Awi Blumenfeld
Es wird als gegeben angesehen, dass die kollektive Erinnerung für die Konstruktion ethnischer, religiöser und struktureller Identität von ungemeiner Bedeutung ist. Laura Wacos, eine der ersten Vertreterinnen der sogenannten „Second Generation“, also jener Generation, die nach der Shoah geboren wurde, deren Leben aber dennoch von den traumatischen Erlebnissen der Eltern beeinflusst war, beschreibt, dass in Deutschland „von zu Hause“, also vom Leben vor und während der Shoah, „nichts erzählt“ wurde.
Die „Ironie der Geschichte“, so der Historiker Michael Brenner, ließ Deutschland zu einem der Rettungshäfen von Shoah-Überlebenden und Geflüchteten werden.
Hunderttausende von Überlebenden emigrierten über Deutschland und Österreich nach Palästina/Israel, Kanada und in die USA. Dass von den knapp über 200.000 Heimatlosen einige in Deutschland blieben, mag dementsprechend nicht verwundern. Die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland schwankte in den 1950er Jahren zwischen 18.000 und 25.000 . Der Anteil der aus Osteuropa stammenden Juden in den jüdischen Gemeinden lag zwischen 15% und 95%.
Die Selbstbezeichnung dieser Überlebenden als Shearit Hapleitah, zu Deutsch „der Rest der Übriggebliebenen“, deutet, wie es Michael Bodemann ausdrückt, ein zentrales Charakterisikum dieser Gruppe an: die „Verweiler-Mentalität“, das „Leben im Wartesaal“ und auf „gepackten Koffern“. Wer konnte sich ernsthaft und aus ganzem Herzen vorstellen, in Deutschland oder – wie der Titel eines Buches mit Interviews von Überlebenden der Shoah nahelegt – im „Haus des Henkers“ zu leben? Diese Gruppe der Shearith Hapleitah bezeichnete sich selbst als „KZler“ oder auch „ leijbedige Tojte“, also lebende Tote. Dennoch waren sie für den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden und jüdischer Identität in Deutschland enorm wichtig. Die aus Osteuropa stammenden Überlebenden spielten eine zentrale Rolle für den Neubeginn jüdischen Lebens sowie für das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen ihnen und der deutsch-jüdischen Führungsgruppe, die an der Logistik und der Repräsentation der Gemeinden beteiligt waren. Das Leben „auf gepackten Koffern“ war zum einen geprägt vom schlechten Gewissen der Überlebenden, in Deutschland, dem Land der Mörder, geblieben zu sein, zum anderen von dem Schuldgefühl, überhaupt überlebt zu haben.
Wurzeln schlagen – der Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland durch die Erste und Zweite Generation
Die zweite Generation sollte das Andenken der Eltern weitertragen. Der alte ost- sowie mitteleuropäische, aschkenasische Brauch, die Kinder nach verstorbenen Familienmitgliedern zu benennen, damit in ihnen das Andenken fortlebe, wurde gerade in Deutschland für die Angehörigen dieser Generation ein kategorischer Imperativ.
Ein Kind war das Symbol für Leben und Kontinuität. Wie aber kann die Trauer verarbeitet werden, wenn der Leichnam des ermordeten Angehörigen nicht auffindbar ist und die Rituale der Beerdigung nicht begangen werden konnten? Die Kinder ermöglichten nun den Eltern, sich der Fantasie hinzugeben, dass die Toten ersetzbar wären und nichts verloren gegangen sei. Mein Freund wurde daher nach den beiden toten Brüdern seines Vaters Israel Hillel, meine Freundin Esther nach der ermordeten Mutter ihres Vaters und selbst meine Freundin und Kindergartenliebe Lili nach der Lieblingsschwester ihres Vaters benannt, die „der SS Mann an den Füßen gepackt und ihren Kopf an der Ecke unseres Hauses in Tschebin zerschmettert hat“. Ich selbst heiße Shmuel Jaakow Awraham und werde Awi genannt, also Samuel Jakob, nach meinem Großvater väterlicherseits, und Awraham nach dem Vater meiner Mutter. Das hebräische Wort Awi ist hier nicht wie fälschlich oft angenommen, die übliche hebräische Diminuitivform des Namens Awraham, sondern die wortgetreue Übersetzung des Begriffs „mein Vater“. In mir sollte die Vergangeheit meiner Großeltern weiterleben sowie Hoffnungen und Wünsche verwirklicht werden, die die Deutschen einst vernichteten.
