Anja Reuss/Kristin Schneider (Hg.)
Berlin-Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten: Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden
Metropol Verlag, Berlin 2013
496 Seiten
24 €
Fast 70 Jahre nach dem Ende des Krieges und der Befreiung von Auschwitz könnte man denken, dass das meiste, was über das Leben von Jüdinnen und Juden während der Shoah herauszufinden ist, auch schon herausgefunden wurde. Das Buch Berlin – Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten: Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden zeigt jedoch, wie schwierig es bis heute ist, die Lebensgeschichten von während der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden zu rekonstruieren. In ihrer Einleitung betonen die beiden Herausgeberinnen Anja Reuss und Kristin Schneider, wie schwer es ist, noch Überlebende der jeweiligen Familien zu finden und wieviele Lücken bleiben. Einerseits werden immer mehr Zeitzeugnisse und Arbeiten über die Shoah publiziert und anderseits entfernen wir uns mehr und mehr von der Epoche und es gibt immer weniger Zeitzeugen, die darüber berichten können.
Die beiden Herausgeberinnen enden allerdings mit einem sehr positiven und optimistischen Ansatz: „’Bleibt ungeklärt’ heißt nicht, dass vollkommen auszuschließen ist, dass fehlende Informationen nicht doch noch gefunden werden könnten, sondern eher, dass diese bislang nicht geborgen sind.“
Die Recherchen dieses Gedenkbuches basieren hauptsächlich auf der Arbeit einer Gruppe von Studenten von der Humboldt Universität zu Berlin, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Geschichten von Jüdinnen und Juden zu finden, in deren Leben gewaltsam eingegriffen wurde, als sie von Berlin nach Minsk deportiert wurden.
Herausgekommen ist ein beeindruckendes Werk von fast 500 Seiten, das eine historische Einführung zur Situation der Jüdinnen und Juden in Berlin, zum Sammellager in der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße und nicht zuletzt zu den Deportationen, zur Stadt Minsk und dem Ghetto in Minsk umfasst. Anschließend werden 59 Biografien bzw.
Sammelbiografien von Einzelpersonen und Familien nachgezeichnet, die die Shoah nicht überlebt haben. Somit leistet dieses Werk auch eine wichtigen Beitrag zur ständigen Arbeit dem nationalsozialisten Ziel entgegenzuwirken, nicht nur das Leben von ca. 6 Millionen Menschen, sondern auch die Erinnerung an sie auszulöschen. Die recherchierten Lebensgeschichten können sich teilweise auf eine Fülle von Informationen stützen, teilweise auf nur noch sehr wenige. Manchmal sind wunderschöne Fotos der Personen, ihrer Familien, Wohn- und Arbeitsorte in Berlin und persönlicher und offizieller Dokumente zu sehen. An anderen Stellen sind lediglich Fotos von Stolpersteinen abgebildet, die in Erinnerung an die Menschen vor deren letzten Wohnorten verlegt wurden.
Abschließend werden die Deportationslisten dokumentiert, die mit einer hilfreichen Einführung versehen wurden.
Es ist ein Gedenkbuch, das dem Leser Aufschluss über das reiche jüdische Leben vor, während und auch nach der Shoah gibt. Es gewährt Einblick in die schreckliche Ungewissheit, die begann, als der Bescheid kam, sich im Sammellager in Berlin einzufinden und sich für die Deportation vorzubereiten. Dies bedeutete, dass man einen Koffer mit maximal 50 kg packen musste, ohne zu wissen für welche Situation man sich vorbereiten musste. Man schloss die Wohnung hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein, obwohl man sich fragte, ob es je eine Rückkehr geben würde. Auf diese Situation gab es ganz unterschiedliche Reaktionen von Jüdinnen und Juden, die mit schwierigen Entscheidungen und zahlreichen Dilemmata zu kämpfen hatten.
