soll durch diesen Primärquellenbestand der Frage nachgegangen werden, ob Erfahrungen bzw. Wahrnehmungsmuster zu benennen sind, die spezifisch für die Opfergruppe der Kinder und Jugendlichen relevant sind, sowie auf einer zweiten Ebene, welche Strategien die Heranwachsenden im einzelnen entwickelt haben, um den eigenen Überlebenskampf zu bewerkstelligen. Abschließend werde ich Überlegungen zur Bedeutung von Kreativität für die Schaffenden selbst anstellen, die in den allermeisten Fällen unter widrigsten Umständen und häufig entgegen dem klaren Verbot durch die NS-Verfolger, an der Erstellung ihrer Texte bzw. Zeichnungen festhielten.
Wer immer sich mit den Texten und anderen Dokumenten der Kinder aus der Zeit der Shoah befasst, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit historisch unrichtige Aussagen, Widersprüchlichkeiten und unvollständige Beschreibungen der historischen Vorgänge vorfinden. Dieser Beitrag möchte dazu anregen, dieses Qualitätsmerkmal – das ja im übrigen in unterschiedlichem Ausmaß auf die meisten historiografischen Darstellungen historischer Ereignisse zutrifft – nicht als defizitär zu bewerten, sondern die Chance zu nutzen, die Shoah gerade aus der Perspektive ihrer jüngsten Opfer, der Kinder und Jugendlichen zu betrachten und sich dadurch auch mit deren spezifischer Situation auseinander zu setzen.
2. Das Unsagbare zur Sprache bringen
Die Bilder und Texte der Kinder und Jugendlichen, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden, legen Zeugnis ab von einem ständigen Ringen um Worte. Wie kann dargestellt werden, was jeder Analogie mit bereits Erlebtem und Erfahrenem entbehrt? Das Scheitern dieses Vorhabens ist unvermeidlich. Es fehlen buchstäblich Worte, um das bisher Unvorstellbare in Sprache zu fassen, es fehlt das stützende Netz bereits bestehender Stilsprachen, um das überwältigende Ausmaß von Chaos, Gewalt und Leiden auf eine Weise zu Papier zu bringen, durch die der Rezipient erfassen könnte, was beschrieben wird.
Dieses Problem scheint der offensichtlich bereits etwas ältere Tagebuchautor, ein unbekannter Junge, der im Ghetto Lodz Tagebuch führte, auf einer sehr bewussten Ebene erfasst zu haben. In seinen Einträgen im Frühsommer 1944 bringt er seine massive Skepsis gegenüber dem Medium Sprache zum Ausdruck, wenn es darum geht, seine täglichen Erfahrungen des Lebens im Ghetto festzuhalten:
24.5.1944
„Schon bald volle 5 Jahre werden wir in der schrecklichsten Weise gepeinigt – unsere Leiden zu beschreiben, ist ebenso unmöglich wie den Ozean leerzutrinken oder die Erdkugel zu umarmen.“3
11.6.1944
„Ich träume davon, es der Menschheit zu sagen – aber werde ich es auch können? Könnte es Shakespeare? Und wie dann ich, der ich doch nur ein wenig stolz darauf bin, Shakespeare zu verstehen?”4
Der junge Autor stellt hier klar, dass die Unzulänglichkeit der Sprache nicht in seinem persönlichen Unvermögen begründet ist. Ein unangefochtener Sprachvirtuose, Shakespeare, wird aufgerufen, um deutlich zu machen, dass es einzig an der vorgefundenen Realität selbst liegt, wenn diese sich der sprachlichen Darstellung entzieht. Die Welt ist unkenntlich geworden, unerkennbar insofern, als das Erlebte sich jedem Vergleich mit den Erfahrungen vor Einsetzen der Verfolgung entzieht. In den Tagebüchern und Texten der jugendlichen AutorInnen spiegelt sich die Ausdruckskrise in einem immer wiederkehrenden Motiv wider: dem Motiv der Unsagbarkeit.
Ein weiteres Beispiel führt uns hier ein wenig weiter: Eva Heyman aus Ungarn begann an ihrem 13. Geburtstag, Tagebuch zu führen. Von diesem Tag an hatte sie noch vier Monate zu leben. Ihre Aufzeichungen enden am 30. Mai 1944, drei Tage vor ihrer Verschleppung nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde. Eva markiert mit dem Motiv der Unsagbarkeit exakt die Grenze ihrer emotionalen Aufnahmefähigkeit.
13.4.1944
„So many terrible things are happening, dear diary, that I don’t even feel like writing any more.“
5.5.1944
„Dear Diary, I’m still too little a girl to write down what I felt while we waited to be taken into the Ghetto.“
18.5.1944
„Dear Diary, Agi [her mother] also told other things, like what the gendarmes do to the women, because women are also taken there, things that it would be better if I didn’t write them down in you. Things that I am incapable of putting into words, even though you know, dear diary, that I haven’t kept any secrets from you till now.“5
Diese Beispiele zeigen, dass das Motiv der Unsagbarkeit von den jungen Autoren immer dann aufgerufen wird, wenn die Grenze ihrer emotionalen Belastbarkeit erreicht ist. Hier stellt sich die Frage, warum angesichts einer undarstellbaren Wirklichkeit zwischen den Alternativen Schreiben oder Schweigen die erstere gewählt wird, und zwar unter äußeren Umständen, die jede Tätigkeit, die nicht dem unmittelbar physischem Lebenserhalt dient, absurd erscheinen lässt. Mit anderen Worten: Welche Bedeutung kommt der Kreativität im Kontext der Vernichtung zu?
