Sarah Yarden
Das Hand-in-Hand-Center für Jüdisch-Arabische Erziehung unterhält vier Schulen in Israel. Diese Schulen fördern durch ein integratives, zweisprachiges und multikulturelles Schulsystem die friedliche Koexistenz von Juden und Arabern. Auf jeder Altersstufe lernen arabische und jüdische Kinder in gleicher Anzahl. In allen Klassen werden die Kinder zweisprachig unterrichtet, auf Hebräisch und Arabisch. Die Jerusalemer Hand-in-Hand-School hat zur Zeit 624 Schüler_innen von der Vorschule bis zur 12. Klasse. Sie sind ethnisch und religiös gemischt, wobei Juden, arabische Christen und arabische Muslime die größte Gruppe ausmachen. In jeder Gruppe kommen die Kinder teils aus religiösen, teils aus säkularen Familien.
An dieser Schule entstehen Freundschaften zwischen jüdischen und arabischen Kindern. Sie teilen ihr Alltagsleben miteinander in einer Stadt, in der diese Gruppen ansonsten weitgehend getrennt voneinander leben. Meistens ist das recht einfach, aber in einer Stadt, die voll nationaler, religiöser und politischer Spannungen steckt, sorgen die nationalen Feier- und Gedenktage jedes Jahr für neue Debatten. Auf der palästinensischen Seite gibt es den Land Day und den Nakba-Gedenktag. Auf jüdischer Seite gibt es den Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Terroropfer, Yom-HaSikaron, den Unabhängigkeitstag, Yom-HaAtsma’ut, und den Holocaustgedenktag, Yom-HaShoah. Diese Tage sind angefüllt mit Symbolen, die für die jeweilige Seite eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben.
„Für Araber ist Yom-HaShoah der jüdische Nationalgedenktag, an dem sie am ehesten teilhaben können, denn hier geht es um menschliches Leiden, das uns alle berührt“, sagt Engi Wattad, eine palästinensische Lehrerin, die an der Schule für die Koordination der Yom-HaShoah-Gedenkveranstaltung verantwortlich ist. „Aber wirklich einfach ist es nicht“, fährt sie fort. „Begriffe wie Vertreibung, Verlust und Leid rufen bei einigen palästinensischen Schüler_innen Assoziationen mit der Not hervor, die die Palänstinenser durch die Juden erfahren mussten.“ Wattad fügt hinzu, dass die Abfolge der nationalen Gedenktage, in der kurz nach dem Holocaustgedenktag der Gedenktag für die Gefallenen Soldaten und der Unabhängigkeitstag fallen, die Sache noch schwieriger macht. Jaffa Shira Grossberg, eine der jüdischen Lehrerinnen, erklärt: „Yom-HaShoah fällt zwischen Pessach und den Unabhängigkeitstag, an denen die Idee jüdischer nationaler Befreiung und Erlösung gefeiert wird. Juden betrachten den Holocaust oft als einen Bestandteil des Narrativs MiShoah LeTkuma (Vom Holocaust zur Auferstehung), der zur Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates geführt hat. Und in dieser Bedeutung kann der Holocaustgedenktag so etwas wie ein Dilemma für die arabischen Schüler_innen unserer Schule darstellen. Für palästinensische Kinder gehen dann die fortgesetzten Geschichten von Juden, die unter dem Pharao gelitten und im Holocaust ermordet wurden oder in den Kämpfen zur Verteidigung ihres Landes gefallen sind, ineinander über.“
Hinzufügen könnte man noch, dass die Beschreibung der Helden des Warschauer Ghettoaufstandes leicht mit den Konturen der zionistischen Kämpfer in Israels Unabhängigkeitskrieg verschwimmt – und damit mit dem, was von den palästinensischen Schüler_innen der Schule als Nakba (Katastrophe) bezeichnet wird. Die Diskussion um Yom-alNakba und Yom-HaAtsma’ut reißt nicht ab, denn die beiden nationalen Narrative sind schwer miteinander in Einklang zu bringen.
