Dr. phil. Kurt Grünberg
Dieser Beitrag beleuchtet aus der Perspektive der Opfer und deren Nachkommen die Spätfolgen und transgenerationalen Wirkungen des zentralen Geschehens des Nationalsozialismus, der systematischen Verfolgung und industriell betriebenen Vernichtung der Juden in Europa. Zunächst wird – und zwar sehr kursorisch in Form des Skizzierens einiger Vorannahmen, die für das Verständnis unseres Arbeitsansatzes wesentlich sind – auf die psychosozialen Spätfolgen der Nazi-Verfolgung auf Seiten der Überlebenden eingegangen (vgl. Grünberg 2000a und b, 2004a und b). Unter Einbeziehung der Täter- und Mitläuferseite beziehen sich diese Prämissen gleichermaßen auf die in Deutschland vorherrschende Erinnerungskultur, die seit einigen Jahren bedeutsamen Veränderungen unterworfen ist.
Sodann wird das Arbeitskonzept des „szenischen Erinnerns“ dargelegt, dies zunächst in Gestalt einiger theoretischer Erläuterungen. „Szenisches Erinnern“, das sich ausdrücklich nicht auf die verbale Vermittlung reduzieren lässt, ermöglicht ein Erkunden latenter Bedeutungen von Erinnerungsarbeit in doppelter Hinsicht: Zum einen verdichten Menschen in „Szenen“, die sie bewusst oder unbewusst erinnern, komplexe und oftmals belastende Erfahrungen in sehr prägnanter Form. Zum anderen konstellieren sich in der Darstellung dieser Vermittlungsversuche ebenfalls unbewusste „Szenen“, in denen individuelle wie kollektive Erinnerungsprozesse psychodynamisch eindrucksvoll verdichtet sind.
Dieser Beitrag lässt die Leserinnen und Leser am Szenischen Erinnern der Shoah in einer Überlebenden-Familie teilhaben, nämlich derjenigen des Autors (wenn auch nicht ausschließlich). Eine solche Erinnerung, die „Küchen-Szene“ mit meinem Vater, die später ausführlich geschildert wird, war in mir durch die Begegnung mit einer 23-jährigen Studentin geweckt worden. Diese Szene hatte sich zugetragen, als ich im Alter dieser Studentin war. Mein Vater wiederum mag durch mein damaliges Alter mit eigenen Erinnerungen konfrontiert worden sein an eben diese Zeit in seinem Leben. Zuweilen sind es solche Schnittstellen, an denen transgenerationale Wirkungen traumatischer Verletzungen szenisch in Erscheinung treten.
Mit einigen Ausführungen zum Thema „vergiftete Generativität“ (Grünberg 2007) wird dieser Beitrag beendet. Die nationalsozialistische Vernichtung der Juden in Europa wird nämlich insbesondere auch darüber „szenisch erinnert“ und tradiert, dass es vermutlich keine überlebenden Juden gab und gibt, die nicht zu Zeugen der Ermordung jüdischer Kinder wurden. Die Juden sollten begreifen, dass es für sie selbst wie für ihr Volk keinerlei Aussicht gab auf eine Zukunft. Und überlebten sie wider Erwarten doch, so vermittelten sie genau diese existentielle Erfahrung auf die eine oder andere Art und Weise an ihre eigenen Kinder, die somit ebenfalls zu Trägern einer „vergifteten Generativität“ wurden.
Insgesamt möchte ich mich einer zunehmenden Tendenz zu begrifflichen Entdifferenzierungen entgegenstellen. Wenn alles Mögliche als „traumatisch“ bezeichnet wird, wenn alles mit dem Begriff „Holocaust“ in Verbindung gebracht werden darf, sind wir mit einem „Banalisieren des Traumas in Deutschland“ (Grünberg 2001) konfrontiert. Aufgabe der Wissenschaften hingegen ist es, die Shoah in angemessene begriffliche Beziehung zu anderen und aktuellen Ereignissen der Geschichte zu setzen. Die Wahrheit der affektiven Bedeutung dieser Ereignisse muss dabei adäquat berücksichtigt werden.
Ich beginne mit vier Prämissen:
- Die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat auf Seiten der überlebenden Opfer unwiederbringlich tiefe seelische Spuren hinterlassen, die sich weder „beseitigen“ noch psychisch „integrieren“ lassen. Auch Jahrzehnte nach der Befreiung bleiben den Überlebenden ihre Erinnerungen wie beständig vorhandene Fremdkörper präsent, mit denen sie zu leben haben, ob sie wollen oder nicht, am Tage wie auch in der Nacht. Plädoyers mancher Psychotherapeuten für eine – vermeintliche – „Heilung“ oder „Integration“ sollten eher als Manifestation ihrer Abwehr verstanden werden, sich die Realität des extremen Traumas zu vergegenwärtigen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Psychotherapeuten und Psychoanalytiker hätten sich viel früher – und anders als geschehen – auf die Begegnung und Arbeit mit Überlebenden der Shoah einlassen müssen. Doch erst wenn man zu begreifen und akzeptieren bereit ist, dass es hier nicht um Heilung geht, können fruchtbare psychotherapeutische Arbeitsansätze entwickelt werden, wie wir dies etwa im Treffpunkt für Überlebende der Shoah oder in der Arbeit mit den sogenannten Child Survivors seit Jahren erforschen.