Während, wie zu sehen war, die jungen Autoren einerseits klar feststellen, dass das Ausmaß der ihnen widerfahrenden Katastrophe zu immens ist, um in Worten beschrieben werden zu können, so scheint andererseits eben jenes Übermaß an Leiden den Schreibprozess auszulösen. Nach jahrelangem Überlebenskampf, auf seine Ausreise nach Palästina wartend, fertigt der 17-jährige Artur Ney einen nur zwei Seiten umfassenden Rückblick auf das von ihm Erlebte an, offensichtlich als einziger Überlebender seiner Familie. Als Mitglied einer Gruppe von Schmugglern steht er im traumatischen Augenblick der unmittelbar bevorstehenden Liquidierung des kleines Ghettos Szulz (Polen) zufällig auf der „arischen“ Seite des Ghettozauns und muss hilflos mit ansehen, wie seine Eltern und seine Schwester deportiert werden:
„There I stood with a frozen smile on my trembling lips in the midst of the crowd of joyful Poles, watching the last battle and agony of all my people. The Germans were helped by the Polish police, Lithuanians, Ukrainians and a crowd of Polish youth which lead and directed the Germans to their living goals. In that moment I decided to write down the battle of those already to death condemned people.“6
Auch wenn das Vorhaben, alles aufzuschreiben, erwartungsgemäß bereits auf der nächsten Seite durch das Motiv der Unsagbarkeit relativiert wird („There is no pen, no film which could describe what Hitler did in Ghettos from Europe.“) und unklar bleiben muss, ob Artur Ney dieses Vorhaben realisiert hat: James E. Youngs These, Schreiben helfe bei der Bewältigung unassimilierbarer Traumata, wird hier durch die bewusste Angabe des Zeitpunkts bestätigt, den Entschluss zum Schreiben zu fassen, nämlich in dem Augenblick, in dem der Terror jedes erdenkliche Maß überschreitet. Mina Perlberger beginnt ihr Tagebuch an einem ähnlich markanten Einschnitt ihres Lebens: Obwohl schon wochenlang in ihrem Erdbunker versteckt, greift sie erst zum Stift, als sie von der grausamen Hinrichtung ihres Bruders und dessen Freund erfährt, mit der hilflos und etwas verworren formulierten Intention „to ocupy the mind with something, to autosugest ourselfs, that we left alone from the whole family, have a duty to tell the true story, what could have happened, in the twentieth century.“7
3. Der mimetische Impuls
James E. Young weist in seiner Studie „Beschreiben des Holocaust“ auf die Besonderheit der Schreibsituation in Dokumenten hin, die von Augenzeugen der Shoah erstellt wurden, und zwar wiederum von solchen, auf die der neutrale, beobachtende Charakter dieses Wortes nicht zutrifft, weil die Autoren während der Texterstellung extrem traumatisierenden Lebensbedingungen ausgesetzt waren.8 Wer zugleich Opfer jener Ereignisse ist, die schlechthin nicht assimilierbar sind mit bisher Erfahrenem, „will sowohl das Gefühl der Diskontinuität und Desorientierung in katastrophalen Ereignissen darstellen als auch seine persönliche Verwicklung in die Ereignisse mitteilen – und all dies durch ein Medium, das den Leser zwangsläufig ‚orientiert‘, den Ereignissen Kontinuität verleiht (…).“9
Dass in der Gattung des Tagebuchs jene „persönliche Verwicklung“ auf beklemmendste Weise deutlich werden muss, liegt auf der Hand: Schließlich überblickt der Verfasser eines synchron mit dem eigenen Leben fortschreitenden Textes die Vergangenheit nicht als ein Ganzes, abgeschlossen vor ihm Liegendes, sondern bringt – im Falle dessen, der die Shoah zu durchleben gezwungen ist – in ständigem Wechsel Hoffnung oder Verzweiflung zum Ausdruck. Das integrative Element einer Erzählung aus der Retrospektive wird aus Tagebüchern immer wieder neu von den Attacken sinnlos erfahrener Willkür oder Gewalt verscheucht. Lawrence Langer spricht in diesem Zusammenhang vom Tagebuch als der Gattung, die dem Leser am ehesten eine Ahnung des Terrors der permanenten Alternative „Leben oder Tod“ ermögliche.10
Häufig wird von den jungen AutorInnen die Gattung des Tagebuchs als fortlaufende Chronik gedeutet. Diese Form bringt für den in texttheoretischen Überlegungen Ungeübten wohl am wenigsten Ballast mit sich. Durch ihren zeitgebundenen Charakter erfüllt sie offensichtlich das Kriterium der Kontinuität, zugleich verzichtet der Chronist sowohl auf das Freilegen innerer Zusammenhänge zwischen einzelnen Vorkommnissen als auch auf einen narrativen Faden in seiner Darstellung.
Dass sich die jungen VerfasserInnen der Tagebücher über den generellen Konstruktionscharakter ihrer, sowie aller anderer historiografischen Unternehmungen nicht bewusst sein können, mag einleuchten. Chronologische Serialität kann nicht jene Kohärenz von Wirklichkeit und deren Abbildung leisten, nach der die kindlichen AutorInnen streben.
Trotzdem sind weite Abschnitte ihrer Tagebücher sichtbar nach dem Schema einer Chronik geführt, genauer gesagt, nach jenen Kriterien, die geschichtswissenschaftliche Laien – um solche handelt es sich ja bei allen jugendlichen AutorInnen – der Gattung der Chronik zuschreiben: die Rhetorik der Lückenlosigkeit und der Faktizität.
Die beiden letzten Einträge im Tagebuch von Jerzy Urman nehmen jeweils nur eine Zeile ein:
10.11.1943
„What will happen tomorrow? Pussy [eine Katze] came.”
