Dr. Esther Webman
Am Vorabend des israelischen Holocaust-Gedenktages im April 2014, veröffentlichte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas eine bisher beispiellose Erklärung, in der er den Holocaust erstmals als „das abscheulichste Verbrechen“ der Neuzeit bezeichnete.
Er drückte seine Sympathie „mit den Familien der Opfer sowie den vielen anderen unschuldigen Menschen, die von den Nazis ermordet wurden“ aus. Der Holocaust repräsentiere, so Abbas, „das Konzept von ethnischer Diskriminierung und Rassismus, welches die Palästinenser auf das schärfste verurteilen und bekämpfen.“ Abbas forderte im Weiteren die israelische Regierung dazu auf, den „unglaublich traurigen Holocaust-Gedenktag“ als Chance zu nutzen, um einen „gerechten und umfassenden“ Frieden mit seinem Volk auf Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen.
Dies war die erste öffentliche und offizielle Erklärung, in der ein palästinensischer oder arabischer politischer Führer, den Holocaust in seiner ganzen Dimension anerkannte. Darauf folgte eine säuerliche Reaktion der israelischen Regierung, die Abbas Äußerungen als einen Versuch der Instrumentalisierung interpretierte, der darauf abziele, die Kritik an dem kurz zuvor geschlossenen Versöhnungspakt mit dem islamistischen Rivalen, der Hamas, zu mildern. Dieser Artikel versucht, die eingangs zitierte Erklärung in den historischen Kontext einzuordnen und die Positionen und Entwicklungen im palästinensisch-arabischen Holocaust-Diskurs herauszuarbeiten. Dieser Diskurs entstand Mitte der 1990er Jahre, als Antwort auf internationale und regionale Entwicklungen sowie auf die Universalisierung von Erinnerung und den Lehren, die aus den Verbrechen zu ziehen seien. Trotz der Rückschläge durch den schleppenden Friedensprozess, die zweite Intifada und die Umwälzungen des „arabischen Frühlings“, scheint dieser Diskurs, den ich als neuen oder alternativen Ansatz - im Gegensatz zu dem bisherigen traditionellen arabischen Diskurs - bezeichnen möchte, seit kurzem an Dynamik zu gewinnen.
Der traditionelle arabische Ansatz ging davon aus, dass der Holocaust die Araber nichts anginge. Schauplatz der Katastrophe sei Europa gewesen und die verantwortlichen Täter der Verbrechen Europäer. Die „Judenfrage“ und ihre Lösung sei dann in den Nahen Osten exportiert worden. Durch die Gründung des Staates Israel habe sich Europa seiner Schuldgefühle erleichtert und die Palästinenser hätten den Preis dafür bezahlen müssen und seien zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. In den ersten Jahren, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Reaktionen der arabischen Seite auf den Holocaust noch nicht monolithisch. Innerhalb von drei Jahren jedoch, also bis zur Staatsgründung Israels 1948, durchliefen sie einen raschen Wandel. Die anfänglich mitfühlende und humanitäre Haltung gegenüber dem Leid der Juden und anderer Opfer wich der Darstellung des Holocaust als Hauptursache für die Ungerechtigkeit, die den Arabern widerfahren sei. Diese Verschiebung war das Ergebnis der wachsenden politischen Meinungsverschiedenheiten über das Schicksal Palästinas und den aus Europa vertriebenen Juden. Die Verknüpfung beider Probleme, und der Versuch, dafür eine gemeinsame Lösung zu finden, führten zu der Notwendigkeit, den Holocaust zu verschleiern, zu leugnen oder zu ignorieren, da er als wichtiger Faktor für den zionistischen Erfolg angesehen wurde. Mit ihm sei die internationale Gemeinschaft dazu gebracht worden, der Gründung des jüdischen Staates zuzustimmen.
Von diesem Zeitpunkt an, bis Mitte der 1990er Jahre, war der Holocaust nur selten ein eigenständiges Thema innerhalb des arabischen öffentlichen Diskurses. Dennoch fand er häufig sowohl explizit als auch implizit Erwähnung in Schriften oder Diskussionen, die sich mit historischen oder politischen Themen, wie beispielsweise jüdischer Geschichte und der jüdischen Frage, dem Problem Palästinas oder mit dem Zionismus beschäftigten. Im arabischen Kontext drehten sich die Diskussionen um den Holocaust dabei immer um seine politische Bedeutung, während sein Gegenstand, die Verbrechen als solche, ausgeblendet wurden. Nach der Gründung des Staates Israel wurden Informationen über den Holocaust bewusst eingeschränkt, wodurch sich Ahnungslosigkeit und zu großen Teilen Ignoranz verbreiteten. Entsprechend entstanden auf arabischer Seite nur wenige Forschungsarbeiten zum Holocaust. Man bediente sich aus dem bestehenden Fundus und wählte Motive aus der europäischen Literatur über den Holocaust, die leicht in den antijüdischen, antizionistischen und antisemitischen Diskurs aufgenommen werden konnten, um den Staat Israel und den Zionismus zu delegitimieren. Gegenwärtig hat der öffentliche palästinensische Diskurs den Holocaust und seine Terminologie „indigenisiert“ - ihn sich also zu eigen gemacht - und nutzt ihn entweder für den Wiederaufbau der eigenen Nationalidentität oder zur Dämonisierung und Delegitimierung Israels.