Was bedeutet es, mit einem solchen Erbe aufzuwachsen? Und was bedeutet es für Kinder von Überlebenden, im Land der Mörder zu leben?
Seit der Staatsgründung der BRD wurde diese Frage immer wieder aufgeworfen. Die Jugendzeitung der religiös zionistischen Jugendbewegung Bnei Akiva schreibt 1982, wie es mit dem Gewissen zu vereinbaren sei, in der Straßenbahn einem 80jährigen Mann seinen Sitzplatz anzubieten, wenn dieser doch „der potentielle Mörder deiner Großeltern sein könnte“.
Für die Überlebenden und die nachkommende Generation in Deutschland, waren die Opfer der Shoah unbekannte, oft über ihr Schicksal nicht sprechende, Helden und wurden so zu den Sinnstiftern ihrer Identität. Einen weiteren Fixpunkt der Identität jüdischer Jugendlicher der zweiten Generation stellte die Identifikation mit dem Projekt des Zionismus und dem jüdischen Staat Israel dar. Hatte dieser sich doch dem Ethos des Exils entgegengestellt, das eigene Schicksal kämpferisch in die eigene Hand genommen und, wie im Sechs-Tage-Krieg „bewiesen“, sich dem Werdegang der Shoah erfolgreich widersetzt.
Durch ein erstarkendes Selbstbewusstsein der in den 1970er, 80er und 90er Jahren heranwachsenden Zweiten Generation, kam es zu immer größeren Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden und der deutschen nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft, zu einem „Aufeinanderprallen der kollektiven Identitäten“ von „Deutschen und Juden“, die alle mit der Shoah zusammenhingen. Im Gegensatz zu späteren Debatten, wie jener zwischen Ignaz Bubis und Martin Walser oder der um das Holocaustmahnmal, beteiligten sich bei den Ereignissen dieses Zeitraumes vor allem jugendliche Vertreter jüdischer Organisationen. Meilensteine waren hierbei:
- Der Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Militärfriedhof in Bitburg, wo es zu einem historischen Handschlag über den Gräbern ehemaliger SS - Mitglieder kam. Dies führte zur Empörung jüdischer Jugendlicher in Deutschland.
- Die Bubis-Fassbinder-Kontroverse, bei der Massen von jüdischen Gemeindemitgliedern - darunter auch eine große Anzahl von Überlebenden - gemeinsam demonstrierten und die Theaterbühnen stürmten.
- Die Börneplatz-Kontroverse, bei der sich die zweite Generation zum ersten Mal mit deutsch-jüdischer Geschichte vor der Shoah öffentlich auseinandersetzte.
Diese Reaktionen richteten sich jedoch in erster Linie nach „außen“, also an die nicht-jüdische Gesellschaft. Mitte der 1990er Jahre hatte man immer noch den Eindruck, dass jüdisches Leben in Deutschland eine formlose Hülle ohne jeglichen Inhalt war. Lediglich ein Name, der – wie der Volksmund sagt – bekanntlich aus Schall und Rauch besteht. Doch ein besonderer Schall und Rauch. Der Schall der Schreie aus den Gaskammern von Auschwitz, Treblinka und anderer Vernichtungslager und der Rauch der Krematorien. Der Schrei der Verfolgten, das Trauma des Churbans, der Shoah, schien nach wie vor ein wesentliches identitätsstiftendes Momentum zu sein. Juden in Deutschland, „wissen nicht“, wie Peter Sichrovsky im Titel seines Buches feststellt, „was morgen wird“, jedoch wissen wohl, „was gestern war“.
Unter anderem aus diesen Gründen stellte die unzureichende jüdische Erziehung und Traditionsvermittlung im besten Falle einen Bezug zur Geschichte des Judentums außerhalb Deutschlands her. Sie vermittelte aber über das Elternhaus, jüdische Gemeindeinstitutionen, Jugendbewegungen und sonstige Formen der schulischen oder außerschulischen Erziehung kaum oder nur selten etwas über jüdische Geschichte in Deutschland.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hatte es trotz immer wieder verlautbarten Bekundungen und Willensäußerungen nicht geschafft, ihr Dasein auf eine Basis zu stellen, die von eigenständiger jüdischer Identität und intensiv gelebtem jüdischen Leben bestimmt ist. Trotz einer mittlerweile existierenden jüdischen Hochschule, Rabbinerkollegien in Potsdam und Berlin und über 100 etablierten Gemeinden vollzieht sich, wie in der Literatur fast aller jüdischen Schriftsteller der Zweiten und Dritten Generation nachzulesen ist, deren spezifisch jüdische Identitätskonstruktion,sofern vorhanden, vor dem Hintergrund der Shoah.