11.11.1943
„Nothing happened. They are taking Ukrainians into the army.”11
Solche Kurzeinträge verraten, dass es einigen, vor allem den jüngeren bzw. auf einem einfacheren Bildungsniveau stehenden Kindern offensichtlich ein Bedürfnis ist, auch scheinbar ereignislose Tage in die Chronik mit einzubinden. Über das Wetter lässt sich allemal berichten, aber auch das Aufkreuzen der Katze oder schlicht die Feststellung „Nothing happened“ können dazu beitragen, den Aufzeichnungen den Charakter der Vollständigkeit zu verleihen. Das zweite Merkmal, das einer Chronik gerne zugeschrieben wird, ist das ihrer Faktizität. Der verführerische Gedanke, dass durch das Zurücknehmen der eigenen Subjektivität bzw. durch den Verzicht auf jegliche rhetorische Stilistik im Text Objektivität entsteht, ist auch heute noch – nicht nur unter Kindern und Jugenlichen, die sich mit dem Erstellen von Texten befassen – weit verbreitet. Nicht zuletzt diese Annahme liegt ja wohl auch dem lange Zeit über in der Historiografie verbreitetem „Faktenstil“ zugrunde, der mittels einer „Rhetorik des Antirhetorischen“ das Ziel verfolgt, den Leser von der Wahrheit der dargestellten Fakten zu überzeugen.12 James E. Young vermutet den Argwohn gegenüber der Rhetorik in der Sorge verwurzelt, dass sie, die dem literarischen Medium innewohnt, den Charakter der Fiktionaliät auf die dargestellten Ereignisse übertragen könnte.13 Diese Überlegung mag wohl auch Anlass geben zu Vorbemerkungen, wie sie immer wieder jener Art von Texten vorangestellt werden, die sich dem Holocaust nicht in rein geschichtswissenschaflticher Form zu nähern versuchen. Die Widmungsseite sowie einleitende Bemerkungen zu Mina Perlbergers Tagebuch dokumentieren, wie wichtig es der Überlebenden ist, den authentischen, nicht-fiktiven Charakter ihrer etwa 50 Jahre alten Aufzeichnungen zu unterstreichen:
„My diary, isn’t a fiction. It’s the truth, the true names and places. My diary is in some places bitten up by mice, under the ground, some pages faded from the dampness, but I’ll know what is in there, how to fill them, exectly. It’s a woven fabric, of our life, threaded with hot bloody threads, of the time, when millions of Jews were swallowed into the greatest nightmare, knowen to mankind.”14
Auch unter den Kinderzeichnungen, die im Ghetto Theresienstadt entstanden sind, finden sich einige Beispiele dafür, wie gerade das Bild gelegentlich als Medium „objektiver“ Faktenvermittlung instrumentalisiert wurde. Die folgende Zeichnung stammt von Alfred Weisskopf15, der am 24.1.1932 geboren und im Alter von zehn Jahren von Prag nach Theresienstadt deportiert wurde. Eine zweite Deportation brachte den 11-Jährigen dann am 18.12.1943 nach Auschwitz, wo er ermordet wurde. Seine Zeichnung verrät deutlich den Wunsch des Kindes, mit seinem Bild wiederzugeben, „wie es wirklich ist.“
Die Linien wurden mit Lineal gezogen, der Koffer unter dem Bett ist mit sämtlichen Schlössern gezeichnet, detailfreudig wird abgebildet, was an den Wänden hängt und wie ein gemachtes Bett auszusehen hat. Die drei Figuren hingegen, die offensichtlich die Bewohner dieses Raums darstellen sollen, wurden vom Zeichner eher vernachlässigt. Er bemüht sich weder um die Darstellung von deren Kleidung noch um die Gestaltung ihrer Körper, die er „durchsichtig“ und sogar teilweise unvollständig lässt: Die in der rechten Tür stehende Figur hat keine Arme, allen dreien fehlen die Haare. Die mittlere Figur ist – ohne erkennbare räumliche Not – extrem klein geraten. Die abgebildeten Menschen scheinen dem Zeichner nicht wichtig zu sein, lediglich in ihrem Bezug zu dem Interieur sind sie bedeutend, da sie dem Betrachter die Methoden demonstrieren, mit denen die Jungen im Schlafsaal in ihre Stockbetten gelangen.
Diese Beispiele für die Intention der jungen AutorInnen, ihr radikal verändertes Lebensumfeld durch möglichst wirklichkeitsgetreue Dokumentation abzubilden, verraten bei genauerem Hinsehen noch eine weitere, wesentliche Funktion, nämlich die eines Dialogs. Der Psychoanalytiker und Shoah-Überlebende Dori Laub hat darauf hingewiesen, dass es für die Verfolgten während der Shoah kein Gegenüber mehr gebe, auf das sich das Individuum beziehen könne: „There was no longer an other to which one could say ‚Thou’ in the hope of being heard, of being recognized as a subject, of being answered.“16 Der über das Medium des Tagebuchs ausgetragene Dialog ist Bestandteil der Arbeit an der eigenen Identität der jungen AutorInnen. Ihre Texte bieten ein Forum für die Austragung eines Selbstdialogs mit dem Ziel, die eigene Identität zu (re-)konstruieren. Hier soll noch einmal das Tagebuch Eva Heymans als Beispiel herangezogen werden. Vor der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im März 1944 stehen für Eva persönliche Probleme klar im Vordergrund ihres Interesses. Unter der Scheidung ihrer Eltern, insbesondere aber unter dem ständigen Druck leidend, sich immer wieder neu der Liebe ihrer Mutter Agi (Agnes Zsolt, von Eva mit ihrem Vornamen angeredet) versichern zu müssen, vertraut sie während der ersten Wochen, in denen sie Tagebuch führt, diesem mehrfach ihre Eifersucht an:
17.2.1944
„I don't deny, dear diary, that I was a little jealous of Anni [a friend]. In order to be able to give Agi a kiss, I usually have to travel quite a long way, and in order to kiss my father I have to walk two blocks on the main street without being sure that I'll even find him at home. I know that jealousy is an ugly trait, but to you, dear diary, I confess that I've already felt it many times; that sometimes I'm even jealous of Agi. Agi has already felt this many times, and she says that I'll get over it when I grow up. Agi said that it isn't good for me to see only the children I go to the Lyceum with, but that I ought to go with her to Szacsvay Street, in the poor Jewish neighborhood, where the poor children live. (…) If only I thought of orphans and sick children, I would be cured of my jealousy. Then I would be grateful for having everything I need and not having any responsibilities except the responsibility to study. True, I'm a child of divorced parents, but still I have a home with Grandpa and Grandma, and I see my father every other day, …and she - Agi - comes down every five weeks…”17
Interessant ist in unserem Zusammenhang die sprachliche Form, in der Eva ihre Sorge zu Papier bringt. Den Dialog mit ihrer Mutter, den Eva hier beschreibt, setzt sie gleichsam in ihrem Tagebuch fort, indem sie jenem in folgsamer Genauigkeit die Argumente der Mutter einschreibt, um so noch einmal, und in ausführlicherer Form als die Mutter dies zu tun bereit ist, über das Problem ihrer Eifersucht debattieren zu können. Im Verlauf dieses Tagebuchs, dem Eva sich für dreieinhalb Monate anvertraute, von ihrem 13. Geburtstag im Februar 1944 bis kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz Ende Mai desselben Jahres, lässt sich verfolgen, wie ihr persönliches Problem, sich von der Mutter zu wenig geliebt zu fühlen, langsam in den Schatten tritt hinter dem Bewusstsein ihrer Gefährdung als jüdisches Mädchen.
19.3.1944
„Dear diary, you are the luckiest one in the world, because you cannot feel, you cannot know what a terrible thing has happened to us. The Germans have come!”18
Je intensiver sich Eva im Lauf ihrer Aufzeichnungen mit dem Du des Tagebuchs auseinandersetzt, umso deutlicher wird, dass das solchermaßen Verhandelte im Bewusstsein des Mädchens seinen Platz findet.
