Dr. Dominik Sauerländer
„Der Völkermord an den Sinti und Roma ist immer noch ein ‚vergessener Holocaust’, weil ihm in den Medien nach wie vor wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.“
Die Worte von Zoni Weisz, dem Repräsentanten der niederländischen Sinti und Roma, die er 2011 am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus an den Deutschen Bundestag richtete, gelten auch heute noch. Auch nach der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Oktober 2012 ist das Schicksal dieser Opfergruppe in der Öffentlichkeit noch wenig bekannt. Dies trifft insbesondere auch für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, sowie für diverse Unterrichtsmaterialien zu.
Diese Lücke wird nun allerdings um einiges kleiner. Mit der Website hat Gerhard Baumgartner von erinnern.at digitale Unterrichtsmaterialien geschaffen, die einfach und rasch einsetzbar sind, inhaltlich umfassend informieren und einen aufgabenbasierten, multiperspektivischen Unterricht ermöglichen. Die Website steht in Deutsch, Französisch und Englisch kostenlos zur Verfügung. Sie ist übersichtlich gestaltet und behandelt die wesentlichen Themen und Ereignisse des Völkermordes an den europäischen Sinti und Roma. Die Auswahl der Themen erfolgte in Zusammenarbeit mit VertreterInnen verschiedener Organisationen europäischer Roma und Sinti und mit HistorikerInnen aus den betroffenen Ländern, wobei sich die Unterrichtsmaterialien selber nur auf diejenigen Länder beziehen, in denen Roma und Sinti verfolgt und ermordet wurden Zu beteiligten Ländern – auch zu denjenigen, in denen direkt keine Verfolgungen und Ermordungen stattfanden – sind unter dem Menüpunkt „Hintergrundinformationen“ eine Bibliografie sowie unterschiedliche Materialien, biografische Beispiele und Links abrufbar.
Die eigentlichen Unterrichtsmaterialien in Form von Arbeitsblättern sind in fünf thematische Einheiten gegliedert: Roma und Sinti vor dem zweiten Weltkrieg, Diskriminierung und Verfolgung, Nazi-Herrschaft, Völkermord und schließlich Überlebende und Erinnerungskultur. Jede dieser thematischen Einheiten (außer der letzten zu den Überlebenden) wird mit einer Europakarte hinterlegt, auf der die zu diesem Thema wichtigsten Orte – meist Lager – verzeichnet sind. Diese Karten machen unmittelbar klar, dass die Sinti und Roma bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und diskriminiert wurden. So sind zum Beispiel bereits auf der ersten Themenseite (Roma und Sinti vor dem zweiten Weltkrieg) drei Gefangenenlager verzeichnet, von denen eines (Witzwil) auch in der Schweiz lag.
Jede Themeneinheit enthält Arbeitsblätter mit Lernaufgaben, die direkt von der Website als PDF heruntergeladen und ausgedruckt werden können. Die Lernaufgaben behandeln einerseits die dokumentierten Lager, vor allem aber bieten sie Vertiefungen zu zentralen Aspekten des Themas durch exemplarische und biografische Zugänge. Alle Aufgabenblätter sind identisch aufgebaut. Im Zentrum steht eine Bildquelle – meist eine Fotografie – die durch einen Text erschlossen wird. Weiter enthalten die Aufgabenblätter jeweils drei Rubriken: Unter „Wusstet ihr“ werden kurze Kontextinformationen angeboten, die die Bildquellen in einen größeren historischen Zusammenhang stellen und mit anderen Lernaufgaben verknüpfen. „Zum Foto“ gibt genaue Hintergrundangaben zur Quelle und schließlich formuliert „Eure Aufgabe“ die eigentliche Lernaufgabe, die mit der Bildquelle verknüpft ist. Dies alles ist äußerst knapp gehalten, so dass die Lernenden sich rasch auf die Aufgabe konzentrieren können.
Die Lernaufgaben sind vielfältig und können sehr gut in arbeitsteiligen Gruppenarbeiten durchgeführt werden. Jede einzelne Lernaufgabe ist stets so formuliert, dass Lernende sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen. Zu allen Themen werden spezifische Aufgaben zur Arbeit mit Fotografien angeboten, die die Lernenden in die Quellenanalyse einführen. Sonst verlangen die meisten Aufgaben Recherchen, Interpretationen und die Formulierung eigener Thesen und Meinungen. Dabei sind weniger erfahrene Lernende wohl auf die Unterstützung der Lehrperson angewiesen und es braucht im Anschluss an Gruppen- oder Einzelarbeiten einen Austausch in geeigneter Form.
Neben der Auseinandersetzung mit Fotografien steht ebenfalls die Arbeit mit Biografien im Vordergrund. Verschiedene Lernaufgaben beziehen sich auf Biografien europäischer Sinti und Roma, so zum Beispiel auch diejenige von Zoni Weisz. Rechercheaufgaben beziehen sich oft auf die Website, wo Schülerinnen und Schüler rasch die nötigen Informationen finden können. Damit stehen die Opfer im Zentrum, ohne aber die Täter und Zuschauer zu vergessen. Deren Rolle wird allerdings nicht in biografischen Zugängen beleuchtet, sondern ist in verschiedene thematische Lernaufgaben eingebunden.
Neben den Lernaufgaben bietet die Website ein Glossar für Schülerinnen und Schüler sowie ein umfassendes Handbuch für Lehrpersonen mit fachlichen Hintergrundinformationen sowie didaktischen Hinweisen zur Arbeit mit Fotografien, Biografien und spezifischen Geschichtsbildern. Zur Verfügung stehen auch PDFs der verwendeten Fotografien ohne Bildunterschriften sowie ein Gesamt-Download aller Arbeitsblätter.
Insgesamt bietet die Website sehr gut strukturierte und einfach einsetzbare Unterlagen für den aufgabenbasierten Unterricht. Es empfiehlt sich, die Aufgaben im Rahmen der Unterrichtsplanung genau anzusehen, um nötigenfalls ergänzende Materialien oder unterstützende Hinweise vorbereiten zu können. Schade ist höchstens, dass die Unterlagen – obwohl elektronisch verfügbar – nicht verändert und angepasst werden können.
Dr. Dominik Sauerländer ist Historiker und Dozent für Geschichte und ihre Fachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.