Ein Beispiel dafür ist Manfred Alexander, der in Berlin ins Gymnasium gegangen war, danach Maurer gelernt und heimlich Statik, Ingenieurwesen und Berechnung von Baustoffen studiert hatte. Mit dieser Ausbildung hatte er einen Job in einer Konstruktionsfirma bekommen, wo er bis zu seiner Deportation arbeiten konnte. Er entschied sich zusammen mit seiner Familie in das Sammellager in der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstrasse zu gehen und nicht wie andere Juden in den Untergrund, weil er seine Eltern nicht alleine lassen wollte. Daraufhin wurde er mit ihnen zusammen nach Minsk deportiert, von wo ihm allerdings, als einem von ganz wenigen, mit Hilfe seines nicht-jüdischen deutschen Vorgesetzten Arnold Ortmann die Flucht gelang. Nach einer Odyssee unter ständiger Lebensgefahr gelangte er zurück nach Berlin. Dort angekommen, ging er zu seiner Freundin Helene Lohse und deren Mutter Luice Gottberg, mit denen er versuchte, in die Schweiz zu gelangen. Die Entscheidung, seine Eltern in Minsk zurückzulassen und zu fliehen, war, „[w]ie Manfred Alexander ausdrückte, [...] die eindrucksvollste und schwerste Entscheidung, die er jemals in seinem Leben getroffen hat, und er brauchte Jahre, um darüber hinwegzukommen. Er wusste, dass seine Eltern in Minsk in Lebensgefahr schwebten, und dass sie das Ghetto und die Zwangsarbeit vielleicht nicht überleben würden. Ihm war aber auch klar, dass er nicht gemeinsam mit seinen Eltern fliehen konnte, und so versuchte er wenigstens sein eigenes Leben zu retten.
Viele entschieden sich wegen ihrer Familienangehörigen gegen eine Flucht. Sie versuchten auf andere Art und Weise ihr Leben zu retten. Manche nähten sie trotz Verbot Geld und Wertsachen in die Kleidung ein, in der Hoffnung diese irgendwann eintauschen zu können. Träger militärischer Auszeichnungen des Ersten Weltkrieges versuchten mit diesen Auszeichnungen deutlich zu machen, dass sie sich als Deutsche und Patrioten fühlten und daran zu erinnern, dass sie für ihr Vaterland im Ersten Weltkrieg ihr Leben gelassen hätten. Den letzten Ausweg und die letzte Reaktion auf die unmenschliche Behandlung sahen einige im Selbstmord. Wie immer in der Geschichte der Shoah kann man die einzelnen Lebensgeschichten nicht getrennt von ihrem Umfeld betrachten, was auch in diesem Gedenkbuch deutlich wird.
Manfred Alexander, seine Freundin Helene und deren Mutter hätten nicht überlebt, wäre ihnen nicht an mehreren Stellen von nicht-jüdischen Menschen geholfen worden: Da ist zum einen der schon erwähnte Vorgesetzte Arnold Ortmann, der Manfred Alexander zur Flucht aus Minsk verhalf, und ein Zugführer, der ihn vor Kontrollen der SS warnte und ihn nicht verriet, da ist zum anderen sein Freund Werner von Biel, der ihn in seiner Wohnung in Berlin aufnahm und ihn für die Flucht in die Schweiz ausrüstete, dann die Fluchthelfer, die bezahlt werden mussten und die drei Flüchtlinge nicht verrieten, und nicht zuletzt der blinde Monsignore Simoni, der die Flüchtlinge in seiner Kathedrale versteckte, sie versorgte und ihnen zur weiteren Flucht verhalf, indem er ihnen den Namen eines Bauern gab, der sie über die Grenze schmuggelte. Mit der Beschreibung des Umfeldes der Betroffenen entsteht eine multiperspektivische Quellenlage, die es ermöglicht die unterschiedliche Verhaltensweisen von Menschen in einer speziell historischen Situation nachzeichnen zu können.
Manfred Alexander setzte sich dafür ein, dass wenigstens einer seiner Helfer ausgezeichnet werden würde: Sein Freund Werner von Biel. „Manfred Alexander war es wichtig, noch mitzuerleben, dass sein Freund für alles, was er für ihn getan hatte, gewürdigt wird.“ Am 31. Dezember 2003 wurde Manfred von Biel für seine Hilfe als Gerechter unter den Völkern von Yad Vashem ausgezeichnet.