26.3.1944
„Dear diary, until now I didn’t want to write about this in you because I tried to put it out of my mind, but ever since the Germans are here, all I think about is Marta. She was also just a girl, and still the Germans killed her. But I don't want them to kill me! I want to be a newspaper photographer, and when I'm twenty-four I'll marry an Aryan Englishman, or maybe even Pista Vadas.”19
Der Eintrag ins Tagebuch wird hier ausdrücklich gleichgesetzt mit dem Sich-Bewusstmachen eines Sachverhalts wie etwa der unmittelbar auf Eva und ihre Familie bezogene Faktor der Lebensbedrohung, ebenso wie der entschieden ausgesprochene Wunsch des Mädchens, den Krieg zu überleben und ihre Zukunftspläne ausführen zu können.
So geht das Tagebuch in seiner Funktion also weit über den Wunsch der Kind-AutorInnen hinaus, das überwältigende Chaos der für sie disparaten Wirklichkeit in das Kontinuum einer zeitlich organisierten, sprachlich geordneten Chronik zu bannen. Es dient als Medium der Selbstvergewisserung in Form eines Dialogs zwischen dem schreibenden Ich und seinem fiktiven, mehr oder weniger explizit mit dem Tagebuch identifizierten Gegenüber, wodurch jenes vor allem bei schreibenden Mädchen oft den Stellenwert einer „besten Freundin“ einnimmt. Das auf diese Weise im Tagebuch verankerte Gegenüber soll jenen Dialog gewährleisten, nach dem die Kind-AutorInnen sich sehnen und der so entschieden benötigt wird, um das eigene Ich zu konstituieren.
4. Der figurative Diskurs: Sprache
„Wenn ich die Nacht aber doch beschreiben würde...
Kleine Silbersterne glitzern seiden,
Schaun herab vom Himmelszelt.
Sehn sie, wie die Menschen furchtbar leiden
In den Nächten dieser schlimmen Welt?Schwach! Morgen werde ich mich hinsetzen und mir alles gut überlegen, damit es ein wirklich gutes Gedicht wird. Man muss den Atem dieser Nacht darin verspüren. Aber es wäre besser ohne den Krieg. Ist es angebracht, in Versen Entsetzliches zu beschreiben?“20
Das Tagebuch der 1927 geborenen Litauerin Maria Rolnikas spiegelt den Leidensweg der Autorin von 1941 bis zu ihrer Befreiung durch die sowjetische Armee 1945 wider. Ihre Aufzeichnungen im Ghetto Vilna beginnt die 14-Jährige mit einem Maß an Genauigkeit, das sie in den folgenden Jahren dadurch beizubehalten sucht, in dem sie, unterstützt von Mithäftlingen, ihre Einträge auswendig lernt und immer wieder memoriert, ehe sie Papier- und Stiftähnliches, Zeit und Kraft findet, um sie niederzuschreiben. Das in ihrem oben zitierten Tagebucheintrag klar geäußerte Unbehagen der Autorin, mit den Mitteln lyrischer Sprache „Entsetzliches“ darzustellen, wurde im Kontext der deutschen Nachkriegszeit zu einer zentralen Debatte über die Darstellbarkeit bzw. Vermittelbarkeit der traumatischen Erfahrungen von Shoah-Überlebenden. Für die Betroffenen selbst gewinnt diese Frage eine andere Qualität. Inmitten ihrer selbstkritischen Überlegungen, ob es denn angebracht sei, „in Versen Entsetzliches zu beschreiben“, wird die Familie von einer wüsten nächtlichen Razzia überrascht. Nachdem die Gestapo keine Hinweise auf den bereits bei den Partisanen untergetauchten Vater finden kann, zieht sie ab und hinterlässt Maria, ihre Mutter und jüngeren Geschwister in panischem Schrecken. Aufgelöst und unfähig, wieder einzuschlafen, schwört sich Maria nach der Beschreibung des nächtlichen Vorfalls: „Und von dem Gedicht und den Sternen werde ich niemandem auch nur ein Wort sagen...“21
Die Skepsis gegenüber dem Medium Lyrik führt nicht in jedem Falle zur vollständigen Ablehnung und Aufgabe weiterer Versuche. In ihrem Buch weiter leben erklärt Ruth Klüger die Bedeutung gebundener Sprache für ihren Überlebenskampf in Auschwitz als junges Mädchen:
„Aber der spätere Geschmack hat es leicht. Jetzt hab ich gut reden.
So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur, und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muss von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten. Statt zu dichten, möge man sich nur informieren, heißt es, also Dokumente lesen und ansehen - und das gefassten, wenn auch betroffenen Mutes. Und was sollen sich Leser oder Betrachter solcher Dokumente dabei denken? Gedichte sind eine bestimmte Art von Kritik am Leben und könnten ihnen beim Verstehen helfen. Warum sollen sie das nicht dürfen? Und was ist das überhaupt für ein Dürfen und Sollen? Ein moralisches, ein religiöses? Welchen Interessen dient es? Wer mischt sich hier ein? Das Thema wird brennender Dornbusch auf heiligem Boden, nur mit nackten Füßen und unterwürfiger Demut zu betreten.“22
Die von Klüger verwendeten Vokabeln „brauchen“ bzw. „entbehren“ mögen in Bezug auf Poesie im Kontext eines Konzentrationslagers zunächst unverständlich erscheinen. Die Autorin erläutert den Zusammenhang näher: Das Gedicht als Phänotyp gebundener, geformter Sprache gebe gerade durch die ihm innewohnende Ordnung Stütze und Halt.
„Kindergedichte, die in ihrer Regelmäßigkeit ein Gegengewicht zum Chaos stiften wollten“, seien für sie „ein poetischer und therapeutischer Versuch“gewesen, diesem „sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachlich Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten.“23
Dass durch den Willen der Kind-Autoren zu bewusster formaler Gestaltung ein breites Spektrum lyrischer Schöpfungen entstanden ist, mag der folgende, ebenso kleine wie kluge Fragevers von Anna Lindtová aus Theresienstadt verdeutlichen:
In tausend Jahren
In tausend Jahren
Wie wird die Welt sein?
Wie wird die Welt sein?
In tausend Jahren?
Ratet!!!
Im tschechischen Orginal:
Za tisic let
Za tisic let
Jaky bude swet?