- Die Tatsache, dass man Überlebende der Shoah jahrzehntelang mit ihren Leiden allein ließ, hat ihnen im Sinne des Konzepts der „sequentiellen Traumatisierung“ von Hans Keilson (1979) weiteren Schaden zugefügt. Keilson zufolge sind nicht nur verschiedene Stadien der Verfolgungserfahrung selbst zu unterscheiden, sondern auch die Zeit nach der Befreiung sei für die traumatisierende Wirkung der Verfolgung höchst bedeutsam. Das schließt die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, mit denen Überlebende in ihrem Alltag konfrontiert wurden und immer noch werden (vgl. dazu auch Giordano 1987: Die zweite Schuld). In der Bundesrepublik Deutschland sei hier etwa das Nichtbestrafen der meisten Nazi-Täter genannt, der Friedensschluss über SS-Gräbern in Bitburg, der Historikerstreit, die Walser-Friedenspreis-Rede oder die aktuellen Versuche der „Entsorgung“ der deutschen Geschichte durch das Gerede etwa vom „Bomben-Holocaust“, das exemplarisch steht für einen leider zu verzeichnenden Paradigmenwechsel hin zu der Vorstellung, als seien wegen der Kriegszerstörungen und aufgrund von Flucht und Vertreibung die Deutschen die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus...
- Damit soll keineswegs bezweifelt werden, dass diejenigen, die zu Zeiten des Krieges Kinder bzw. Töchter oder Söhne von Nazi-TäterInnen und Nazi-MitläuferInnen waren, nicht gelitten hätten; das Gegenteil ist der Fall: Diese Kinder haben mit Sicherheit gelitten – und es sei auch konstatiert, dass ein Zugang zu eigenem Leiden Voraussetzung dafür sein kann, sich dem Leiden anderer zuzuwenden; sie haben aber eben nicht „nur“ unter den direkten Kriegseinwirkungen oder darunter gelitten, dass sie Eltern, Geschwister oder Verwandte verloren haben, sondern insbesondere daran, dass ihre Eltern den Krieg durch eigenes Mittun oder Unterlassen mit zu verantworten hatten. Dies gilt selbst dann, wenn diese Zusammenhänge nicht bewusst zugänglich sind. Die „Herrenmenschen“ gefährdeten am Ende eben auch die eigenen Kinder , was als unbewusste Infantizit-Absicht verstanden werden kann (Wolfgang Leuschner; mündliche Mitteilung). Und nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ wollten und wollen dieselben Väter und Mütter von alledem nichts gewusst haben... Im Gegensatz zu dem, was gern behauptet wird, haben diese Eltern ihre Erfahrungen nicht verdrängt, sondern sie verschwiegen oder verharmlosten die eigene Beteiligung am Nationalsozialismus (vgl. Grünberg 1997), sie belogen und – wie man in vielen Analysen oder Psychotherapien erfahren muss – sie schlugen ihre Kinder (was selbstverständlich kein Spezifikum für diese Gruppe darstellt). In manchen Familien gab es Bestrafungsrituale, die einen schaudern lassen. Viele Heranwachsende wurden somit von der Frage geplagt, wie sie solche gewaltbereiten Lügner – als die sich ihre Eltern zuweilen entpuppten – lieben, achten und wie sie ihnen Vertrauen schenken konnten.
Auf eine vielleicht allzu schlichte „Formel“ gebracht ist zu konstatieren, dass die Kinder der Opfer vor allem mit der Angst leben, ebenfalls zu Opfern zu werden, während die Nachfahren von TäterInnen und MitläuferInnen Gefahr laufen, einer ihnen innewohnenden Tat-, Unterwerfungs- oder Anpassungsbereitschaft zu folgen, falls sie sich der aufrichtigen und schmerzlichen Analyse solcher Prozesse verweigern.
- Seit geraumer Zeit haben wir in Deutschland die „Entsorgung“ der „jüngsten Vergangenheit“ zu bezeugen. Insbesondere seit der Thematisierung des 50. Jahrestages der deutschen Niederlage, die für die übriggebliebenen Opfer die Befreiung darstellte, gibt es eine spezielle Variante der „Vergangenheitsbewältigung“: nämlich die Eliminierung des Nationalsozialismus, um sich nur noch mit „dem Krieg“ beschäftigen zu müssen (woraus selbstverständlich nicht geschlossen werden sollte, dass man dies zu unterlassen habe). Der entscheidende Diskurs, die Auseinandersetzung mit den Themen Schuld und Verantwortung, wird mit diesem Ansatz unterlaufen. Hier wird eine Verharmlosung, wenn nicht „Entsorgung“ des Nationalsozialismus betrieben; übrig bleibt der Zweite Weltkrieg.
Begegnung mit einer 23-jährigen Studentin
Eine 23-jährige Studentin fragte mich vor einiger Zeit im Kontext einer Tagungsvorbereitung, was es eigentlich mit dem Begriff der „Szene“ im Tagungstitel auf sich habe. Ich holte weit aus, suchte ihr die Bedeutung der unbewussten „Szene“ im psychoanalytischen Erstgespräch nahezubringen. Die „Kunst“ der Psychoanalytiker, so führte ich aus, bestehe darin, das, was sich bei jedem Menschen ganz spezifisch und vor allem unbewusst in seinen Beziehungen zum Anderen psychodynamisch sowie auf der Ebene des Körperlichen zutrage, was dessen Persönlichkeit und individuelle Eigenart auf besondere Weise widerspiegele, bereits in der ersten Begegnung mit den Patienten zumindest teilweise zu erfassen und es probeweise zu deuten, um auf diese für die meisten Menschen unübliche Art und Weise mit den Patienten bzw. mit derem Unbewussten in Berührung zu kommen. Dies wiederum eröffne den Patienten die Chance einer tieferen Selbsterkenntnis, über das zuvor bereits Gewusste hinaus etwas über sich (und die Übertragung auf Andere) zu erfahren. Ich erwähnte die klassischen Arbeiten von Hermann Argelander (1967a,b,c, 1968, 1970a,b, 1979) zur „Szene“ im psychoanalytischen Erstinterview und sprach über Alfred Lorenzer (1970a, 1970b), der den Begriff des „szenischen Verstehens“ geprägt hat, war es doch letzterer, der mit seinen Arbeiten die Dynamik der menschlichen Triebkonflikte um die Dimension des Gesellschaftlichen erweitert und exemplifiziert hat.
