Dr. Silvio Peritore und Frank Reuter
Mit Zoni Weisz aus den Niederlanden sprach am 27. Januar 2011 der erste Holocaust-Überlebende aus den Reihen der Sinti und Roma vor dem Deutschen Bundestag. Zu Recht wurde dieser Auftritt in den Medien als Zäsur gewürdigt. Denn die jahrzehntelange Ausgrenzung der Sinti und Roma aus dem historischen Gedächtnis der Bundesrepublik spiegelt sich auch darin wider, dass Zeugnisse von Überlebenden aus dieser Minderheit lange Zeit kaum in der Öffentlichkeit präsent waren. Erst seit den 1980er Jahren erschien, angestoßen durch die sich etablierende Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma, eine langsam, aber stetig wachsende Zahl entsprechender Zeitzeugenberichte, wenngleich sich ihre Zahl im Vergleich zu den Publikationen jüdischer Opfer immer noch bescheiden ausmacht.
Die Bereitschaft der Überlebenden, ihr Verfolgungsschicksal öffentlich zu machen, korrespondiert mit der Akzeptanz der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Leitmedien, den individuellen Lebens- und Leidensgeschichten Aufmerksamkeit zu schenken. Im Falle der Sinti und Roma schuf erst der um 1980 einsetzende Paradigmenwechsel im öffentlichen Umgang mit dem Genozid an dieser Minderheit die Voraussetzungen, dass die Perspektive der Opferin die nationale Gedenkkultur einfließen konnte, um schließlich auch den mehrheitsgesellschaftlichen Blick auf dieses Verbrechen grundlegend zu verändern.
Die erste Autobiografie eines deutschen Sinto veröffentlichte der Berliner Sinto Otto Rosenberg im Jahr 1998 im Eichborn Verlag, inzwischen liegt das Buch in englischer, italienischer und polnischer Sprache vor.
In der Folge ist eine ganze Reihe weiterer autobiografischer Bücher überlebender Sinti und Roma erschienen. Neben zwei Sammelbänden seien exemplarisch die Erinnerungen von Anna Mettbach, Walter Winter, Franz Rosenbach, Ewald Hanstein sowie Hugo und Mano Höllenreiner genannt.
Allgemeines Kennzeichen der genannten Werke ist ihr lebensgeschichtlicher Ansatz. Zwar liegt der Fokus auf der Verfolgungsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch das Aufwachsen in der Geborgenheit der Familie und der schwierige Neubeginn nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern werden thematisiert. Sichtbar wird so ein differenziertes Bild der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma jenseits der NS-Propaganda, die auch nach 1945 die allgemeine Vorstellung der Minderheit und ihre öffentliche Wahrnehmung dominierte. Mit dem 1992 publizierten Buch von Karola Fings, Cordula Lissner und Frank Sparing über die Verfolgung der Roma in Jugoslawien wird der Fokus erstmals auf individuelle Schicksale und biografische Aussagen von überlebenden Roma aus Südosteuropa gelegt.
In den Ausstellungen und Publikationen des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma nehmen die Aussagen der Überlebenden und ihre persönlichen Zeugnisse von Anfang an einen zentralen Platz ein. Die meisten Besucher der ständigen Ausstellung in unserem Heidelberger Zentrum haben von Klischees geprägte Vorstellungen über Sinti und Roma, denen keine realen Erfahrungen oder persönlichen Kontakte mit Angehörigen der Minderheit zu Grunde liegen. Hier haben Zeitzeugenberichte eine Funktion über die Vermittlung historischen Wissens hinaus.Der Überlebende wird als Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte sicht- und erfahrbar. Die Begegnung mit einer konkreten Person, und sei es nur in Form eines Videos, kann tief verwurzelte Stereotypen aufbrechen.
Die von Steven Spielberg 1994 in Los Angeles gegründete Stiftung „SurvivorsoftheShoah“ leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung der persönlichen Erinnerungen. In Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen weltweit wurden über 52.000 Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden produziert, darunter etwa 420 Interviews mit Sinti und Roma. Das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma hat Überlebende dazu bewogen, ihre Geschichte im Rahmen dieses Projekts zu erzählen. Als Facheinrichtung erhielt das Zentrum im Gegenzug die Berechtigung, die aufgezeichneten Interviews mit deutschen Sinti und Roma für die eigene pädagogische Arbeit zu verwenden. In ihrer Gesamtheit repräsentieren diese Zeugnisse einenwirkungsmächtigen Gegenentwurf zu den Konstrukten der Täterpropaganda und könnenzum Abbau von antiziganistischen Vorurteilen beitragen.
Zeitzeugen verkörpern für viele Besucher eine moralische Autorität. Sie ermöglichen eine Form des emphatischen Verstehens, die allein über Bücher oder Dokumente kaum zu erreichen ist. Auf der anderen Seite birgt jedes Interview mit einem Zeitzeugen eine große Erwartungshaltung. Der berechtigte Wunsch nach Erkenntnisgewinn darf jedoch nicht zulasten des emotionalen Schutzes der Überlebenden gehen, die vor, während und nach dem Interview einem nicht zu unterschätzenden psychischen Druck ausgesetzt sind. Das Ergebnis eines Zeitzeugengesprächs hängt wesentlich von der Vertrauensbasis zwischen dem Interviewer und dem Überlebenden ab.