Jaky bude swet?
Za tisic let?
Hàdejte!!!24
Ein weiterer Aspekt lyrischer Sprache ist die Verwendung metaphorischer Wendungen. Die Stilmittel Metapher und Vergleich helfen dabei, durch Analogisierung Fremdes zu Vertrautem umzuwandeln bzw. das Befremdliche im bisher Vertrauten zur Sprache zu bringen. Disparate, in ihrer Fremdheit u.U. als bedrohlich empfundene Elemente können so integriert werden in ein bereits bestehendes, in irgendeiner Form bewährtes Erfahrungskonstrukt. Es lässt sich feststellen, dass das Verlassen der mimetischen Ebene, unter gewöhnlichen Umständen ein von Jugendlichen äußerst sparsam und mit Skepsis eingesetztes Ausdrucksmittel, in den untersuchten Texten situativ gebunden ist. Der Impuls zum tropischen Verfahren scheint gerade durch jene Situationen ausgelöst zu werden, in denen die jungen AutorInnen zum Ausdruck bringen möchten, was sie erst nach dem massivsten Schnittpunkt ihrer bisherigen Biographie, nämlich dem Beginn ihrer Verfolgung, zu begreifen gezwungen sind: das Erleben von Gewalt, seelischen und körperlichen Schmerz, Freiheitsentzug und permanente Lebensbedrohung. Die Verwendung von Tropen dient nahezu ausschließlich dem Prozess des Verstehens dessen, was sich durch seine unfassbaren Dimensionen mit dem im früheren Leben Erfahrenen nicht verbinden lassen will. Das folgende Beispiel aus dem Tagebuch des unbekannten Jungen in Lodz verdeutlicht das Ringen mit tropischer Sprache:
30.6.1944
„Wir leiden immerfort in einer Weise, wie keine Geschöpfe je gelitten haben... Täglich verlassen etliche Hundert unserer Brüder das Getto. Auf schreckliche Weise verstärkt sich der Hunger. (...) Unser wie Wasser vergossenes Blut, unsere schrecklichen wie sonderbaren Qualen...“25
[Der kursiv gedruckte Satz wurde im Original durchgestrichen.]
Die Abgegriffenheit des Vergleichs von Wasser und Blut sowie die Verbindungslosigkeit dieses Bildbereichs mit dem der „Qualen“, hilflos mit den Adjektiven „schrecklich“ und „sonderbar“ ausgestattet, mögen den Jungen dazu veranlasst haben, jene Passage zu verwerfen und zwei Tage später in veränderter Form wieder aufzugreifen:
2.7.1944
„Immer weiter gehen uns unsere Kräfte aus. Unser Blut ist schon ‘wässerig’ geworden, und wir haben keinen Körper mehr, sondern eine Art Skelett.“26
Durch die Herausnahme des Abstraktums „Qualen“ werden diese, insbesondere die Qual der sukzessive fortschreitenden Entkräftung, mit der nun verwendeten Metapher des sich entmaterialisierenden Menschen (dessen Blut wässerig wird, dessen Körper zu Skelett) zu einer ausdrucksstarken Sprachfigur verschmolzen.
Solche Spracharbeit im figurativen Bereich fällt jedoch häufig der weiter oben bereits angesprochenen, grundlegenden Skepsis der jugendlichen AutorInnen zum Opfer, die bezweifeln, dass Sprache überhaupt ein geeignetes Medium sei, ihre Lage adäquat darzustellen.
Ein weiterer Weg, sprachlich mit der Gefangenschaft umzugehen, ist die Verwendung von bestimmten Topoi, die bei intertextueller Betrachtung in auffälliger Weise wiederkehren. Im Topos der Grenzüberschreitung wird genau jener Zaun überwunden, der die Eingesperrten von der Außenwelt ausschließt – womit zugleich ein Durchbrechen der Demarkationslinie zwischen Realität und Illusion impliziert ist. Schlaf und Traum können hier eine bedeutende Rolle spielen: „My only aim,“ so bekennt Mina Perlberger in ihrem Tagebuch, „is to run away from the terrible truth, so sleeping, is the only way, to escape from the reality. That’s why, Heniu [Minas ermordeter Bruder] was longing only to sleep. How I understand now, his wanting only to sleep!”27
Im folgenden Beispiel, einer Tuschezeichnung des 11-Jährigen Karel Sattler28, kommt auf verborgener Ebene zum Ausdruck, dass die fiktive Option der Grenzüberschreitung von den Eingesperrten mit einer gewissen Skepsis bedacht wird.
Karel bringt hier vordergründig seinen Tagtraum vom Reisen zum Ausdruck. Der durch ihre relative Größe und Zentriertheit im Bild auf der vorderen standline hervorgehobenen Figur des Reiters scheinen keinerlei Hindernisse im Weg zu stehen. Die Sonne scheint über dem ganzen Unternehmen, der mitgeführte Reisekoffer verleiht ihm einen internationalen Anstrich („Paris, Prag, London, Oslo“), der Baum im Hintergrund bringt durch seine Ähnlichkeit mit einer Palme zusätzlich exotisches Flair in die Zeichnung, ebenso wie die Andeutung, dass es sich bei dem Reittier um ein Kamel handelt. Womöglich sind in den hier versammelten Motiven auch Symbole der Sehnsucht nach Eretz-Israel angelegt.
In einer dem Zeichner selbst vielleicht unbewussten Schicht liegen allerdings dessen Zweifel verborgen: Das Tier des Reiters, inbesondere seine Kopf- und Beinhaltung, erweckt den Eindruck von Müdigkeit und Statik und bedarf der Anfeuerung („hyje“), seine Umrisse sind in Unsicherheit verratenden, kleinstrichigen Linien gezogen, was als Charakteristikum für die Zeichnungen emotional überbelasteter Kinder betrachtet werden kann.29 In einer zweiten, die Komplexheit des Bildes steigernden standline skizziert Karel eine kleine Randszene (oben links), die eine offensichtlich von Aggression und Feindseligkeit geprägte Konfrontation zweier Tiere zeigt (aufgestellte Nackenhaare, eingestemmte Beine!), die sich gegenseitig den Weg blockieren. Beide standlines werden mittels einer Straße miteinander verbunden, auf der eine nur rudimentär angedeutete Karawane zu sehen ist, die der Hauptfigur zu folgen scheint. Durch dieses Element verbindet der Zeichner die unterschwellige Ebene seiner Skepsis mit der positiv besetzten, hoffnungsfrohen Grundidee des Aufbruchs in eine freie, ferne Welt.