Im Verlauf des Gesprächs mit der Studentin näherten wir uns allmählich dem Thema der psychosozialen Spätfolgen der Shoah. Ich berichtete von der Alltagserfahrung zahlreicher Überlebender, sich von anderen nicht richtig verstanden zu fühlen, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht. Dies überrasche nicht, gibt es doch traumatische Erfahrungen, wie Hans Keilson einmal sehr zutreffend formulierte, „wohin die Sprache nicht reicht“ (Keilson 1984, 1998).
Das extreme Trauma entzieht sich der unmittelbaren sprachlichen Vermittlung, denn es gibt keine Möglichkeit, die Verfolgungserlebnisse kohärent zu speichern. Als vorsprachliches Phänomen wird das traumatische Geschehen sehr häufig in einem dem bewussten Erinnern unzugänglichen Gedächtnisbereich aufbewahrt, das sich allenfalls in unwillkürlichen Aktivitäten (Freud bezeichnet dies als „Agieren“) zu äußern vermag. Abzugrenzen wären diese Handlungen vom „Enactment“ (als Ausdruck von projektiven Identifizierungen; Theodore J.
acobs 1986; vgl. Kogan 1998) bzw. vom „Handlungsdialog“ (Rolf Klüwer 1995). So entstünden in der Begegnung mit Überlebenden prägnante „Szenen“, die es zu entschlüsseln gilt, denn das Trauma der nationalsozialistischen Verfolgung findet seinen Ausdruck in bestimmten Handlungen, in der Mimik und in Gesten, im Tonfall, in Alpträumen oder einem bestimmten Blick, in der Trauer, in Tränen, in einem Seufzer oder Schrei, in der Depression, einem aggressiven Ausbruch, in der Erstarrung, im ängstlichen Aufgeschrecktsein oder in schweren, bildlosen Panikattacken. In solchen Szenen vermitteln sich bestimmte Modi von Beziehungen, denen sich vor allem die Kinder von Überlebenden kaum entziehen können. Es sind die Kinder der Opfer, denen die Aufgabe obliegt, die ihnen szenisch vermittelten Fragmente des extremen elterlichen Traumas zusammen zu fügen. Sie müssen gewissermaßen Konzepte erstellen, mit denen die meist nonverbalen Aussagen ihrer traumatisierten Eltern, die szenisch zum Ausdruck gebrachten fragmentierten Erinnerungsspuren, zu einem sinnvollen Ganzen formiert werden. Zuweilen verdichten sich die Szenen zum Vorherrschen einer bestimmten familialen „Atmosphäre“, die eher benannt werden kann.
Seit vielen Jahren fällt auf, so setzte ich meine Ausführungen fort, dass man sich insbesondere in Deutschland darauf verständigt habe, die verbale Vermittlung lebensgeschichtlich bedeutsamer Erfahrungen in den Mittelpunkt des Diskurses zu stellen. Schnell sei der nächste Schritt vollzogen: die Alten würden „vereint“, indem man herausstellt, dass doch eigentlich so gut wie alle – Opfer, Täter wie Mitläufer – wenig über ihre „schwierigen Erfahrungen in einer schwierigen Zeit“ berichteten. Die meisten, so hört man dann, hätten geschwiegen; dies sei doch „menschlich“ und „Ausdruck der Verdrängung“. Logischerweise erscheinen dann auch die nachfolgenden Generationen als mit einer gemeinsamen Erbschaft konfrontiert: Letztlich säßen wir doch alle in einem Boot...
Dass dies mitnichten der Wahrheit entspricht, habe ich in zahlreichen Vorträgen und Publikationen zu erläutern und belegen versucht. Während das an der Oberfläche vorzufindende Schweigen von Überlebenden als Versuch verstanden werden muss, sich selbst wie den Anderen vor dem Überwältigtwerden durch die Wiederkehr unerträglicher Erinnerungen zu schützen, ver-schweigen Nazi-Täter und -Mitläufer aus ganz anderen Gründen ihre äußere wie innere Beteiligung am menschenverachtenden System des Nationalsozialismus (Grünberg 1997): Sie ver-schweigen oder verharmlosen die Wahrheit, um für ihr damaliges Handeln oder die eigene Haltung nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sehr viele waren damit erfolgreich; die meisten Nazi-Täter blieben – wie bereits angedeutet – straffrei, ihre Taten blieben ungesühnt. Sie suchten der Schuld-Frage zu entrinnen.
Das – vermeintliche – Schweigen der Überlebenden hingegen stellt in Wirklichkeit das Medium dar, in dem sich ihre traumatische Verfolgungsgeschichte erst „entfaltet“, und dies vor allem szenisch. Es kommt also darauf an, die darin enthaltenen nonverbalen Botschaften über das stets Präsente, das wie ein beständig vorhandener Fremdkörper immer wieder in das aktuelle Leben der früheren Opfer eindringt, zu entschlüsseln, eine notwendige Voraussetzung für jedweden Versuch der Rekonstruktion dieser Vergangenheit.
Dabei gäbe es jedoch, so erklärte ich meiner geduldigen Zuhörerin, einen zusätzlich verkomplizierenden Sachverhalt: Das extreme Trauma zerstöre die Schutzhülle der Opfer, dies selbst bei Menschen, die aufgrund stabiler Objektbeziehungen der frühen Kindheit ein tiefes Urvertrauen in die Welt bewahrt hatten. Das Trauma zerstöre die Grundlagen des Vertrauens, ihm wohne die destruktive Kraft inne, selbst die verlässlichen Zusammenhänge zu zerschlagen. Weder im Moment des traumatischen Geschehens noch im Nachhinein sei es daher möglich, das Extremtrauma innerlich angemessen „abzubilden“. Ein solcher Prozess der Dissoziation träte unweigerlich zutage (vgl. Leuschner 2004). Es handele sich um einen unwillkürlichen Versuch der Opfer, das Erlebte zu ertragen. Manchen Verfolgten gelang dies nicht, sie sind daran zerbrochen. In den Konzentrationslagern gab es die sogenannten „Muselmänner“, die wie lebendige Leichname erschienen. Andere hätten versucht, sich trotz der jahrelang erlittenen Verfolgung an dem zu orientieren, was zumindest das Erleben des nächsten Augenblicks sicherzustellen schien. Die Fragmentierung der traumatischen Erfahrung setze sich im Leben „danach“ fort; dieses Leben „danach“ ende erst mit dem Ende des Lebens. Und mehr noch: es endet nicht in der eigenen Generation, sondern wird unweigerlich an die nachfolgenden Generationen tradiert.