Wer ein Haus baut will bleiben
Zwar vollzog sich seitens dieser Zweiten und Dritten Generation seit den achtziger Jahren ein gewisser Wandel: zum einen die physische, zum anderen die spirituelle Manifestierung des Daseins, welche sich im Bau von Synagogen und Gemeindezentren ausdrückte. Dennoch fungierte die Shoah bis weit in die 1990er Jahre als primärer Identitätsstifter und man vergaß, das Leben dieser Gemeinschaft mit entsprechenden Inhalten zu füllen.
Die Shoah und die jahrtausendealte Opfergeschichte des Judentums dienen also als identitätsstiftende Ereignisse, die im kollektiven jüdischen Gedächtnis bewahrt werden. Wo blieben da die positiven Werte des Judentums und seiner Inhalte? Worin besteht der Sinn der Synagogen sowie der jüdischen Museen und deren Rolle für das Judentum in Deutschland heute? Das eigene Dasein als steten Kampf gegen die feindlich gesinnte Umwelt zu interpretieren, war und ist dem Judentum in Deutschland nichts Neues.
In einer von Alphons Silbermann und Herbert Sallen in den 1980er Jahren herausgegebenen Studie mit dem Titel „Juden in Westdeutschland: Selbstbild und Fremdbild einer Minorität“ wird in der Einleitung zum Thema „Antisemitismus“ die Frage nach dem Selbstbild der Juden gestellt. Es ist bezeichnend, dass hier die Selbstdefinition aus der Negation heraus bestimmt werden soll. Juden in Deutschland definieren sich als Juden aufgrund eines nach wie vor vorhandenen Antisemitismus und der Shoah.
Missstände innerhalb der Gemeinden wurden angeprangert, jedoch keine Konzepte entwickelt. Und obgleich viel Optimismus bezüglich dem Bleiben und der Zukunft der Juden in Deutschland ausgesprochen wurde, gab es keinerlei konkrete Überlegungen, wie diese Zukunft zu gestalten sei. So mag es auch nicht verwundern, wenn in einer Jugendzeitschrift aus dem Jahre 1990 folgende Zustandsbeschreibung der Juden sowie des Judentums in Deutschland zu lesen ist: „Ist das Judentum wertlos? Erschöpft sich Judentum in gesellschaftlichen Bällen, (und) den obligatorischen drei Synagogenbesuchen im Jahr...? Warum ist die faktische Anpassung (an die nichtjüdische Umwelt) so groß, dass vom Judentum nur noch eine inhaltslose Hülle übrigbleibt?“. Auch die Vorsitzende des „Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland“ klagt in jenem Jahr über Inhaltslosigkeit und ein negatives, durch die Verfolgungsgeschichte definiertes Judentum, sowie über die Passivität und Konsum-Mentalität der Jugendlichen.
Doch dass dieser Zustand nicht unbedingt die Norm sein muss, zeigen andere Beispiele, vor allem in den ehemaligem Ostblockstaaten oder in Wien. Sogar das renommierte US-Magazin „TIME“ widmete dem jüdischen „Wiedererwachen“ und „Back to the Roots“-Gefühl der Juden eine Titelstory. Das Ausmaß der Entfremdung der Juden vom Judentum im Deutschland der 1980er und 90er Jahre kann, wie Michael Y. Bodemann richtig feststellt, durch die Buchtitel damals jüngerer jüdischer Autoren aufgezeigt werden: „Kein Weg als Deutscher und Jude“, „ Zu Hause keine Heimat“, „Fremd im eigenenen Land“, „Dies ist nicht mein Land“, und „Im Haus des Henkers“.
Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer ,negativen Symbiose' der Nachkriegszeit. Die jüdische Gemeinschaft wurde in die deutsche Gesellschaft eingebettet und akzeptierte diese Integration auf negative Weise, aber pragmatisch: Deutschland war zwar der letzte Ort auf der Welt, wo Juden leben wollten, aber man versuchte, das Beste daraus machen.