5. Emplotment als Sinnstiftung
Es gehört zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, die eigene Biografie in Form einer kohärenten Erzählung als Abfolge sinnhaft miteinander verbundener Vorkommnisse und Erlebnisse darzustellen. Dieser Vorgang gilt nach Hayden White als die Motivation, in den Diskurs des emplotment einzusteigen: „Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind.”30
Eines der Themenfelder, die innerhalb dieses Diskurses bearbeitet werden, ist die Rekonstruktion einer humanen Welt. Mit erstaunlicher Klarheit analysieren einige der Kind-AutorInnen die Auswirkung des gewaltsamen Risses ihrer Biografien auf ihre individuelle Entwicklung.
Hier erscheint mir wichtig, auf die spezifische Situation von Kindern im Unterschied zu erwachsenen Personen, die traumatisierenden Lebensumständen ausgesetzt sind, hinzuweisen. Während, wie Bruno Bettelheim lapidar bemerkte, das Hauptziel eines Erwachsenen ist, „(s)ein Ich sich so zu erhalten, dass er, wenn er das Glück hätte, seine Freiheit wiederzuerlangen, in etwa die gleiche Person sein würde, die er vor seiner Freiheitsberaubung gewesen war“31, werden junge Heranwachsende von den traumatischen Ereignissen in einer Phase getroffen, in der sie ihre eigene Identität erst aufbauen. Unter normalen Entwicklungsbedingungen würden sie diese Identitätsarbeit innerhalb eines stabilen Rahmens, bestehend aus Elternhaus, Familie, Schulsystem und Gemeinde leisten. Unter traumatischen Bedingungen wird genau jener Rahmen zertrümmert, und es ist entscheidend, in welcher Phase der Entwicklung dies geschieht. Ausschlaggebend kann auch sein, ob die Kinder die Verfolgungsphase mit oder ohne Eltern, Geschwistern oder gleichaltrigen Freunden durchlaufen. Falls die Eltern gemeinsam mit den Kindern ums Überleben kämpfen, sind die Kinder in der Regel mit dem Phänomen des Autoritätsverlusts der Eltern konfrontiert, und, mehr als das, mit der meist schlagartig und unvorbereitet eintretenden Notwendigkeit, deren Funktionen ganz oder teilweise zu übernehmen („sudden maturity“).
In diesem Erfahrungszusammenhang findet sich in großer Einheitlichkeit und Dichte die Klage der Heranwachsenden, nicht nur ihrer Kindheit, sondern insbesondere ihrer Bildungschancen beraubt zu werden. Yitskhok Rudashevski, ein hochintelligenter und intellektueller Junge aus Vilna (Litauen), der im Alter von 15 Jahren in Ponar erschossen wurde, sinniert in seinem Tagebuch über die Bedeutung von Büchern für die geistige Entwicklung der im Ghetto Eingesperrten:
„The reading of books in the ghetto is the greatest pleasure for me. The book unites us with the future, the book unites us with the world.”32
Über die (im Ghetto erzwungenermaßen autodidaktische) Bildung erreichen die isolierten Studierenden eine intellektuelle Rekonstruktion der ihnen vorenthaltenen Freiheit. Kenntnis über die Welt vermittelt spirituellen Kontakt zu jener und zugleich Distanz zur restriktiven Realität der Verfolgung.
Ein weiteres Themenfeld, durch das in den Diskursen der Tagebücher eine humane Welt rekonstruiert wird, berührt den Aspekt sozialen Lebens: die Wahrnehmung des Anderen. Wie weiter oben angesprochen wurde, nimmt der Andere, ein zum Dialog bereites Gegenüber, eine wesentliche Funktion in der Entwicklung der Persönlichkeit ein. Vice versa hindert die Unfähigkeit, den Mitmenschen empathisch wahrzunehmen, den Aufbau einer dialogfähigen Identität. Darüber hinaus wirkt sie sich negativ auf das soziale Klima einer Gesellschaft aus. Viele Kind-AutorInnen beklagen sich über die Veränderung ihres sozialen Umfelds, in dem die Schwäche und Hilflosigkeit des Einzelnen ein Klima von Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen hervorbringt. Noch einmal ein Ausschnitt aus Yitskhok Rudashevskis Tagebuch:
24.6.1941
„Our hearts are crushed witnessing the shameful scene where women and older people are beaten and kicked in the middle of the street by small bandits. A performance. (…) I stand at the window and feel a sense of rage. Tears come to my eyes: all our helplessness, all our loneliness lies in the streets. There is no one to take our part. And we ourselves are so helpless! So helpless.“33
Yitskhok analysiert hier sehr klar, dass der Handlungsspielraum der Ghettoinsassen limitiert ist. Die Hilflosigkeit derer, die eigentlich in einer humanen Welt intervenieren müssten, wenn sie Zeugen von Ungerechtigkeit würden, kreiert ein soziales Vakuum, das durch die Opfer selbst nicht aufgehoben werden kann („there is no one to take our part“).
Hierin spiegelt sich eine zentrale Sorge der jungen AutorInnen, die während ihres Überlebenskampfes zu verstehen beginnen, dass ihr (bereits vor Einsetzen der Verfolgung internalisiertes) Set ethischer Werte und Normen zumindest für die Zeit der Verfolgung weitgehend außer Kraft gesetzt werden muss, um ihre Überlebenschancen nicht zu verspielen. Die 1921 geborene Tschechin Eva Roubicková sorgt sich in diesem Zusammenhang um die moralische Zukunft ihres Volkes:
„It's terrible sad that the only way to get anything is through lying, stealing, and cheating. Will it ever be possibly for us to fit back into normal life? Will we ever be normal, decent people again? Won't we all be criminals by the time we get out of here?”34
Als herausragendes Beispiel des pädagogischen Umgangs mit diesem markanten Problem ist das Ghetto Theresienstadt zu betrachten, wo Eva inhaftiert war. Die Häftlinge hatten hier ein hochgradig differenziertes und anspruchsvolles Netzwerk von Männern und Frauen errichtet, die sich der Erziehung der Theresienstädter Kinder und Jugendlichen widmeten. Neben Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in vielen Disziplinen wurde großer Wert auf soziales und ethisches Verhalten gelegt, dies aber in Rücksicht auf den Überlebenskampf, der den Handlungsrahmen der Heranwachsenden prägte. Ein kurzer Ausschnitt aus dem Tagebuch Egon Redlichs (1916-1944), der selbst Mitglied des Judenrats und eine der herausragenden Lehrerpersönlichkeiten des Ghettos war, verdeutlicht die Komplextiät der pädagogischen Fragen, auf die Redlich und seine KollegInnen Antworten zu suchen hatten:
14.11.1942
„How should we deal with the problem of stealing? What's the difference between a thief who steals for the sake of common welfare and one who does it for his personal enrichment? It is difficult to offer here a hundred percent moral education, since there are no role models. (Who won't swipe something here?) The solution for these problems is very difficult, although very interesting from an educational point of view.”35
Abschließend sei auf einen Aspekt eingegangen, der Erwachsene wie Kinder und Jugendliche offensichtlich gleichermaßen dazu bewegte, sich nahezu unablässig Versuchen des emplotments zu widmen: die Motivation des Bezeugens.
