In den letzten Jahren sind einige Filme entstanden, die geographische und geschichtliche Zwischenräume ausleuchten, in denen die deutsch-jüdische bzw. deutsch-israelische Vergangenheit vor dem Hintergrund der Gegenwart präsent wird. Innerhalb und durch diese Filme werden Übergänge zwischen Deutschland und Israel sichtbar, in denen die geschichtlichen Spannungen nicht aufgehoben, sondern zum Ausgangspunkt unvorhergesehener Begegnungen werden.
Vergangenheit in der Gegenwart
Von solchen Begegnungen, durch die die gegenseitige Überlagerung von Geschichte und Gegenwart durchlässig wird, erzählt beispielsweise Eran Riklis in Playoff (Israel/Deutschland 2011), einem Film, der vom Leben des israelischen Basketballtrainers Ralph Klein inspiriert wurde. Klein, selbst Flüchtling aus Europa und deutsch-ungarischer Herkunft, war einer der erfolgreichsten Trainer in Israel. Anfang der 1980er Jahre entschied er sich von seinem Verein Maccabi Tel Aviv in die Bundesrepublik zu wechseln, um dort die erfolglose Nationalmannschaft zu trainieren. In Israel stieß seine Entscheidung auf Unverständnis und Proteste.
In Playoff heißt Klein Max Stoller. Stoller kommt nach Frankfurt, um Basketball in der Bundesrepublik zu einem erfolgreicheren Sport und das Nationalteam fit für die Olympischen Spiele zu machen. Wenn er über seine persönliche Beziehung zu Deutschland, seine Kindheit und Jugend in Frankfurt gefragt wird, weicht Stoller aus und verweigert eine Antwort.
Trotzdem wird Stoller in Deutschland vor allem als Jude und Israeli mit deutschen Wurzeln wahrgenommen und so mit einer öffentlichen Debatte über Schuld und Versöhnung konfrontiert. Diese gegenläufigen Bezüge zur Vergangenheit werden im Konflikt zwischen Stoller und dem Kapitän der Basketballmannschaft Thomas gespiegelt. Thomas projiziert in den Trainer aus Israel eine von ihm selbst empfundene ‚Schmach‘, den Krieg verloren zu haben, in dem er seinen eigenen Vater, nun ein gebrochener Mann, als Helden imaginiert.
Aber auch Stoller ist nicht in der Lage, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Die Professionalität des Sportgeschäfts ist für ihn auch eine Schutzhülle, um sein schlechtes Gewissen zu ertragen. Denn er empfindet Schuld, nicht nur weil er durch Glück überleben konnte, sondern auch weil er sich verantwortlich für den Tod seines Vaters macht. Dieser blieb in Deutschland zurück, in den Händen der Gestapo. Der Sohn gab sich in seiner kindlichen Vorstellung dafür die Schuld, weil er ungehorsam gewesen und ein Stück Kuchen in der nahe gelegenen Konditorei gestohlen hatte.
Stoller unterdrückt diese Erinnerungen. In Frankfurt, seiner ehemaligen Heimatstadt, wohnt er in einem Hotel. Der anonyme Ort ist ohne jede Geschichte, genauso wie die Sporthalle, die für ihn einen sicheren Rückzugsort bietet. Doch als er mit einem Fernsehteam durch die Stadt fährt, um einen Bericht über Basketball in Deutschland zu drehen, trifft ihn seine Vergangenheit hart und unerwartet. Vor dem Fenster des Aufnahmewagens taucht die Konditorei aus seiner Kindheit auf. Eine Erinnerungslandschaft entsteht vor den Augen des Protagonisten, die gleichzeitig fremd und vertraut wirkt. Andere Menschen haben auf den Straßen und an den Häusern ihre Spuren hinterlassen. Hier leben nun hauptsächlich sogenannte Gastarbeiter, Arbeitsmigranten, die aus der Türkei oder Nordafrika nach Deutschland geholt wurden, mit ihren Familien. An den Hauswänden hängen nun Plakate von Hausbesetzern und linksautonomen Gruppen. „Erkennen sie etwas wieder“, fragt der Journalist den israelischen Trainer auf Englisch. „Nein, nichts“, entgegnet Stoller zögerlich. „Alles hat sich verändert.