So sei die Zweite Generation mit einer schwierigen Aufgabe betraut, gehe es doch einerseits darum, ihre schutzbedürftigen Eltern zu schonen und das labile familiale Gleichgewicht nicht zu stören, dabei aber andererseits die Entwicklung einer eigenen Identität nicht zu behindern oder gar aufzugeben.
Die Studentin und ich schwiegen eine Zeit lang.
Unerträgliche „Musik“ während einer nächtlichen Busreise
Dann erzählte sie mir, zunächst zögerlich, von einem Erlebnis, das sie sehr beschäftigte. Vor einiger Zeit hätte sie zusammen mit ihrem Freund und ihrer besten Freundin eine Reise nach Algerien unternommen, wo sich alle sehr wohl fühlten, habe die Freundin, selbst aus Algerien stammend, der kleinen Gruppe doch vielfältige interessante Erfahrungen ermöglicht. Eines Nachts seien sie in einem Bus unterwegs gewesen. Während die anderen einschliefen, habe sie keine Ruhe gefunden. Die laute Musik störte sie. Sie suchte den Geräuschpegel zu ignorieren, vergeblich. Es funktionierte einfach nicht. Selbst als sie sich ein großes Handtuch um den Kopf wickelte, vermochte ihr das nicht zu helfen. Die Musik, es handelte sich um islamische Gebetsgesänge, sei für sie unerträglich gewesen.
Plötzlich sei sie aufgesprungen, nach vorn zum Busfahrer gerannt und habe ihn derart angeschrien, dass die Mitreisenden erwachten. Sie habe ihn aufgefordert, sofort die Musik abzustellen, sei außer sich gewesen, habe die Kontrolle verloren. „So etwas habe ich noch nie getan. Ich war mir selber fremd“, meinte sie zu mir.
Erst später habe sie zu diesem nächtlichen Ereignis einen Einfall gehabt, der sich auf ihre frühesten Lebenserfahrungen im Iran bezieht: sie sei dort nämlich in einem Gefängnis zur Welt gekommen, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbrachte, weil ihre Eltern dort aus politischen Gründen inhaftiert waren. Bewusste Erinnerungen an diese Zeit habe sie nicht. Doch dann – und dies war ihr Einfall – habe sie sich erkundigt, ob es vielleicht möglich sei, dass das Gefängnis mit solcher „Musik“ beschallt wurde. Und genau diese Vermutung sei ihr bestätigt worden.
Mit meinem Vater am Küchentisch
Von diesen Schilderungen der Studentin wie von der selbst gedeuteten „Inszenierung“ ihrer unbewussten Erinnerungen war ich sehr beeindruckt. Ich dachte: Dies erzählt mir eine Studentin im Alter von 23 Jahren.
Und plötzlich tauchte, wie ein Erinnerungsstimulus, eine Erinnerung aus meiner eigenen Studienzeit auf:
Während der Semesterferien im Jahr 1981 war ich zu Besuch bei meinen Eltern in Norddeutschland. Eines Nachmittags saß ich am großen Küchentisch, an dem wir in unserer Familie mit meinen fünf Geschwistern viele gemeinsame Mahlzeiten eingenommen hatten. Hinter mir im Regal das Kofferradio, mit dem mein Vater samstags – für mich kaum nachvollziehbar – gern Fußball hörte. Mein Vater, Jahrgang 1922, war wie schon sein Vater und Großvater Viehhändler. Er setzte sich zu mir. „Sag‘ mal“, hörte ich ihn fragen, „wie alt bist Du eigentlich?“ „Dreiundzwanzig“, antwortete ich ein wenig schmunzelnd, denn natürlich wusste er, wie alt ich war. Sein Vergessen war der unbewusste, allerdings nur kurzfristig wirksame Versuch, dem Eigenen zu entrinnen, dem, was dieses Alter für ihn bedeutete.
Nach einem Moment des Zögerns erzählte er mir dann, was er im Alter von dreiundzwanzig Jahren erlebt hatte.
Bevor ich meine Schilderung fortsetze, sollte ich einige Informationen anfügen, die zum Verständnis der „Küchen-Szene“ von Bedeutung sind. Gleichzeitig kann ich dabei aber auch zahlreiche kleinere Szenen beschreiben, die zusammengenommen eine bestimmte familiale Atmosphäre in meinem Elternhaus erzeugten. Nur auf diese Weise kann ich vermitteln, welche notwendigen Verdichtungsprozesse in beiden Generationen unaufhörlich stattfinden, um mit einer unerträglichen Geschichte zu leben.
Mein Vater gehörte zur Gruppe derjenigen Überlebenden, die Jahrzehnte lang kaum über ihre Verfolgungserfahrungen sprach, zumindest was die verbale Mitteillung anging. Das war anders, wenn Überlebende zu Besuch waren. Untereinander sprachen sie wohl über „die Lager-Zeit“, und man hörte sie lachen, wenn einer von ihnen irgendeine komische Geschichte „aus dem Lager“ zum Besten gab. Überhaupt war mein Vater nicht nur ein intelligenter, sondern vor allem auch ein sehr humorvoller Mensch, dem leider in seinen letzten Lebensjahren, in denen er zunehmend von traumatischen Erinnerungen geplagt wurde, sein Humor abhanden gekommen war. Die Nazis hatten ihm die höhere Schulbildung unmöglich gemacht, sonst wäre er, wie er mir einmal erzählte, „aufs Gymnasium gekommen“.