Den gespenstischen Vorgang des Auslöschens jeglicher Zeugnisse, anhand derer der Genozid lesbar wäre, beschreibt die kurz vor Kriegsende etwa 17-jährige Charlotte Veresová in ihrem Theresienstädter Tagebuch. Anfang des Jahres 1945 wird sie mit einigen Mithäftlingen dazu gezwungen, die Asche der verbrannten Leichen in den nahegelegenen Fluss Eger zu werfen. Charlotte durchschaut diesen Befehl, sowie die fieberhafte Verbrennung der Akten in den Archiven des Konzentrationslagers, zwar als Maßnahme der Deutschen, Spuren des Verbrechens zu vernichten, erfasst aber keineswegs die historiografisch so tragischen Dimensionen dieses Vorgangs. Für das Mädchen bedeutet dieser Auftrag schlicht einen Hinweis auf das baldige Ende ihrer quälenden Haftzeit.
„Gestern sind die Mädchen zu einer sehr ungewöhnlichen Arbeit ausgerückt. Sie mussten Urnen zur Eger tragen und dort hineinwerfen. Dafür hat jede eine halbe Dose Streichwurst bekommen. Und noch etwas Seltsames tut sich. Auf den Basteien verbrennen die Deutschen ihre Archive. Manchmal fliegt ein Stück Papier in unseren Garten, und wir lesen es. Wir dürfen es eigentlich nicht aufheben, und ein deutscher Soldat bewacht uns mit einem Gewehr, aber wir sind natürlich neugierig. Meist können wir ohnehin nicht viel davon lesen. Gewöhnlich steht auf dem Papier nur ein Name und ein Geburtsdatum. Es sind jüdische Namen. Die Deutschen haben es offensichtlich mit der Angst zu tun bekommen und versuchen, ihre Spuren zu verwischen. Aus welchem Grunde sonst sollten sie das tun? Es ist ein gutes Zeichen...“36
Die Papiere, auf denen „nur ein Name und ein Geburtsdatum“ zu lesen ist, „aufzuheben“ im doppelten Sinne, nämlich zu sammeln und zu bewahren, ist eines der historisch verankerten Mandate von Yad Vashem. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe – nämlich der für die Shoah besonders charakteristischen Auslöschung der eigenständigen Perspektive und Überlieferung der Opfer entgegenzuarbeiten – wurde bereits von den Opfern selbst während der Verfolgung begriffen, ohne dass dabei jedem Einzelnen die Dimension des von den Deutschen beabsichtigten Gedächtnismordes klar vor Augen stand. Die hier zitierte Zeugin des Gedächtnismords, Charlotte Veresová, ist sich ihrer Zeugenschaft womöglich gar nicht bewusst. Sie berichtet lediglich über „etwas Seltsames“, das ihr in den letzten Wochen ihrer Haftzeit widerfährt und aus dem sie die Hoffnung auf baldige Befreiung ableitet. Dennoch: Es ist Charlotte verboten, die zur Vernichtung vorgesehenen Dokumente auch nur aufzuheben – das Mädchen lässt sich durch dieses Verbot jedoch nicht davon abhalten, dies trotzdem zu tun und den gesamten Vorgang in ihrem (ebenfalls verbotenen) Tagebuch festzuhalten und damit zu dokumentieren.
Um einiges bewusster geht Charlottes um ein Jahr jüngere Lagergenossin Helga Weissová mit dem inneren Imperativ um, zu bezeugen, was sie wahrnimmt. Ihre Hinterlassenschaften gestaltet die hochbegabte Zeichnerin innerhalb zweier verschiedener Medien. Sie führt Tagebuch und malt Bilder. Ein Vorgang, der aufgrund seiner Rätselhaftigkeit und Schrecklichkeit in vielen Theresienstädter Dokumenten markant in Erscheinung tritt, wird von Helga zweifach, in Text und Bild, festgehalten. Es handelt sich um den Transport der 1.260 Kindern aus dem Ghetto Bialystok, die unter rätselhaften Umständen für einen Monat unter extremer Abschirmung von den übrigen Häftlingen in Theresienstadt stationiert wurden, ehe sie weiter nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Diesem Vorgang widmet auch die damals 14 Jahre alte Helga Weissová einen ausführlichen Eintrag in ihrem Tagebuch:
„Die Kaserne bei der Turnhalle muss geräumt werden, ein besonderes Nachtmahl wird gekocht, und die Aufnahmestelle macht sich bereit. Es heisst, dass polnische Kinder kommen. Das ist alles völlig unverständlich. Warum, wieso kommt es, dass sie aus Polen hierhergebracht werden?
Gestern um 5 Uhr kamen sie an. Niemand darf in ihre Nähe. In der Nacht wurden einige Pflegerinnen, Hausleiter und Ärzte zu ihnen gerufen. Außer diesen darf sich niemand ihrer Kaserne nähern. Aber wir haben doch einiges über sie in Erfahrung gebracht. Keines dieser Kinder kann tschechisch, wir wissen nicht einmal, ob es jüdische oder polnische Kinder sind. Von der Bastei kann man ein wenig zu ihnen hinübersehen. Am Morgen gingen sie in die Aufnahmestelle hinein. Sie schauen furchtbar aus. Man kann ihr Alter nicht einmal schätzen, alle haben sie alte Gesichter und ganz dünne Körperchen. Sie besitzen keine Strümpfe, und nur einige von ihnen haben Schuhe. Aus der Aufnahmestelle kamen sie mit kahlgeschorernen Köpfen heraus, sie haben Läuse. Alle haben sie so verängstigte Augen.