Der Zusammenbruch des Ostblocks in den frühen 1990er Jahren und die damit einhergehenden Auswirkungen auf das Weltgeschehen - insbesondere auf den Nahen Osten -, veränderten die Rezeption des Holocaust. Das Aufkommen einer neuen Weltordnung sowie die Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Abkommen und des Friedensvertrags mit Jordanien im Jahr 1994, diente liberalen arabischen Intellektuellen als Auslöser, um den traditionellen arabischen Ansatz im Umgang mit dem jüdischen Holocaust neu zu bewerten. Sie übten Kritik an der vorherrschenden Wahrnehmung des Holocaust innerhalb der arabischen Öffentlichkeit und traten für die eindeutige Anerkennung der Leiden des Jüdischen Volkes sowie für die Trennung der daraus resultierenden politischen Konzequenzen ein. Dies sollte schließlich zu einer Anerkennung der palästinensischen Tragödie durch die Israelis führen und die Versöhnung und Koexistenz zwischen den beiden Völkern erleichtern.
Dieser neue Diskurs markierte einen bedeutenden Wendepunkt in der arabischen Diskussion über den Holocaust. Er ermöglichte eine offenere Betrachtung über bisherige Grenzen hinaus und erlaubte vielschichtigere Ansichten. Trotz der geringen Zahl von Vertretern, bewirkte dieser Ansatz eine Veränderung in der Darstellung des Holocaust – und dies beeinflusste ebenfalls seine Gegner. Der Mainstream wurde facettenreicher, während sich Holocaustleugnung zunehmend auf islamistische Kreise beschränkte. Als zentraler Bestandteil für eine Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis wird in diesem neuen Ansatz die gegenseitige Anerkennung des jeweiligen Schicksals gesehen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist dabei die Universalisierung des Holocaust - also die Übertragbarkeit der Verbrechen auf andere Geschehnisse. So wird argumentiert, die Lehren aus dem Holocaust seien zu universellen und moralischen Werten geworden, die als ein Bollwerk der Demokratien gegen die Bedrohungen durch Fundamentalismus, Extremismus und Rassismus dienten, von welchen Juden und Moslems gleichermaßen bedroht seien. Nur wenn sich die Juden auf diese breitere Wahrnehmung einlassen und die Araber ihrerseits das Leid in ähnlicher Weise anerkennen würden, könne es eine wirkliche Versöhnung im Nahen Osten geben. Dies jedoch, „befreit weder den Jüdischen Staat noch die Juden von ihrer Verantwortung“ für die palästinensische Tragödie. Jede Ablehnung von palästinensischen Rechten, „wird gleichbedeutend mit einer Verletzung der Unantastbarkeit des Holocaust sein, der zum Maßstab für universalistische Werte geworden ist.“
Die Debatten über den Holocaust und die daraus resultierenden moralischen universalen Lehren können als Teil eines Versuchs angesehen werden, sich mit der Geschichte zu arrangieren. Denn eine solche Geschichtsbewältigung ist gerade in einer Zeit der Wiederherstellung nationaler Identität besonders notwendig und bereitet den Weg für einen historischen Kompromiss und Versöhnung. Die Identifizierung des Holocausts als ausschlaggebender Faktor für die Gründung Israels führte zu seiner Leugnung, um auf diese Weise den Staat Israel zu delegitimieren. Die Veränderungen im arabisch-israelischen Konflikt hingegen, und die Legitimierung Israels durch die Bereitschaft zu Verhandlungen und das Eintreten in Friedensverhandlungen führten zu einem offensichtlichen Dilemma. Die bisherige Haltung gegenüber dem Holocaust wurde obsolet und erforderte eine Neubesinnung. Diese Entwicklungen sind auch eng verbunden mit globalen politischen und kulturellen Trends und gingen mit einer grundlegenden Überprüfung und Neuausrichtung der Rolle einher, die die arabische Welt und die islamische Kultur unter den Nationen und in der Gesellschaft früher einnahm, derzeit einnimmt und zukünftig einehmen sollte, einher.
Der Ausbruch der Al-Aqsa Intifada Ende September 2000, die stockenden Friedensverhandlungen und der wachsende Gegensatz zwischen Israelis und Palästinensern haben die neuen Ansätze in der Debatte um die Rolle des Holocaust in der arabischen Welt unterbrochen und zu einer Gegenbewegung geführt.