Mein Vater hörte fast stündlich die Nachrichten, „seid mal stille“, zischte er, wenn wir ihm zu laut waren. Er musste immer wissen, „ob etwas mit Israel ist“, und las, für einen Viehhändler gewiss eher ungewöhnlich, regelmäßig den „Spiegel“. Obwohl ich angeblich zur einen Hälfte der Geschwister gehörte, die „Mamas Kinder“ genannt wurden, war es mein Vater, von dem ich seinen zuweilen schwarzen Humor „geerbt“ habe (beim Viehhandel war ich weniger erfolgreich). Bis zu seinem schweren Herzinfarkt kurz nach seinem 70. Geburtstag arbeitete er sehr viel. Er war eigentlich meist ungeduldig, auch beim Essen. Nach Beendigung der Mahlzeit sprang er zuweilen mit der Bemerkung auf: „Irgendjemand muss Euch ja am Kacken halten“, um wieder „auf die Masematten“, „auf den Handel“ zu gehen. Nur wenn die Familie auswärts aß, musste er notgedrungen auf uns warten. Um den Vorgang des Nach-Hause-Gehens zu beschleunigen, pflegte er gern zu sagen, und zwar wenigstens so laut, dass man es ringsherum im Lokal hören konnte: „Juden raus“.
Ich war wohl der einzige, der darüber mit ihm lachen konnte.
Bis auf Kümmel-Gerichte, die ihn an die Suppe im KZ erinnerten, aß mein Vater alles, sogar meine Gemüsesuppe, die ich im Alter von etwa 16 Jahren nach einem Rezept aus dem Kochbuch zubereitet hatte. Den dortigen Hinweis auf eine Knoblauch-Zehe hatte ich so verstanden, als sei die ganze Knolle gemeint. Während sich die anderen weigerten, meine Suppe zu essen, sagte er: „Ich habe schon Schlimmeres gegessen“ – und aß. Alle verstanden sogleich, was er damit meinte.
Das Gewürz Kümmel erhielt im Sinne einer Metonymie (einer Namensvertauschung bzw. Umbenennung) durch Verschiebung auf ein winziges Detail die Mitteilung über unerträgliche Zustände im Konzentrationslager. Selbst für uns Kinder schien der Kümmel gewissermaßen KZ-Geschmack zu erzeugen.
Seit ich mich erinnern kann, war unser Familienleben von der Gegenwärtigkeit des Verfolgungstraumas geprägt. Eigentlich herrschte stets eine gespannte, angstvoll-bedrohliche Atmosphäre, eine vom „Verlust des Weltvertrauens“ (Jean Améry 1977) geprägte Stimmung, nicht nur Freitag abends, wenn meine Eltern den üblichen „Schabbes-Krach“ hatten. Nach antisemitischen Ereignissen wurde jeweils die Notwendigkeit der Auswanderung nach Israel thematisiert, wovon keiner in der Familie überrascht schien. Als Kind habe ich meinem Freund gegenüber wohl des Öfteren solche allerdings folgenlos bleibenden Ankündigungen erwähnt. Am Ende wurde diese Delegation des Nach-Israel-Gehens von drei der sechs Geschwister zumindest zeitweise übernommen.
Auf das Einhalten der jüdischen Gesetze wurde in meiner Familie großer Wert gelegt. Vor dem Essen wurde ein Segenspruch gesprochen, nach dem Essen folgte das Tischgebet. Die Feiertage wurden gehalten, insbesondere der Schabbat, was bedeutete, dass mein Vater nicht arbeitete und wir weder schreiben oder mit der Schere schneiden noch während der Grundschulzeit den Unterricht besuchen durften. Man aß kein Schweinefleisch, Milch- und Fleischgerichte wurden streng getrennt. Mein Vater, obwohl er mir einmal „gestand“, dass er nicht an die Existenz Gottes glaube, legte bis an sein Lebensende jeden Morgen Tefillin, die Gebetsriemen.
Mir scheint, dass er in diesen Ritualen eine Form gefunden hatte, seiner ermordeten Vorfahren und Geschwister zu gedenken. Auf diese Weise blieb er ihnen treu. Und wir Kinder erfuhren in der gelebten Tradition die Schwere des erlittenen Traumas. Das Ritual enthielt die nonverbale Information über die Verfolgung, das Ritual war Gedenken.
Auch ein anderer Überlebender, der bis heute regelmäßig den Gottesdienst besucht, erklärte mir vor einigen Monaten, und zwar eher beiläufig, warum er nicht mehr an Gott glauben könne, nämlich spätestens seit er von seiner Schwägerin erfuhr, was sie im Alter von etwa 14 Jahren, im Schrank versteckt, zu bezeugen hatte: in die Wohnung eingedrungene SS-Männer quälten ihren Vater. Dieser war ein sehr religiöser Mann, ein „Sofer Thora“, jemand, der die ehrenvolle Aufgabe hat, Thorarollen zu schreiben. Sie hätten ihm nicht – wie häufig geschehen – den Bart abgeschnitten oder abrasiert, sondern die Barthaare ausgerissen und ihn dabei mehrfach gefragt, ob er immer noch denke, dass sein Gott ihm beistehe.