“ Playoff inszeniert in dieser Szene eine komplexe Situation der Begegnung. Während die Filmkamera durch langsame Schwenks und zögerliche Fahrten die genaue Beobachtung dieser bekannten und gleichzeitig fremden Welt durch den Protagonisten unterstreicht, leugnet Stoller vor der Kamera des Fernsehteams seine Betroffenheit. Das professionelle Setting, das ihm dazu verhilft sein Schicksal zu einem von vielen, zu einer „ganz gewöhnlichen Kindheit in jener Zeit“ zu machen, wird unerwartet unterbrochen. Ein türkisches Mädchen tritt im Hintergrund in den Ausschnitt der Fernsehkamera. Stoller wendet sich dem Mädchen zu. Ihre Blicke treffen sich. Auch Sema hat ihren Vater verloren und macht sich für dessen Verschwinden verantwortlich. Der Israeli, die junge Türkin und ihre Mutter Deniz teilen die Erfahrung von Fremdheit in diesem Land. „Im Wesentlichen“, erklärt Regisseur Riklis diese Beziehung der Figuren, „erzählt der Film von zwei Fremden, die eine spirituelle und physische Distanz zu ihrem Heimatland haben.“
Deutschland bzw. Frankfurt werden zu einem Netz für eine dreifache Begegnung zwischen dem jüdischen Deutschen aus Israel, Deutschland und seinen türkischen Einwanderern, in dem interessanterweise gerade Stoller zur Figur des Übergangs wird. Indem die deutsch-israelischen Begegnungen um eine dritte Position, die der türkischen Einwanderer, erweitert wird, kann Riklis auch deren Perspektive in seinen Film integrieren. Stollers Erinnerungen an die Vertreibung aus Deutschland verbinden sich mit den Erfahrungen der Migration von Deniz und ihrer Situation als alleinerziehende Mutter. Stollers Reise in die Vergangenheit, die ihn vor allem durch das Dickicht seiner eigenen Abwehr führt, korrespondiert mit der Suche nach Deniz Mann, der die Familie verlassen und ein neues Leben mit einer deutschen Frau begonnen hat. Die Autofahrt durch deutsche Landschaften wird schließlich zum Auslöser dafür, dass Stoller sich seinen Kindheitserinnerungen stellen kann und die alte Konditorin besucht, von der er die tatsächlichen Umstände erfährt, unter denen seine Mutter und er damals emigrieren konnten. Dabei wird deutlich, dass für beide Hauptfiguren, Stoller und Deniz, die Suche nach ihrer Vergangenheit noch eine andere Dimension hat: „Sie lassen etwas zurück und wissen nicht, was sie in Deutschland vorfinden werden, aber sie beide möchten ihrer Suche einen Sinn geben“, erklärt Riklis. „Daher müssen sie ihre Vergangenheit begraben oder wieder aufleben lassen, um die Gegenwart und die Zukunft zu verändern.“ Diese Veränderung deutet sich in den Schlussbildern an. Fast ein wenig zögerlich geht Stoller einen langen, katakombenartigen Gang zum Spiel ‚seiner‘ Nationalmannschaft entlang. Als das Spiel beginnt, hellt sich sein Gesicht auf. Deniz hat mittlerweile Arbeit gefunden, mit der sie ihre Tochter und sich ernähren kann. Im Fernsehen sieht sie einen Bericht über die Basketballmanschaft. Neben Stoller steht Thomas, der das Team zuvor verlassen hatte, aber nun zurückgekehrt ist. Die letzte Szene zeigt Deniz nachdenkliches Gesicht. Das macht deutlich, dass die Zukunft trotz allem nicht vorbestimmt ist.