Die plumpe Leugnung des Holocaust lebte als Mittel für die Delegitimierung Israels und des Zionismus wieder auf. Dabei bediente man sich bekannter Motive, wie etwa dem Bedauern darüber, das Hitler seine Aufgabe nicht vollendet habe. Diese Tendenz erinnerte an die Rhetorik der früheren Jahre. Am notorischsten war die ideologische Umarmung der Holocaustleugnung unter islamischen Gelehrten. Diese Gelehrten behaupten weiterhin, dass die Anerkennung der jüdischen Tragödie der Anerkennung des palästinensischen Schicksals und dem palästinensischen Recht auf Selbstbestimmung widerspreche und es dieses untergrabe. Die Stimmen, die einen Wandel in der Sichtweise propagierten, gerieten nun in die Defensive, verschwanden jedoch nicht gänzlich. Die fortwährende Wirkung ihrer Thesen zeigte sich in Stellungnahmen, wie Besuchen von arabischen Gruppen in Auschwitz und in Holocaust-Museen sowie in der Teilnahme von arabischen Wissenschaftlern an Konferenzen zum Holocaust. Dabei wurde auch das Tabu der Thematisierung des Holocaust teilweise aufgebrochen und die Forderung nach einer eigenständigen arabischen Forschung sowie der Verbreitung von Wissen über den Holocaust innerhalb der arabischen Gesellschaft erhoben.
Fazit
Noch vor seiner Ernennung zum Premierminister der palästinensischen Autonomiebehörde im Jahre 2003, gab Mahmud Abbas, der in seiner Doktorarbeit die zionistische Bewegung beschuldigt hatte, mit den Nazis kollaboriert zu haben und dabei auch die Zahl der jüdischen Opfer anzweifelte, der israelischen Tageszeitung Ha´aretz ein Interview, in dem er von seinen früheren Thesen Abstand nahm. Er gestand ein, dass „der Holocaust ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen gegen die Jüdische Nation war“, das nicht geleugnet werden könne. Er wiederholte diese Aussage auch in seiner abschließenden Erklärung zum Ende des Nahost-Gipfel in Aqaba, an dem er und der israelische Premierminister Ariel Sharon am 4. Juni 2003 teilnahmen.
Aber erst in diesem Jahr hat Abbas es gewagt, seine Sichtweise dem palästinensischen Volk nahezubringen. Die Reaktionen auf seine Ausführungen zum Holocaust-Gedenktag 2014 in den arabischen Medien waren unterschiedlich.
Einige unterstützten seine Sichtweise, aber die Mehrheit schränkte ihre Zustimmung ein.
Ein Leitartikel, der in einer panarabischen Tageszeitung erschien, stimmte Abbas in weiten Teilen zu, merkte jedoch das Vorhandensein einer „Holocaust-Industrie“ an.
Mehrere Kommentare riefen dazu auf, den Holocaust und das palästinensische Problem voneinander zu trennen und beschuldigten gleichzeitig den „internationalen Zionismus“, die Verbrechen gegen die Juden inflationär zu benutzen und sie so in einen Mythos zu verwandeln. Eine ägyptische Zeitung hob die Kontroversen innerhalb des arabischen Diskurses über den Holocaust sowie die im Zuge dieses Diskurses immer wieder hervorgebrachten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Verbrechen hervor. Dabei wurde betont, dass Israel den Holocaust dazu nutze, Deutschland und andere westliche Länder auszubeuten, während das „auserwählte Volk“ die Unterdrückung gegen die Palästinenser fortsetze.
In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts scheint es, als wären Holocaustleugnung, die Gleichsetzung von Zionismus und Nazismus, die Beschuldigung Israels den Holocaust zu instrumentalisieren, sowie die Ineinssetzung von Holocaust und palästinensischer Tragödie, die vorherrschenden Themen in der traditionellen, arabischen Beschäftigung mit dem Holocaust. Auch wenn die Mehrheit der Stimmen in dieser Auseinandersetzung das historische Geschehen grundsätzlich anerkennen, werden doch die Einzigartigkeit der Verbrechen und ihr Ausmaß auch weiterhin in Frage gestellt.
Esther Webman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moshe Dayan Zentrum für Nahost- und Afrikastudien und des Stephen Roth Instituts für Antisemitismus- und Rassismusforschung der Universität Tel-Aviv. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf modernen islamischen Bewegungen und jüdisch-muslimischen Beziehungen. Sie ist Mitherausgeberin des renomierten Buches From Empathy to Denial: Arab Responses to the Holocaust, welches 2010 den Buchpreis des Washington Institutes for Near East Policy erhielt.
Übersetzung aus dem Englischen: Katja Krause und Wolfram Krause