Heute – oder Potemkin an Elbe, Isar, Main, Rhein und Spree
Der Zustand der heutigen jüdischen Gemeinschaft und jüdischen Jugendlichen in Deutschland gleicht einer nach Antwort suchenden Frage, die immer wieder blinkend auf dem Monitor des zu Fragenden erscheint, aber außer dem stummen Schrei der Lähmung, der Untat oder eines lauten Schweigens der Resignation und Wut nicht beantwortet wird.
Es soll hier die Behauptung gewagt werden, dass die Aussage, „jüdisches Leben und jüdisches Denken im Nachkriegsdeutschland [sind] zu wesentlichen intellektuellen Konstanten geworden“,[17] nichts als eine bloße Mär, eine Hülle bar jeden Inhalts ist, und dass die seit den letzten 15 Jahren in Erscheinung tretenden jungen deutsch-jüdischen Schriftsteller und Intellektuellen nichts Wirkliches tun, um diese inhaltslose Hülle zu füllen.
In den Opferfamilien gab es das Phänomen des Schweigens und der Dialogunfähigkeit zwischen den Generationen, doch vollzog sich dieses Schweigen aus gänzlich anderen Gründen als in sogenannten Täterfamilien. Die Familien der Überlebenden schwiegen, weil man über das Grauen nicht sprechen konnte oder die Kinder schonen wollte. Das Schweigen der „Täter“ und Bystander diente vielmehr dem Verschleiern der eigenen Mitschuld oder Untätigkeit. In diesem Umfeld konnte nur schwer ein aktives und agiles jüdisches Bewusstsein entstehen.
Was könnte man dagegen tun? Diese Frage stellen sich heute viele jüdische Aktivisten. Es wäre, so z.B. ein Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München, Aufgabe der Akademiker der jüdischen Studien, eine feste Struktur zu etablieren, in der jüdische Geschichte und Religion verankert und mit entsprechendem Inhalt gefüllt wird. Dass dieser Anspruch bei weitem nicht erfüllt wird, sollen folgende drei Bespiele veranschaulichen:
1. Museen:
Jüdische Museen in Deutschland sind ihrer historischen und traditionellen Werte und Aufgaben entledigt und nahezu beraubt worden. Jüdische Museen sollten nach innen auf die jüdische Gemeinschaft wirken und nach außen der nichtjüdischen die Vielfalt und Inhalte des Judentums vermitteln. Aber selbst die Juden in Deutschland, anders als ihre Counterparts in England, Frankreich und vor allem den USA, verstehen nicht, worin ihr Rollenverlust im Rahmen der jüdischen Museen liegen soll. „Wozu brauchen meine Kinder ein Museum, um etwas über das Judentum zu lernen? Das geht besser in der Synagoge oder im Religionsunterricht, wo sie ja auch nicht gern hingehen. Das Museum ist für Nichtjuden“, so ein Vater der Dritten Generation.
2. Gemeindezentren:
Deutschland hat die am besten strukturierten Gemeindezentren und die am besten erfassten Gemeindemitgliederkarteien, aber gleichzeitig die höchste Zahl an interkonfessionellen Ehen in Westeuropa. Wenn man die Statistik der letzten vier Jahre betrachtet, geht die Zahl der Juden in Deutschland in den nächsten 25 Jahren aufgrund der Mortalitätsrate der oft schon sehr überalterten Gemeinden und der hohen interkonfessionellen Eherate auf die Zahl der Mitglieder vor 1989 zurück. Die Gemeindezentren und Synagogen werden nur von drei bis zehn Prozent der Mitglieder genutzt und frequentiert.
3. Religionslehrer:
Im Gegensatz zur Überlebendengemeinde in Wien, die ähnlich zu der in Deutschland von nicht am Ort historisch verwurzelten Überlebenden und Migranten geführt wird, gibt es in jeder deutschen Großgemeinde nur einen minimalen Bruchteil des in Wien angebotenen jüdischen Lebens. Es lässt sich daraus schließen, dass die Shoah immer noch in den Köpfen der zweiten Generation wirkt, die jetzt die Gemeinden führen. Es wird weder strukturiert, noch langfristig geplant, aufgebaut und konzipiert, sondern primär organisiert und improvisiert.