Wir Kinder wussten um die besondere Empfindlichkeit unseres Vaters, spürten sehr wohl, wann und was ihm zu nahe ging, wagten nicht, ihn mit Themen zu konfrontieren, die sein labiles Gleichgewicht hätten beeinträchtigen können. Meine Mutter, selbst als sogenannte „Halb-Jüdin“, als „jüdischer Mischling ersten Grades“ diskriminiert und verfolgt – sie war von Oktober 1944 bis April 1945 aufgrund einer Verordnung des Reichssicherheitshauptamtes in einem der Gestapo unterstellten „Erweiterten Polizeigefängnis“ in Hagen-Haspe inhaftiert, um in diesem „Arbeitsumerziehungslager“ für die Klöckner-Werke Zwangsarbeit zu leisten, was von willkürlichen Erschießungen und davon begleitet war, dass die „Nicht-Arier“ bei Bombenangriffen nicht in den für die „Arier“ reservierten Bunker durften – stellte sich immer schützend vor ihren Mann. Dass sie auf diese Weise auch ihr eigenes Leid zu verbergen trachtete, verstand ich erst viel später; etwa den sicherlich konflikthaften Bruch, den meine Mutter konsequent betrieb, als sie sich vollkommen vom nicht-jüdischen Teil ihrer Verwandtschaft lossagte, weil der ihren Vater – ein Bergarbeiter, der sehr jung „an Staublunge“ starb und nach dem ich benannt wurde – zum Glück erfolglos dazu bringen wollte, sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen (was vermutlich das Leben meiner Großmutter im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, damals ein Gestapo-Gefängnis, gerettet hat). Und da waren die vier Bilder der beiden Geschwister und Eltern meines Vaters an einer Wand im „kleinen Wohnzimmer“, die in Wirklichkeit gar keine Fotografien waren, sondern Zeichnungen, angefertigt nach Vorlage eines kleinen Fotos, das mein Vater wohl hat retten können. Präsent waren seine ermordeten Familienangehörigen auch in Form der Namen meiner Geschwister, wurden doch Helga, Heinz und Helen nach ihnen benannt.
Kurz, meine Geschwister und ich hatten die Aufgabe, Erinnerungen (im Sinne des von Wilfred Bion beschriebenen Containments) zu bewahren und unsere Eltern zu schützen. Die an uns tradierten Delegationen haben wir alle, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, angenommen.
Rückkehr in den „Heimatort“
Ein Jahr vor der „Küchentisch-Szene“ hatte ich während eines psychiatrischen Praktikums am Long Island Jewish Hillside Medical Center in New York, das Buch „Children of the Holocaust“ von Helen Epstein gelesen. Ihre Darstellung der Zweite-Generation-Thematik hatte mich tief beeindruckt, entdeckte ich doch sehr viele Parallelen zur eigenen Geschichte. Zugleich spürte ich, dass Juden gerade in Deutschland doch auch ganz anders lebten als Überlebenden-Familien in den USA oder in Kanada. Die große Nähe zur Tat wie zu den TäterInnen in Deutschland hat auf das jüdische Leben in diesem Land wie auf das Verhältnis der Juden zu den anderen Menschen einen enormen Einfluss.
So hatte ich damals eine sehr folgenreiche Entscheidung getroffen, nämlich meine Diplomarbeit über die Zweite Generation in der Bundesrepublik Deutschland zu schreiben. Mein Vater wusste davon, gesprochen hatten wir darüber wohl kaum.
Am besagten Nachmittag begann mein Vater seine Schilderungen mit der Darstellung seiner Rückkehr nach Sögel, in dieses Dorf im Emsland, in dem bis zu ihrer Deportation am 13. Dezember 1941 nach Riga über siebzig Juden gelebt hatten. In Sögel besuchte mein Vater eine jüdische Schule, bis zur sogenannten Reichskristallnacht stand dort eine Synagoge, und am Ortsrand befindet sich noch heute ein jüdischer Friedhof, auf dem mein Vater genau an der Stelle beerdigt liegt, die er sich selbst ausgesucht hat...
„Damals“ in Riga habe er mit seinen Eltern und Geschwistern vereinbart, sich in Sögel zu treffen, sollte man „diese Zeit“ überstehen. Deshalb sei es für ihn vollkommen klar gewesen, sich nach der Befreiung auf den Weg in seinen „Heimatort“ zu machen. Darüber habe er „überhaupt nicht weiter nachgedacht“. Erst im etwa 25 Kilometer entfernten Meppen sei ihm wirklich bewusst geworden, dass er möglicherweise niemanden derer jemals wieder treffen würde, die er so gern am Leben gewusst hätte. „Dann habe ich meinen Mut verloren“, meinte er. Und so habe er sehr lange gebraucht, noch die letzten Kilometer zu bewältigen. Am Ortsrand angekommen, bekam er in der dort befindlichen Gaststätte ein Glas Milch: „Die haben mich erst gar nicht wiedererkannt. Und ich mochte doch keine Milch“.
Im Zentrum von Sögel befand sich am Ort der einstigen Synagoge ein Misthaufen; das väterliche Elternhaus direkt nebenan wurde von einer anderen Familie bewohnt; der frühere Nachbar, ein Bäcker, der noch an Juden Brot verkauft hatte, als „Arier“ das schon nicht mehr durften, gewährte ihm Unterkunft; ein anderer Nachbar hielt in einem Hohlraum unter der Treppe seines Hauses eine Thorarolle versteckt, die er aus der schon brennenden Synagoge gerettet hatte...
In einem weiteren kleinen Exkurs möchte ich über den Nazi-Mörder Bernhard Rakers berichten, einem Onkel des gleichnamigen Getränkehändlers, der bis heute meiner Mutter Getränke ins Haus bringt. Dieser ist ebenfalls, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, einige Jahre später in seinen Heimatort zurückgekehrt. An eine „Szene“ Jahre zuvor kann ich mich noch gut erinnern. Damals kam mein Vater in großer Aufregung nach Hause, rot im Gesicht, aufgelöst, ohnmächtig, sprachlos. Mein Bruder Michael war damals mit im Auto, als mein Vater diesen berüchtigten Nazi auf der Straße entdeckte. Rakers’ „Spezialität“ habe darin bestanden, Juden anzuordnen, sich auf den Rücken zu legen, um sie dann mit seinem Handstock zu erwürgen, indem er sich breitbeinig auf die Stockenden stellte.
Mein Vater hielt den Wagen an, wollte wohl auf ihn los. Michael hielt ihn davon ab, suchte ihn mit den Worten „das bringt doch nichts“ zu beruhigen. Noch Stunden danach sah ich den Schrecken, der meinem Vater ins Gesicht geschrieben stand.