Begegnungen und Unterbrechungen
Im August 2012 reiste eine deutsche Regisseurin der dritten Generation nach Israel. Julia von Heinz‘ Ziel war es, dort einen Film vorzubereiten. Hannas Reise sollte von einer Geschichte zwischen Deutschland und Israel erzählen. Eine Geschichte, die sich von den bestehenden Mustern und Klischees lösen und der ihren eigenen Blick auf Israel wiedergeben sollte, einen Blick der Neugier und der Vertrautheit. Am 17. August, kurz nach ihrer Ankunft, notierte die Regisseurin erschöpft in ihr Drehtagebuch: „Julia, Du spürst nicht mehr, wie wichtig Dir dieser Film ist. Israel ist plötzlich ein Land wie jedes andere, alle Deine Projektionen über die Schichten, die unter der Oberfläche liegen und auch mit Deutschland zusammenhängen sind Hirngespinste. Ich saß in meinem runtergekühlten kahlen Büro und fand alles belanglos.“
Ihre Protagonistin Hanna hingegen fliegt ohne große Erwartungen nach Israel. Ihr einziges Ziel ist es, ihre Karrierechancen mit etwas sozialem Engagement aufzubessern. Am liebsten hätte sie es gesehen, wenn ihre engagierte Mutter ihr einfach ein entsprechendes Zeugnis ausgestellt hätte, aber die Leiterin von „Aktion Friedensdienste“ in Berlin hatte sie dann tatsächlich nach Israel geschickt. Nun soll sie in der Nähe von Tel Aviv in einem Behindertendorf arbeiten. Der Film stellt Hanna auf der Grenze zwischen beiden Ländern vor. Sie sitzt im Flugzeug, schaut hinunter auf die wolkenverhangenen Berge. Hannas Geschichte beginnt in einem Zwischenraum, in einem Flugzeug, das sie von einem Land in das andere bringt. So anonym wie das Verkehrsmittel ist auch Hannas Leben. Sie verfolgt eine Karriere, die längst zum Selbstzweck geworden ist. Israel ist eine lästige Pflichtübung, aber die Begegnung mit dem Land und seinen Menschen führt schließlich zu mehr. Der Zwischenraum füllt sich und damit auch die - Hanna noch nicht einmal bewussten - beschwiegenen Leerstellen in ihrer eigenen Biographie und der Geschichte ihrer Familie. „Es wird hart“, hatte Julia von Heinz in der Finanzierungsphase des Projekts in ihr Tagebuch notiert. „Hannas Reise behandelt wichtige Fragen, die mich ausmachen, die mich schon lange umtreiben. Es geht darum, wie der Holocaust bis in meine Generation hineinwirkt. Es geht um eine sprachlose Familie, in der der einzelne einsam ist. Es geht um Israel.“
Dabei erzählt der Film zunächst gar nichts oder nur sehr wenig über den Holocaust und die deutsch-israelische Vergangenheit. Viel mehr gelingt es der Regisseurin zu zeigen, wie die Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart hinein sickert. Selten als kathartischer Schock und zumeist als kleine Irritation oder doppeldeutiger Scherz, der offenlegt, wie schwierig es für die jungen Israelis und die Deutsche ist, eine gemeinsame Kommunikationsebene zu finden. „Du solltest mich heiraten!“ sagt der Psychologe Itay halb im Scherz zu Hanna, als er ihr ihren neuen Arbeitsplatz vorstellt. Seine Sehnsucht heißt Berlin. Nur wegen seiner Familie ist er noch in Israel. Und wegen seiner Nichte und der Frau seines Bruders, der sich vor einigen Jahren in den Tod fuhr, vielleicht eine Konsequenz aus der Enge, die in dem schönen und sonnigen Land doch immer wieder zu spüren ist. „Inklusive Sühne-Sex, dreimal pro Woche“, entgegnet Hanna flapsig und versucht sich den aufdringlichen Israeli vom Leib zu halten. Ihr Leben ist wohl geordnet. Ihr Freund richtet gerade in Berlin die gemeinsame Wohnung ein und mit dem neuen Job wird es schon klappen, vor allem mit der Referenz aus Israel, denn „irgendwas mit Juden kommt immer gut. Und behinderte Juden zählen doppelt“, denkt Hanna. „Dreimal pro Tag“, bleibt Itay hartnäckig. Hinter dem teilweise grenzwertigen Humor zeigen sich feine Risse in dem selbstbewussten Auftreten der Figuren. Ihre Identitäten geraten in Bewegung, denn beide sind gezeichnet von der Geschichte ihres Landes und ihrer Familien. Hannas Reise erzählt behutsam von diesen Spuren. Aus der Beiläufigkeit entwickelt sich eine Konsequenz. Je mehr aus der Begegnung zwischen Hanna und Itay eine persönliche Beziehung wird, desto mehr Raum scheint sich zu entfalten, um zu erzählen, wie diese Begegnung mit der Vergangenheit und Gegenwart beider Länder verbunden ist.