Der zweiten und dritten Generation obliegt der heikle Balanceakt, als Juden in Deutschland zu leben, um ihre Selbstdefinition zu ringen und nach einer jüdischen Identität im Land der Täter zu suchen. Heute beginnen Juden in Deutschland, die Stereotypen Anforderungen und Zuschreibungen der Mehrheitskultur zu verwerfen und definieren ihre eigenen Problemstellungen, Ambivalenzen und Kämpfe. Sie bestimmen, wie sie wahrgenommen werden wollen und sie protestieren energisch, wenn sie sich gekränkt oder beleidigt fühlen. Das ist in der Tat ein wichtiger Neuanfang. Er findet jedoch bisher nur an den aktiven Rändern jüdischen Lebens statt, wie zum Beispiel in der Lauder-Gemeinde im Osten Berlins, oder bei der Reform- und Chabadbewegung.
Bezeichnenderweise wurden einige Merkmale des Judentums in Deutschland beibehalten. Wenn frühere Generationen deutscher Juden für eine umfassende Akkulturation votierten, geschah dies gemäß der kulturellen Spielregeln der dominierenden Kultur, niemals nach ihren eigenen. Bei den heutigen sogenannten jüdischen Intellektuellen ist das nicht anders. Weder wird von diesen ein neues Judentum oder eine neue Form des Judentums gesucht noch angeboten. Weiterhin bleibt die Shoah das wesentliche Momentum der eigenen Selbstdefinition und Selbstbestimmung. Und wird die Shoah nicht beansprucht, so sind es der vermeintliche oder auch realexistierende Antisemitismus oder Israelkritik.
Wie wird sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland entwickeln? Steht das jüdische Projekt in Deutschland vor dem Scheitern? Oder sind die Dutzenden neu eröffneten und gebauten Gemeindesynagogen und -zentren Garant für wieder erstarkendes und aufblühendes jüdisches Leben in Deutschland, wo mittlerweile laut den Gemeindeschätzungen 20% der Zahl der Juden in Vorkriegsdeutschland (ca. 101.338) (und mit den nicht registrierten geschätzt gar fast die Hälfte der Zahl der Juden vor dem Krieg - heute an die 230.000; vor der Shoah knapp über 500.000) leben?
Wird gelebtes Judentum in Deutschland nur noch eine Fiktion sein, die in der akademischen Fachwelt „Virtuelles Judesein“[19] oder „Jüdisches Disneyland“[20] genannt wird, oder sind die zarten Bestrebungen seitens der großen Organe wie Gemeindetag, Akademie und anderes, wie die European Maccabi Games 2015 in Berlin, Zeugen dafür, dass langfristige Prozesse und echte Professionalität eingeleitet werden, und vor allem die Freude am Judentum in die jüdischen Massen in Deutschland, hineingetragen wird? All dass ist angesichts der Partitizipationszahlen und des Feedbacks, vor allem der Generation Y in Deutschland nicht klar.
Das folgende Zitat einer zweiundzwanzigjährigen Jüdin macht deutlich, dass der dritte Gazakrieg für Juden in Deutschland neue Fragen aufwirft. Diese berichtet, dass sie sich eigentlich „fast als Weltmeister gefühlt habe und mit [‚ihrer’] Nationalmannschaft in Brasilien richtig mitgefiebert habe!“. Wie der skandierende Mob auf die Juden Deutschlands und die Brandanschläge auf Synagogen wirken werden, bleibt offen.
Das Potential, dies zu verhindern und die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu einem Ort gelebten Judentums zu gestalten, ist jedoch vorhanden. Ob es auch, wie in Österreich und hierwiederum speziell in Wien, genutzt wird, kann erst ein Rückblick aus der Zukunft zeigen.
Awi Blumenfeld stammt aus München und ist Wanderer zwischen den Welten Münchens, Wien und Tel Aviv. Er ist als Historiker Fellow am Joseph Carlebach Institute for Jewish Teachings an der Bar Ilan Universität, wo er auch lehrte. Er ist in der historischen Kommission der Conference on Jewish Material Claims against Germany, und berät das israelische Ministerium für Diaspora- und Antisemitismusfragen. Awi Blumenfeld engagiert sich weiterhin außerberuflich im Bereich der jüdischen Jugend- und Erwachsenenbildung.