Miteinander gesprochen haben wir damals nicht. Es hatte auch gar keiner Worte bedurft.
„Küchentisch-Szene“ Teil II: Vor der Befreiung
Neben der Inhaftierung im Ghetto von Riga war mein Vater auch in den Konzentrationslagern Kaiserwald, Salaspils und in Stutthof bei Danzig. Die Familie, zu der er an irgendeinem Punkt den Kontakt verloren hatte, und seine Verwandten sind fast alle ermordet worden.
Aus der Großeltern-Generation gab es zwar eine kleine Zahl Überlebender, doch wie es sich anfühlte, einen „richtigen“ Onkel oder eine „richtige“ Tante zu haben oder gar Cousins und Cousinen, konnte und kann ich mir bis heute nicht vorstellen.
Um zur „Küchentischszene“ zurückzukehren: Mein Vater zögerte abermals. Es wurde schwieriger für ihn zu sprechen, wie es mich zunehmend belastete, ihm zuzuhören. Da sei noch etwas, was er nicht vergessen könne. Er mache sich immer noch Vorwürfe. Wenn er doch nur...
Mein Vater erinnerte sich an die sogenannten Todesmärsche Richtung Westen, deren Ziel es war, die KZ-Häftlinge zu ermorden, bevor sie von den Alliierten befreit werden konnten. Wenn die ausgemergelten, bereits halb verhungerten Häftlinge es nicht mehr vermochten, den nächsten Schritt zu tun und aufgaben, so wurden sie von den Wachhabenden sogleich erschossen. Mein Vater, sein Cousin Walter und der etwa gleichaltrige ebenfalls aus dem Hümmling stammende David de Haas (den ich als 16-Jähriger während meines Austauschschuljahres in den USA ausfindig gemacht und besucht habe; er war ebenfalls Viehhändler) marschierten zusammen. Walter hätte sich zunehmend beklagt. Er könne sich nicht mehr auf den Beinen halten. Mein Vater und David hätten ihm immer wieder Mut gemacht, ihn zwischen sich genommen und untergehakt. Eine Weile sei das gegangen, bis Walter abermals anfing... Dann sei Walter zusammengesunken und wurde sogleich erschossen.
Nur Minuten später, so mein Vater, hätten sich die Wachmannschaften ganz plötzlich aus dem Staub gemacht:
David und er waren befreit worden.
Widerstehen und Authentizität
Zum Glück brach mein Vater hier nicht ab. Nach einem Moment beiderseitigen Schweigens meinte er, eines wolle er mir unbedingt noch sagen. Damals, als seine Familie den Deportationsbefehl erhalten hatte, sei man den staatlichen Anordnungen gefolgt, ging es um das zulässige Gepäck oder auch darum, sich zum vorgeschriebenen Zeitpunkt am Marktplatz einzufinden. „Für uns war das einfach so.“
Dies, daran glaube er ganz fest, sei heute anders: „Ihr würdet das nicht mehr mitmachen“.
Den Mut aufzubringen, tatsächlich zu widersprechen, wenn es angebracht erscheint, verbinde ich mit seinen Erfahrungen, vor allem aber auch mit seinen Hoffnungen, die er in die Zweite Generation gesetzt hat.
Den Widerspruch wagen berührt jedoch zugleich die Frage, inwieweit man sich in der Lage sieht, den eigenen Vorstellungen entsprechend zu leben, d.h. die Frage nach der Authentizität zu stellen. Ich habe viele Überlebende kennengelernt, die mir sehr authentisch begegneten. Im Widerspruch zu manchen Darstellungen in der Fachliteratur habe ich Überlebende gerade nicht als abgestumpfte Menschen kennengelernt, die mechanisch dem Erwartbaren folgten, sondern in einer Weise authentisch, die man bei vielen „Durchschnittsmenschen“ wohl vergeblich suchte.
Möglicherweise haben Menschen, die durch eine nicht vorstellbare Hölle gingen (vgl. Anja Lundholm 2007), einen besonderen Sinn für das Wesentliche, das Notwendige, das, worauf es im Leben wirklich ankommt.
Vergiftete Generativität
Die im Historikerstreit infrage gestellte „Einzigartigkeit“ der Shoah wie auch die generationenübergreifende Trauma-Tradierung in Deutschland manifestiert sich in ganz besonderer Weise bei der Frage nach den Kindern und Kindes-Kindern der Überlebenden, der Frage nach der Generativität. Es ist die Existenz von Kindern, die unbewusst für die tiefe Sehnsucht nach einem unendlichen Leben und nach der Fortführung von Traditionen der Völker steht. Im Kontext der nationalsozialistischen Judenvernichtung spreche ich diesbezüglich von einer „vergifteten Generativität“ (Grünberg 2007), ist es den Nazis doch „gelungen“, bei den Überlebenden wie bei deren Nachkommen in das kostbarste Gut der Menschen einzugreifen, nämlich in die Visionen ihrer Zukunft. Die Juden sollten sich nicht „nur“ wie Ungeziefer fühlen, das ausgerottet werden muss – Zyklon B war ein Blausäurepräparat zur Schädlingsbekämpfung –, sondern ihnen wurde auch vermittelt, dass es eine Zukunft der Menschheit nur ohne Juden geben werde. So gab es Überlebende, die sich nichts weniger vorstellen konnten, als nach der Befreiung Kinder zu gebären, und zugleich solche, die im Gegenteil alles taten, um Hitler eben diesen Triumph „der Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ nicht zu „gönnen“. Vermutlich gab und gibt es keinen einzigen KZ-Überlebenden, der nicht Zeuge der Ermordung jüdischer Kinder wurde. „Etwa ein Viertel aller ermordeten Juden Europas waren Kinder“ (Tych et al. 2008, 37). In Polen lebten vor dem Krieg etwa eine Million jüdischer Kinder bis zum Alter von 14 Jahren. Von ihnen überlebten nur etwa 5.000, d.h. ein halbes Prozent (ebenda). Mütter mit Kindern waren die ersten, die „ins Gas gingen“. Es gibt unzählige Berichte darüber, wie man auf barbarische Weise Kinder ermordete, „am besten“ vor den Augen ihrer Eltern. Dies etwa mit dem Hinweis auf die grausame „Natur“ der Menschen abzutun oder damit, es habe unter den nationalsozialistischen Peinigern jeweils einen gewissen Prozentsatz von Sadisten gegeben, die ihre Opfer grausam quälten, verkennt die tiefe Wirkung, die diese Art des Mordens tatsächlich „erzielte“.
