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Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Martin Burkhardt
Anfang April 1924 „veranlasste“ die österreichische Botschaft in Berlin den Mitgründer und -eigentümer der Schuhfabrik Salamander, Max Levi, sich um das österreichische Honorarkonsulat in Stuttgart zu bewerben. Wenige Tage später unterstützte die Handelskammer Stuttgart Levis Kandidatur, und das württembergische Arbeitsministerium schloss sich dem an. Im Sommer bewarb sich noch ein „anderer Industrieller“ um dieses ehrenvolle Amt. Das deutsch-nationale „Leonberger Tagblatt“ kommentierte den Fall, eigentlich habe die österreichische Regierung dieses Konsulat ja „einem angesehenen Württemberger“ übertragen wollen, doch wegen des Einsatzes der württembergischen Regierung „für den Herrn Max Levi“ sei ersterer nicht zum Zuge gekommen. (HStAS E 130b Bü 438) Dieses Gegensatzpaar, auf der einen Seite der „angesehene Württemberger“ ohne Namen, um ihn nicht des Schutzes der Anonymität zu berauben, auf der anderen Seite der „Herr Max Levi“, mit vollem Namen, aber ohne geografisches Attribut, somit ohne regionale Zugehörigkeit, dieses Stilmittel war und ist nicht justiziabel - aber jeder zeitgenössische Leser wusste dieses semantische Kunstwerk zu übersetzen in das gemeinte: „ein hergelaufener Jud“. So empörte sich dann auch die sozialdemokratische Stuttgarter „Schwäbische Tagwacht“ über die antisemitischen Ausfälle gegen Max Levi.
Wie ordnet man solche Quellenfunde wissenschaftlich ein? Martin Ulmer entwickelt in seiner Studie mit dem „codierten Antisemitismus“ ein Instrument, das er theoretisch herleitet und mit verschiedenen weiteren Beispielen aus der Stuttgarter Stadtgeschichte hinterlegt.
Ulmers bei Utz Jeggle am Institut für Empirische Kulturwissenschaften der Universität Tübingen eingereichte Dissertation fußt auf umfänglichem Quellenmaterial aus einem Dutzend einschlägigen Archiven; sie verknüpft mehrere methodische Ansätze, wie den der kulturellen Codes oder die Historische Semantik; sie folgt klaren Fragestellungen, differenziert und wägt sachgerecht ab. Die umfassende und treffende Rezension von Christel Köhle-Hezinger www.hsozkult.de/searching/id/rezbuecher-16346?title=m-ulmer-antisemitism... soll hier nicht mit ähnlichen Worten wiederholt werden. Dafür sei der Stellenwert der Arbeit in der Forschung und ihre gesellschaftliche Relevanz betont. Neben dem erwähnten Erklärungsmodell vom „codierten Antisemitismus“ zeigt die Untersuchung, wie sich der „moderne“ Antisemitismus entwickeln konnte, und zwar außerhalb der Zentren: Die Bevölkerungszahl Stuttgarts stieg zwar im Untersuchungszeitraum rasant an, doch entsprach die damalige Bedeutung der Stadt im deutschen Bezugsrahmen keineswegs der heutigen: Gemessen an der Einwohnerzahl erreichte Stuttgart im Jahr 1890 gerade einmal den 15. Rang, hinter Großstädten wie Breslau (Rang 3), Magdeburg (Rang 8) oder Altona (Rang 13).
Die Natur macht keine Sprünge, weiß die Naturwissenschaft seit Aristoteles. Die Geschichte schon gar nicht, schließen sich die Historiker an. Indem alle historischen Phänomene ihre Vorläufer, Gründe, Ursachen haben, so bietet die Studie eine Vorgeschichte zur nationalsozialistischen Herrschaft, die 1933 keineswegs naturgesetzlich über Deutschland hereinbrach - auch nicht über Württemberg, dessen Eliten immer ein bisschen die Legende pflegten, das Land sei weitgehend nazi-immun gewesen, das Bürgertum seiner Hauptstadt immer liberal geblieben. Dass dies nicht zutrifft, ist in Ulmers Buch auf 400 Seiten nachzulesen.
Schließlich liefert das Buch anschauliche Beispiele dafür, welche Wucht antisemitische Aufwallungen in diesem eher abgelegenen Teil des Kaiserreichs konkret entfalten konnten: Am 26. März 1873 monierte ein uniformierter Soldat im nahe dem Marktplatz gelegenen Laden der jüdischen Textilhändlerin Helene Baruch die Qualität der Waren; der folgende Disput schaukelte sich zu gegenseitigen Beleidigungen hoch, der Soldat ohrfeigte einen Angestellten, wurde dann sogar gegen herbeigerufene Polizisten handgreiflich, die den Tobenden ihrerseits wenig zimperlich bändigten; mittlerweile in Mengen herbeigeeilte Schaulustige bliesen die Vorkommnisse grotesk auf, am Ende kursierte das Gerücht, ein Jude habe einen württembergischen Soldaten totgeschlagen. Die folgenden, zugleich antisemitischen wie gegen Polizei und Obrigkeit gerichteten gewalttätigen Krawalle dauerten drei Tage und vor allem Nächte an - dies im beschaulichen, kurz vor den Turbulenzen des „Gründerkrachs“ wirtschaftlich prosperierenden Stuttgart!
Zusammengefasst fügt der Historiker Martin Ulmer einerseits der Stuttgarter Stadtgeschichte ein wesentliches Kapitel hinzu. Andererseits reicht das Buch über einen Beitrag zur vergleichenden Antisemitismus-Forschung hinaus: Ulmer analysiert exemplarisch die Mechanismen, wie sich derjenige Teil der Bevölkerung, bei dem der permanente gesellschaftliche Wandel vornehmlich Abwehr und Abstiegsangst auslöst, vermeintlich Schuldige an seinem Unwohlsein sucht, und wie er gegen die erkorenen Sündenböcke vorgeht. Eine aus der Historie geschöpfte Studie, die noch lange aktuell bleiben wird.
Dr. Martin Burkhardt, 1962 in Stuttgart geboren, arbeitet als wissenschaftlicher Archivar im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg in Stuttgart-Hohenheim. Er publizierte zahlreiche Beiträge zur badischen und württembergischen Orts- und Wirtschaftsgeschichte und bemüht sich seit einigen Jahren auch als Vorsitzender des Heimat- und Altertumsvereins in Heidenheim an der Brenz um die allgemeine Verbreitung eines kritischen Geschichtsbewusstseins.
Martin Ulmer
Antisemitismus in Stuttgart 1871-1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag. Metropol-Verlag, 2011.
478 Seiten
28 €
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