Eine wichtige Vermittlerfigur dafür ist Gertraud, die in einem Pflegeheim für Holocaustüberlebende lebt. Auch dorthin kommt Hanna zunächst widerwillig und gestresst. Sie glaubt, dort eine Pflichtübung im Erinnern absolvieren zu müssen, stößt aber auf eine wache und kritische alte Frau. Das Altenheim und insbesondere Gertrauds Zimmer sind wiederum Zwischenräume, die unvorhergesehene Konstellationen und Begegnungen möglich machen. In Gertrauds Zimmer begegnet Hanna nicht nur den Spuren der NS-Vergangenheit in Gertrauds Leben, sondern auch in ihrem eigenen. „In dieser Figur haben wir vier Überlebende zusammengeführt, die wir getroffen hatten. Es sind Leute, die alles persönlich erlebten, die aber einen starken Versöhnungsgedanken haben. Sie lieben und schätzen den Umgang mit jungen Deutschen, auch wegen der Sprache und der Kultur.“ Über Gertraud erfährt Hanna von der Familie Hirsch, die die Nachbarn ihrer Großeltern gewesen waren. Ein Geheimnis, das die Eltern ihrer Tochter und das auch Hannas Mutter Hanna verschwiegen hatte. Die deutsch-israelische Pendelbewegung des Films, der sich zwischen den Übergängen von Deutschland nach Israel und von Israel nach Deutschland entfaltet, findet also eine Entsprechung in einem „Pendelschlag“ zwischen den Generationen: „Die Großeltern, dann die Gegenbewegung der Mutter, die sich von ihren Eltern abgrenzen musste, das wiedergutmachen möchte, was ihre Eltern getan hatten. Bei Hanna wieder die Gegenbewegung. Sie empfindet das Gutmenschentum als verlogen. Was sich allerdings durch alle Generationen zieht, ist das Schweigen.“
Das Besondere an Hannas Reise ist nicht nur, dass der Film eine junge Deutsche nach Israel begleitet und dem deutschen Publikum so das Land in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit jenseits der bekannten Bilder des Nahostkonflikts nahebringt. Die besondere Perspektive liegt auch darin, dass in seinem Zentrum deutsche Figuren und eine deutsche Familie stehen. Dadurch werden Selbstbilder auf deutscher Seite durcheinander gebracht und in Frage gestellt. Das gilt für die engagierte Mutter genauso wie für die karriereorientierte unterkühlte Tochter und zieht sich bis in die Nebenfiguren, einen weichen etwas philosemitischen deutschen Freiwilligen und eine überzeugte antiisraelische Aktivistin. Obwohl Julia von Heinz auf allen Seiten Stereotype aufruft und mit ihnen spielt, ist am Ende alles anders. So gelingt ihr tatsächlich ein „heiterer Gegenentwurf zu der Behauptung [...], dass das schwierige Verhältnis zwischen Israel und Deutschland längst ‚normalisiert‘ sei.“ Doch der Pendelschlag endet nicht. In seinen letzten Einstellungen erschafft der Film aus der Kraft der Montage einen neuen – rein kinematographischen – Ort. Aus dem Zwischenraum des Flugzeugs am Anfang entstehen neue utopische Übergänge, „wenn am Ende Bilder von Tel Aviv und Berlin gegeneinander geschnitten werden und die Kamera sich von der Tel Aviver Strandpromenade aus in die Richtung Berlin untergehende Sonne dreht“. In diesen Bildern verschmelzen beide Sehnsuchtsorte zu einem. Aber gleichzeitig verdeutlicht die weiterhin bestehende Ungleichzeitigkeit von Hannas Entscheidung in Tel Aviv zu bleiben und Itays Entscheidung nach Berlin zu gehen, dass diese Übergänge weit entfernt davon sind, harmonisch und kontrollierbar zu sein. So ist das utopische und filmisch-imaginäre Tel Aviv-Berlin am Ende von Hannas Reise selber ein transitorischer Raum, ein imaginativer Ort im Werden.
Übergänge
Auf solche Weise zeigen neue israelische und deutsche Filme vielfältige Übergänge zwischen beiden Ländern und zwischen Geschichte und Gegenwart, ohne die bekannten Bilder vom Holocaust zu strapazieren. Anstatt Versöhnung und ein Ende der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu propagieren, machen sie deutlich, wie die geteilte und teilende Geschichte ganz unerwartet dort auftaucht, wo man sie vielleicht gar nicht erwartet. Damit stoßen sie Begegnungen an, die in eine Gegenwart führen, die von den gegenläufigen Erinnerungen zwar geprägt ist, aber nicht ausschließlich vom Bezug auf die Vergangenheit bestimmt wird.
Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch Übergänge. Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte, das im November 2014 im Berliner Neofelis Verlag erscheint. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Zustimmung von Verlag und Autor. Das Buch kann hier bestellt werden.
Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann unterrichtet Film und German Studies an der Hebrew University in Jerusalem. In seiner Doktorarbeit „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld 2011) hat er die Formen filmischer Erinnerung an die Shoah untersucht. Derzeit arbeitet er die deutsch-israelischen Filmbeziehungen auf und forscht zur filmischen Bearbeitung des Holocaust im Europäischen Gegenwartskino.