Eine Überlebende berichtete mir in einer mir unvergesslichen „Szene“, als nämlich im Nebenraum jiddische und israelische Lieder gespielt und gesungen wurden, von einer grausamen Beobachtung im Ghetto von Krakau. Sie sah, wie das dortige Waisenhaus liquidiert wurde, sie sah mit an, wie sich die Nazis „Arbeit“ ersparten, indem sie Babys und kleine Kinder aus den oberen Stockwerken einfach aus dem Fenster warfen.
Anja Lundholm (2007) beobachtete folgende „Szene“ des Grauens: ein KZ-Aufseher in Ravensbrück wendet sich väterlich freundlich einem kleinen Kind zu, spielt mit ihm „Hochwerfen“, bevor er es an der „Kremowand“ zerschmettert. „Ohne die leiseste Gemütsbewegung trägt der Mörder die kleine Leiche zu seiner Mutter hinüber, hält sie an den Füßen gepackt wie ein geschlachtetes Huhn. Schlenkerbewegungen seines Arms zeigen uns: da, wo eben noch ein bezauberndes Gesichtchen war, ist nichts mehr. Eine flache, blutige Masse. Er wirft der Frau mit verachtungsvoller Geste ihr Kind vor die Füße, hindert sie daran, über ihm zusammenzubrechen, indem er sie roh zum Ort des Verbrechens zerrt, auf den widerwärtigen Fleck zeigt und kommandiert: Erst saubermachen. Dann kannst du flennen!“ (a.a.O., 315). Mein Vater erzählte einmal in einem Interview, wie er noch gerade der Ermordung durch einen berüchtigten Lagerkommandanten entkam, aber Zeuge einer „Szene“ wurde, die ihn tief erschütterte. Ein Häftling, dem es nicht so schnell wie meinem Vater gelungen sei, irgendeine „Beschäftigung“ vorzutäuschen, wurde „mit freundlicher Stimme“ nach seinem Namen gefragt und danach, woher er stamme. Darauf der Kommandant: „Bück dich“, dann: „Bück dich tiefer“. Sodann habe der Lagerkommandant sein Opfer in unmittelbarer Nähe zu meinem Vater erschossen: „Du hast dich nicht tief genug gebückt“.
Was meinen Vater danach so sehr beschäftigt habe, sei, „dass dieser Verbrecher sein Opfer nicht mal angeschaut hat, er hat nach dem Schuss nicht mal geschaut, ob der Häftling wirklich tot ist, so wie das selbstverständlich jeder Jäger macht, der ein Tier erlegt hat“...
Die Juden sollten begreifen, dass sie nicht einmal den „Wert“ eines Tieres hätten.
Um etwas Ähnliches ist es wohl im Lager Kaltschund gegangen, das Aharon Appelfeld (1999) in seiner „Geschichte eines Lebens" erwähnt. Appelfeld bezeugt den Bericht eines Überlebenden aus diesem Arbeitslager, in dem nur Platz für kräftige Männer gewesen sei. Frauen nahm man nicht auf; alte Frauen wurden gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Als Jugendlicher erfuhr Appelfeld, was sich in Kaltschund zugetragen hatte. Er hörte vom dortigen „Zwinger, den man „Käfer“ nannte (...), ein Gehege für Schäferhunde, die als Wachhunde und zum Jagen gehalten wurden. Vor allem für die Jagd auf Menschen“ (S. 77). Der Lagerkommandant hatte angeordnet, wie man mit den ins Lager eingelieferten kleinen Kindern zu verfahren habe: man zog sie aus und warf sie den Hunden zum Fraß vor... Einige seien nicht gleich gefressen worden, sondern hätten bis zu ihrem Tod zuweilen Wochen im Zwinger „gelebt“; zwei Kinder haben „den Käfer“ überlebt. – Der Zwinger, so Appelfeld, habe das Arbeits- zum Todeslager gemacht: „In Kaltschund gab es keine Hinrichtungen, aber der Anblick der kleinen Kinder, die in den Tod gestoßen wurden, war unser Bankrott. Kein Wunder, daß es in Kaltschund viele Selbstmorde gab“ (ebd., 78)
Solchen Schilderungen kann man sich nicht entziehen. Man wird von ihnen ergriffen, überwältigt und förmlich körperlich „angesteckt“. So erstaunt es sicher nicht, dass ich während der Beschäftigung mit diesem letzten Teil meines Vortrags in der Nacht aus einem Alptraum erwachte, in dem meine jüngere Tochter bei einem Sturz ums Leben kam.
Für meinen Vater war die Sicherheit seiner Kinder vielleicht das Wichtigste. Mit seinen letzten Worten, die er am Vorabend seines Todes zu mir sprach, verabschiedete er sich von mir. Er sagte: „Pass‘ auf die Kleine auf“.
Im Original veröffentlicht in: Oliver Decker (Hrsg.): Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung, Volume 16, 2012, Heft 1 (28), S. 47-63.
Dr. phil. Kurt Grünberg wuchs als Kind von Shoah-Überlebenden in Deutschland auf. Seit 1990 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und als Psychoanalytiker in eigener Praxis tätig. Er ist außerdem Mitbegründer des Treffpunkts für Überlebende der Shoah.
Literatur
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- Appelfeld (1999), Geschichte eines Lebens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006
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