All dies trägt dazu bei, dass Unterrichten über den Holocaust und die Gestaltung der Gedenkzeremonie am Holocaustgedenktag an der Hand-in-Hand-School keine leichten Aufgaben darstellen. Die Gedenkveranstaltung wird vom Israelischen Erziehungsministerium vorgegeben, und sie schließt das jüdische Yiskor-Gebet mit ein. Die Schule versucht, in ihrer Interpretation von Gedenken auch alternative Wege zu beschreiten, zum Beispiel durch Tanz. „Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Teile der Gedenkveranstaltung in arabischer Sprache abgehalten werden, mit nicht-jüdischen Schüler_innen als gleichwertige Teilnehmer“, so Grossberg. Wattad ergänzt, dass sich von den Texten, die Yad Vashem jährlich für den Einsatz in Gedenkveranstaltungen empfiehlt, manche als geeigneter und manche als schwieriger erweisen. Sie wähle die letztendlich verwendeten Texte sehr sorgfältig aus. „In einem der letzten Jahre wurden Texte über muslimische Gerechte unter den Völkern empfohlen, die sich natürlich für die spezielle Situation an unserer Schule hervorragend eigneten“, erinnert sie sich.
Wattab und Grossberg stimmen darin überein, dass die Schule eine klar universalistische Perspektive einnimmt. Es wird versucht, die gesamte Klasse in die Diskussionen mit einzubeziehen und jeden einzelnen – nicht nur die jüdischen Kinder – dazu zu bringen, sich mit den Opfern als Menschen zu identifizieren und Empathie für die Opfer zu entwickeln. Dabei wird betont, dass die Opfer nicht nur Juden waren, sondern beispielsweise auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen oder Homosexuelle.
Wenn in der Klasse mit dem Unterricht über den Holocaust als Vorbereitung für Yom-HaShoah begonnen wird, bringen die älteren Schüler_innen oft schwierige Fragen und Vergleiche auf: „Wie können die Juden, die soviel durchgemacht haben, dasselbe uns Palästinensern antun?“ oder: „Warum sollte ich an ihrer Zeremonie teilnehmen – für mich sind die Juden Täter, nicht Opfer!“ Jaffa Shira Grossberg meint, es sei wichtig, diese Reaktionen ernstzunehmen, den Jugendlichen zuzuhören und die Themen, die hier angerissen werden, zu diskutieren. Grossberg und Wattab sind beide der Meinung, dass Nakba und Holocaust voneinander getrennt betrachtet werden sollten. „Die Nakba ist eine Sache, der Holocaust eine andere. Auch wenn beide nationale Traumata darstellen, mit denen man sich unbedingt auseinandersetzen muss, sollten beide getrennt voneinander behandelt werden. Wir haben immer zwei Lehrer in der Klasse, einen palästinensischen und einen jüdischen. Das ist hilfreich, wenn es um Fragen des Leids der Anderen geht und darum, den gemeinsamen Wert menschlichen Lebens herauszustellen.“
„Es geht hier darum, die Erinnerung an den Holocaust an eine Gruppe weiterzugeben, die davon nicht unmittelbar betroffen war“, sagt Grossberg. Dies trifft nicht nur auf die palästinensischen Schüler_innen zu, sondern auch auf andere Teile der israelischen Gesellschaft sowie auf den Rest der Welt. In dieser Hinsicht gelten die Herausforderungen, die an der Hand-in-Hand-Schule bestehen, auch an anderen Orten.
Engi Wattad meint: „Schmerz kann man nicht vergleichen, und Schmerz ist nicht messbar. So schwierig die politische Situation heute auch sein mag – ich will meinen Schüler_innen Empathie für die Opfer vermitteln. Ich bin nicht immer einverstanden mit der Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust für politische Zwecke, aber ich verstehe und ich respektiere den Schmerz.“
Sarah Yarden wurde in Schweden geboren. Sie studierte Jura mit Schwerpunkt Internationales Recht in Lund. Sarah ist Mutter von fünf Kindern und zog im Jahr 2005 nach Israel. Hier gestaltet sie aktiv das Profil der drei unterschiedlichen Schulen ihrer Kinder mit und engagiert sich zudem im interreligiösen Dialog in Jerusalem.