(...) Gestern wurden sie weggebracht, Ärzte, Pflegerinnen und Gebäudeleiter mit ihnen. Während der Dauer der Quarantäne wurde ihr Essen immer separat gekocht; auch hat man Schuhe und Kleider für sie gesammelt. Der einzige, der mit ihnen in Berührung kam, war Fredi Hirsch, der jetzt deshalb auf der Kommandantur im Bunker sitzt.
Woher sie kamen, haben wir nicht herausgefunden, auch nicht, wohin man sie deportiert hat. Zwar gab es Gerüchte, sie seien nach Palästina gebracht worden, aber das glaubt niemand. Auf jeden Fall sind sie fort. Alles, was von ihnen hier noch übrig ist, sind ein paar Zeilen, die die Kinder auf die Wände der Kaserne gekritzelt haben, die aber kaum jemand enträtseln kann.“37
Durch ihren sorgfältigen Eintrag stellt Helga sicher, dass die Tortur der Kinder zumindest in einem Theresienstädter Dokument, nämlich in ihrem Tagebuch, eingeschrieben wird. Sie tut dies unter ausdrücklicher Erwähnung der Spurlosigkeit, die das Verschwinden der Kinder charakterisiert. Die „paar Zeilen, die die Kinder auf die Wände der Kaserne gekritzelt haben, die aber kaum jemand enträtseln kann“, erscheinen Helga offensichtlich als zu defizitär. Sie kann sich mit der Dürftigkeit dieses Zeugnisses nicht abfinden und geht entschlossen ans Werk, um das für sie so rätselhafte Schicksal der Kinder zu bezeugen. Dabei geht sie sehr sorgfältig vor: Die Lücken ihres Wissens um die Hintergründe des historischen Ereignisses werden nicht durch eigene Spekulationen geschlossen, keine Wahrheiten konstruiert, Vermutungen als solche gekennzeichnet, Details hingegen so genau wie möglich wiedergegeben. Damit handelt Helga wohl intuitiv auf sehr professionelle Weise, denn gerade die scheinbare Gewissheit, die angeblich „vollständige“ Erinnerung über ein Ereignis kann nach Lyotard dessen Verschwinden im kollektiven Gedächntis ebenso bewirken wie das bewusste Auslöschen aller bezeugenden Spuren.
Als traue das Mädchen ihrem eigenen, schriftlichen Zeugnis selbst nicht über den Weg, hält sie ihren Blick (den verbotenen) auf die traurige Kinder-Kolonne zusätzlich im Bild fest. Sie tut dies gemäß einer Abmachung mit ihrem Vater, dem sie zu Beginn der gemeinsamen Haftzeit in Theresienstadt stolz ihr erstes dort entstandenes Bild zeigt: spielende Kinder, einen Schneemann, Winteridylle. Der Vater, das offenkundige Talent seiner Tochter fördernd, rät ihr mit der einfachen, aber äußerst schwer umsetzbaren Aufforderung „Zeichne, was du siehst“39, diese Begabung in den Dienst einer persönlichen Dokumentation des Erlebten zu stellen.
Der Stilwandel, den Helga während ihrer Haftzeit vollzogen hat, ist offenkundig. Trotzdem: Den im Tagebuch festgehaltenen erbärmlichen Zustand der Kinder vermag die 14-Jährige nicht wirklich ins Bild zu bannen. Die Kindgestalten haben immer noch runde, pausbackige Gesichter, alle tragen – im Widerspruch zur schriftlichen Beschreibung – Schuhe, einige sogar Stiefel. Helga mag dies selbst gespürt und dadurch auszugleichen versucht haben, dass sie der Zeichnung ein düsteres, von grober, schwarzer Schraffur dominiertes Timbre verlieh. Zusätzlich setzt sie einen zweiten motivischen Akzent in der Figur des Wachmannes (linke obere Bildhälfte), der die Abschirmung der Kinder von den übrigen Lagerhäftlingen verdeutlicht – ein Aspekt, der sicher wesentlich zur massiven Eingrabung dieses traumatisierenden Geschehens in das Gedächtnis der Wahrnehmenden beigetragen hat.
Die Passion des Bezeugens ist elementar. Sie bezieht sich, wie die angeführten Beispiele belegen, sowohl auf das von Anderen erleidete Schicksal als auch auf das eigene, das als eines unter zahllosen ein und derselben kollektiven Opfergemeinschaft betrachtet wird. Zeugnis abzulegen bedeutet, einen ersten, wesentlichen Schritt zu unternehmen, um die Kontinuität der eigenen Existenz, aufgehoben in der sie umschließenden Kultur und Tradition, zu retten.
Die Initiation hierzu verschafft dabei die mit Schrecken gewonnene Erkenntnis, dass buchstäblich nichts von der eigenen Existenz bleiben wird, wenn nicht durch eigene Kreativitätsleistung der deutschen Vernichtungsmaschinerie entgegengearbeitet wird. Auf diese Problematik stößt unweigerlich derjenige, der sich in der angewandten Psychologie im Umgang mit Überlebenden der Shoah mit dem zentralen Aspekt des „missing-gravestone-syndrome“ befasst. James E. Young führt in seinem Essay zu „Germany's Vanishing Monuments“ die Beobachtung an, dass gerade als Antwort auf die dramatische Abwesenheit jeglicher Grab- und Gedenkorte für die sechs Millionen Ermordeten und Verbrannten der Shoah die ersten Gedenkstätten durch das Medium der Literatur errichtet wurden. Damit seien innere Räume des Gedenkens, imaginative Grabstätten entstanden, die die Erinnerungsarbeit in intensiverer Weise an den Gedenkenden zurückgeben, als dies Denkmäler aus Stein, Glas oder Beton zu leisten imstande seien.40 Und damit sei abschließend das Wort noch einmal an Mina Perlberger gegeben:
„Writting the diary, will be like a monument to my family, because we don't have no grave, to put a monument on.“41
Dr. Noa Mkayton studierte Germanistik und Musik in München. Sie unterrichtete an einem Münchner Gymnasium und promovierte an der Universität Potsdam über die Kreativität von Kindern und Jugendlichen während der Shoah. Seit 1999 lebt sie in Israel. Noa Mkayton leitet den Desk für die Deutschsprachigen Länder am European Department der International School for Holocaust Studies, Yad Vashem.