Im Falle der Sinti und Roma kommt ein entscheidender Aspekt hinzu. Das systematische Ausfragen durch nationalsozialistische „Rassenforscher“ ist integraler Bestandteil der Verfolgungserfahrung und damit Teil des erlittenen Traumas. Bei dieser Opfergruppe ist deshalb eine besondere Sensibilität auf Seiten des Interviewers vonnöten. Viele Sinti und Roma mussten als Kinder oder Jugendliche existenzielle Erfahrungen von Tod, Verlust und unsagbarem Schrecken machen. Bei lebensgeschichtlichen Erzählungen „stehen die Überlebenden vor dem Problem, dass die extreme Traumatisierung nicht in Sprache gefasst werden kann“. Für die von uns geführten Interviews gilt als Richtschnur: Es ist der Überlebende, der die Sagbarkeitsgrenze bestimmt.
In Zeitzeugenberichte fließen zwangsläufig auch nach der Verfolgung angeeignete Lebenserfahrungen und Deutungsmuster ein. Durch Rezeption von Literatur und Austausch mit anderen Zeitzeugen wird persönliche Geschichte zeitlich, räumlich und inhaltlich zum Teil neu verortet. Probleme können daraus resultieren, dass der Zeitzeuge manches vermengt, verwechselt oder sogar konstruiert, weshalb ein kritischerUmgang mit Zeitzeugenberichten unverzichtbar ist. Wer solche Zeugnisse zu wissenschaftlichen oder pädagogischen Zwecken verwendet, hat die Aufgabe, das Erzählte in den historischen Kontext einzubetten und mit anderen verfügbaren Quellen abzugleichen. Hier stehen Historiker in einer besonderen Verantwortung, denn allzu leicht werden vermeintlich „falsche“ Erinnerungen entwertet oder gar als Anknüpfungspunkte für revisionistische Deutungsmuster missbraucht.
Exemplarisch für ein Erinnerungszeugnis, dessen emotionale Intensität den Leser gefangen nimmt, ist das Buch mit dem Titel „Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen!“, in dem der Sinto Reinhard Florian über seine Verfolgungsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Es erschien anlässlich der Einweihung des nationalen Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma im Herbst 2012.
In ebenso schlichten wie eindringlichen Worten schildert der ostpreußische Sinto seine Odyssee durch das nationalsozialistische Lagersystem. Orte wie Mauthausen, Auschwitz-Monowitz, Gusen oder Ebensee werden für ihn zu Stationen einer niemals endenden Entwürdigung. Immer wieder beschwört er die Grenzen dessen, was überhaupt noch mit Worten mitgeteilt werden kann: „Ihr habt vielleicht eine Menge gehört und lest staunend meinen Bericht. Aber mit wem kann ich mich über meine Erfahrungen unterhalten, über meine Erlebnisse, über das Unsagbare, das ich mitgemacht habe? Das hat mit dem Menschsein nichts mehr zu tun.“ Reinhard Florian stellt ebenso anschaulich wie erschütternd dar, wie Menschen zu Arbeitssklaven entwertet werden, deren Lebensrecht nach durchschnittlich drei Monaten – nachdem sie zum Gerippe abgemagert sind – endgültig erlischt. Er erzählt von einem Häftlingsalltag, der geprägt ist von grenzenloser Willkür, dem eigenen Abstumpfen gegenüber dem Leid des Mitgefangenen, und von der Allgegenwart des Hungers: „Als bereits alles hoffnungslos war, als wir alle vorigen Hoffnungen bereits begraben hatten, war da noch eine Hoffnung auf die nächste Mahlzeit, denn der Hunger war unerträglich.“
Die meisten seiner Angehörigen hat Reinhard Florian in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern verloren. Von der elfköpfigen Familie überleben außer ihm nur sein Vater und ein Bruder, die er erst viel später wiedertrifft. In seine geliebte ostpreußische Heimat kann er nach seiner Befreiung aufgrund der veränderten weltpolitischen Lage nicht mehr zurück. Der Leser begreift: Eine solche Wunde kann niemals ganz heilen. Wie ein Schatten legt sich die traumatische Erfahrung des Lagers über das Leben von Reinhard Florian, auch nach seiner Befreiung: „Ich bin zu sehr gequält worden, als dass ich heute noch lachen kann über irgendetwas. Mein Lachen ist eine Grimasse, aber nicht mehr. Das Lachen ist mir vergangen. Ich kann nicht mehr von Herzen lachen.“
Wie Reinhard Florian eindrücklich demonstriert, sind Zeitzeugen weit mehr als Faktenlieferanten. Sie erzählen vom viel beschworenen Zivilisationsbruch aus der Perspektive derer, die ihn am eigenen Leib erfahren mussten. Bei ihren Erinnerungszeugnissen kann es infolgedessen nicht in erster Linie um historische, juristische, pädagogische oder publizistische Verwertbarkeit gehen. Wie keine andere Quellengattung machen die Berichte der Überlebenden die Dimension des individuellen Leidens und des unwiederbringlichen menschlichen Verlusts für die nachfolgenden Generationen zumindest in Ansätzen begreifbar.
Ungeachtet der notwendigen Sorgfalt im Umgang mit autobiografischen Texten bleibt als Resümee festzuhalten: Die Zeugnisse der Überlebenden bedürfen keiner weiteren Begründung oder Legitimation. Sie tragen ihren Wert in sich selber.
Bei dem Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Artikels, der im letzten Jahr veröffentlicht wurde: Silvio Peritore/Frank Reuter: Das lange Schweigen. Zeugnisse überlebender Sinti und Roma und ihre Bedeutung für die historische Aufklärung, in: Informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945. Nr. 78: Zeitzeugen, November 2013 (38. Jg.), S. 20–24.
Dr. Silvio Peritore ist Leiter des Referats Dokumentation im Dokumentations - und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Heidelberg), Frank Reuter arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter.