Mit dieser sarkastischen Bemerkung hat Jean-Luc Godard eine Grundsatzfrage berührt, mit der sich jeder auseinanderzusetzen hat, der – in welchem Medium auch immer – Geschichte erzählt: Die Frage, wie im multiperspektivischen Geflecht historischer Ereignisse eine ausgewogene und angemessene Gewichtung der unterschiedlichen Perspektiven erreicht werden könne. Insbesondere beim Erzählen von jüdischer Geschichte stehen Autoren, Historiker, Ausstellungskuratoren oder Filmemacher vor der Herausforderung, die eigenständig jüdische Perspektive auf die Jahrtausende alte Geschichte des jüdischen Volkes zu würdigen und zugleich zur Sprache zu bringen, welche Haltungen, Entscheidungen und Entwicklungen in den nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaften im 20. Jahrhundert zu der Menschheitskatastrophe Shoah geführt haben.
Als Martin Liepach und Wolfgang Geiger ihre aktuelle Studie zur Darstellung jüdischer Geschichte in deutschen Schulbüchern vorlegten, war ihnen diese Herausforderung bewusst. Mit ihrer Untersuchung von 74 deutschen Schulbüchern, die heute in verschiedenen Bundesländern und Schularten in Gebrauch sind, wollen sie sich daher bewusst abgrenzen von klassischer Schulbuchschelte, und vielmehr Denkanstöße für Lehrer, Schulbuchautoren und Didaktiker geben. Dafür wurde der Studie zusätzlich zu der vergleichenden Analyse unterschiedlicher Lehrwerke ein zweiter Teil hinzugefügt, der sich unter der Überschrift „Didaktische Herausforderungen“ mit konkreten geschichtsdidaktischen Fragen der Vermittlung befasst. So gewährt die Studie einen aufschlussreichen Einblick in die Praxis des heutigen Geschichtsunterrichts, indem sie nicht nur die Vermittlung jüdischer Geschichte, sondern generell zentrale Fragen der Geschichtsdidaktik diskutiert.
Systematische Untersuchungen von Schulbüchern, die insbesondere der Frage nach der Darstellung der jüdischen Geschichte in deutschen Unterrichtswerken nachgehen, liegen bereits seit den 60er-Jahren vor. In den 80er-Jahren wurde eine israelisch-deutsche Schulbuchkommission einberufen, die sich Anfang 2011 neu konstituierte und zum Abschluss jeder Arbeitsrunde ihre Empfehlungen vorlegt. Daher mag es eine der nachhaltigen Überraschungen für die Leser der hier besprochenen Studie sein, wieviele längst überholt geglaubte Positionen und Probleme sich offensichtlich ihren Weg durch die Generationen von Schulbüchern bahnen und sich hartnäckig trotz anderslautender Empfehlungen am Leben halten.
Generell wird in den untersuchten Lehrwerken der Epoche des Mittelalters und dem Nationalsozialismus am meisten Raum zugestanden. Unter anderem diese Gewichtung trägt dazu bei, dass die Darstellung jüdischer Geschichte von einer Verfolgungsgeschichte dominiert wird, wobei durch Vor- bzw. Rückverweise im chronologischen Ablauf zusätzlich der Eindruck der unvermeidlichen Zuspitzung auf das katastrophale Ende hin entsteht – in den Augen der Autoren übrigens ein grundsätzliches Problem bei chronologischen Geschichtsdarstellungen, die durch die so entstandene Linearität oftmals den Eindruck von Determinismus und Alternativenlosigkeit vermitteln.
In den untersuchten Büchern werden jüdische Geschichte und Geschichte des Antisemitismus nicht voneinander getrennt präsentiert. Jüdische Geschichte gleicht in dieser Darstellung einer Kette von Pogromen und verliert jegliche selbstaffirmative Kraft. Dazu kommt bei der Auswahl der Quellen noch immer ein klarer zahlenmäßiger Überhang von antisemitischen Quellen bzw. (im NS-Kapitel) eine erdrückende Dominanz der Täterperspektive. Während jüdische Reaktionen auf Diskriminierung oder Verfolgung weitgehend unerwähnt bleiben, bemühen sich die Schulbuchautoren sichtlich darum, die Entwicklung des Antisemitismus durch reale (oder als real dargestellte) historische Umstände zu erklären und damit auch verstehbar zu machen. In dem wichtigen Kapitel „Antisemitismus verstehen?" weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass dieser Grundansatz bereits zu einer perspektivischen Schieflage führt, weil er im Grunde dem Angebot gleichkommt, Verständnis für antisemitische Positionen aufzubringen.
Ein weiteres erstaunliches Ergebnis ist, dass in diesem Zusammenhang nach wie vor historisch seit langem überholte Klischees als Eckpfeiler antisemitischer Auffassungen angeführt werden. So werden in einer Vielzahl der Bücher historisch ungenaue, mitunter gar falsche Informationen zur Ghettoisierung oder Stigmatisierung der Juden im Mittelalter reproduziert. Auch der Motivkreis des jüdischen Geldverleihers gehört zu diesem Inventar an historisch unkorrekten Konstrukten, die gleichsam zu einem festen Bestand stereotyper Mythen geronnen sind, deren sich Antisemiten bis heute bedienen.
Im Kapitel zum Nationalsozialismus führt dieses Festhalten an stereotypen historischen Motiven zu einer Kanonisierung immer wieder angeführter Protagonisten oder Ereignisse, wie sich zum Beispiel beim Thema Widerstand sehen lässt. Nach wie vor wird Widerstand in den wenigen organisierten deutschen Gruppen typologisch festgemacht, u.a. in der Weißen Rose oder im Stauffenberg-Kreis. Jüdischer Widerstand oder Widerstand durch Nicht-Juden in Form von Solidarität mit Juden werden lediglich in einem von 74 Büchern erwähnt. Die von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichneten Personen, die durch Hilfeleistungen für Juden ja immer auch indirekt ihren Widerstand gegen die NS-Ideologie zum Ausdruck brachten, wären jedoch genau die Personengruppe, durch die sich das deterministische Geschichtsbild aufbrechen und Handlungsoptionen innerhalb der Volksgemeinschaft sichtbar machen ließen.
Der Stereotypisierung historischer Motive entspricht im Bereich der Quellenauswahl eine immer noch vorherrschende Tendenz zur Ikonisierung sowohl bei Bild- als auch Textquellen. Trotz (oder wegen?) eines beträchtlich erweiterten Fundus an Quellen (die aufgrund der weltweit fortschreitenden Digitalisierung ganzer Archivbestände bequem zugänglich sind) gehören zu den meistzitierten Täterquellen zum NS noch immer Hitlers „Mein Kampf“, Rudolf Höß’ Tagebuch und Himmlers Posener Rede. Bei den ausgewählten Fotografien stehen weiterhin „Ikonen“ der Shoah wie das Bild des jüdischen Jungen, der am Ende des Aufstands im Warschauer Ghetto festgenommen wird, oder die Kinderfotos, die nach der Befreiung von Auschwitz zwischen den Stacheldrähten aufgenommen wurden, im Vordergrund. Fotos, die die jüdische Perspektive wiedergeben, sucht man in den Schulbüchern vergebens – obwohl auch diese weniger verbreiteten und natürlich de facto seltenen Aufnahmen mittlerweile problemlos zum Beispiel auf der Webseite von Yad Vashem zur Verfügung stehen. Dem allgemeinen fachdidaktischen Konsens zum Trotz setzen auch immer noch einige Schulbuchautoren auf die Wirkung von Fotos, die Leichenberge und andere Schockbilder zeigen.
Neben Autorentext und Quellen ist in Schulbüchern vor allem die Gestaltung der Arbeitsaufträge dafür ausschlaggebend, welche Haltung die Lernenden dem Lernstoff gegenüber einnehmen. Hier zeigen die Autoren eine Tendenz auf, die durch die Quellenauswahl in den meisten Büchern bereits vorherrschende Täterperspektive zusätzlich verstärkt: nämlich die Neigung, die Lernenden zu einer Reproduktion der Täterperspektive aufzufordern. Arbeitsaufträge wie dieser bleiben klar bei einer Reproduktion antisemitischer Vorurteile stehen, ohne dass diese durch geeignete Operatoren dekonstruiert würden: „Nenne hervorgehobene körperliche Merkmale und erläutere die Gegenstände, mit denen die Juden versehen sind. Fasse zusammen, welche Vorurteile gegenüber Juden hier dargestellt werden.“ Während dieses Beispiel dem Kapitel zum Kaiserreich entnommen ist und bereits dazu geeignet erscheint, die entscheidende Grenze von Verstehen und Verständnis zu verwischen, so sind folgender Autorentext und Arbeitsauftrag, dem Kapitel „Nach 1945“ entnommen, bereits offen tendenziös und verhindern konsequent jeglichen Aufbau einer Lernhaltung, die den Opfern gegenüber Empathie aufbringt. Der Autor beschreibt die Situation jüdischer DPs nach dem Krieg folgendermaßen:
„Selbst im kleinsten Dorf waren DPs anzutreffen. Etwa 10 Mio verschleppte Menschen mussten registriert und heimtransportiert werden. Weil jedoch viele ehemalige Häftlinge transportunfähig waren, blieben sie weiter in den Lagern oder die Besatzungstruppen beschlagnahmten komplette Siedlungen für sie. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Menschen dort ihre Wohnungen zu räumen. So wurden z.B. in Heidenheim/Brenz ab Oktober 1945 KZ-Häftlinge, vor allem polnische Juden einquartiert, bis diese 1948 endlich in Palästina einreisen durften.“
Das einzige Attribut, mit dem der Zustand der jüdischen DPs hier beschrieben wird, ist das Wort „transportunfähig“. Die Notwendigkeit, diese „ehemaligen Häftlinge“ zu „registrieren“ und „heimzutransportieren“ (und man kann sich des Gedankens nicht erwehren: nachdem man sie doch vor wenigen Jahren erst für teures Geld registriert und in den Osten transportiert hatte!), liest sich wie eine Belastung der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Empathie bringt der Autor hier offensichtlich nur für die Menschen (sic: „Menschen“ versus „Häftlinge“) auf, die in der Nähe der DP-Lager lebten und deren „Siedlungen beschlagnahmt“ wurden. Folgerichtig beginnt daher auch der zugeordnete Arbeitsauftrag mit der Aufforderung, sich in diese Menschen hineinzuversetzen: „Versetzt euch in Familien, die den Befehl erhalten hatten, innerhalb von zwei Stunden ihr Haus zu verlassen.“ Wie ein Stoßseufzer der Erleichterung dieser Familien wirkt dann der letzte Satz, in dem die Abreise der „KZ-Häftlinge“ (sic) im Jahr 1948 nach „Palästina“ (und nicht etwa in den 1948 gegründeten Staat Israel) beschrieben wird.
Hier ließe sich über das Urteil der Autoren der Studie hinausgehend bereits von einer Umpositionierung von Opferschaft sprechen, und damit von einem Beispiel für Viktimisierung der deutschen Zivilgesellschaft.
Zugunsten der Schulbuchautoren soll angenommen werden, es handele sich hier um einen (leider misslungenen) Versuch, das geschichtsdidaktische Postulat der Multiperspektivität umzusetzen. Auf diese sowie einige andere zentrale methodische Herausforderungen gehen die Autoren im zweiten Teil ihrer Untersuchung ein. Mit eindrucksvollen Beispielen zeigen sie, wie die Chance, historische Situationen in ihrer Komplexität aufzuzeigen, indem den Lernenden unterschiedliche Perspektiven vorgestellt werden, in vielen Büchern darauf reduziert wird, die Lernenden in Arbeitsaufträgen zu einem Perspektivwechsel einzuladen und sich in unterschiedliche historische Protagonisten hineinzuversetzen. Diese Aufforderung zur Identifikation scheint grundsätzlich problematisch, und zwar nicht nur deshalb, weil – wie die Autoren der Studie zu Recht anführen – den Schülern dafür das nötige Detailwissen fehlt, sondern auch, weil es längst zu den heutigen geschichtsdidaktischen Desideraten gehört, die Lernenden zu einer Selbstpositionierung gegenüber Geschichte zu führen, anstatt sie mit diffusen Identifizierungsangeboten in historische Rollen und Positionen zu lenken, die nicht die eigenen sind.
Anhand von ausgewählten Beispielen wird überzeugend erklärt, wie das hier unmittelbar anschließende Postulat des Gegenwartsbezuges missverstanden wird: Anstelle von historisch stets unangemessenen Parallelisierungen (beispielsweise von der schrittweisen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft in den 30er-Jahren mit Beispielen von Xenophobie und Rassismus in der heutigen Bundesrepublik, also im Lernumfeld der Schüler) gehe es, so die Autoren, „beim Gegenwartsbezug (...) nicht um einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart, sondern um die Übertragung von Erfahrungen und Einsichten, die bei der Beschäftigung mit verwandten historischen Situationen gewonnen werden, auf gegenwärtige Situationen.“
Die Studie weist hier konstruktiv auf die Möglichkeit hin, einen Gegenwartsbezug nicht durch oftmals weniger geeignete und unadäquate Arbeitsaufträge herzustellen, sondern durch die Auswahl der vorgestellten Biografien. Einige, wenn auch nicht alle Schulbücher setzen den bereits seit den 70er-Jahren postulierten methodischen Grundsatz der Personifizierung von Geschichte durch das Einbeziehen von Einzelschicksalen um. Hier wird vorgeschlagen, den Gegenwartsbezug zu heutigen Lernenden über Themen, wie beispielsweise der Migration von Jugendlichen herzustellen – zahlreiche gut zugängliche Biografien stehen hier zur Auswahl. Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass beim Arbeiten mit biografischen Materialien vermieden werden sollte, die vorgestellten Biografien gleichsam als „Kollektivsubjekte“ vorzustellen.
Insgesamt bietet die Studie von Liepach und Geiger eine kritische Bestandsaufnahme aktuell gebräuchlicher Geschichtslehrwerke. Anstatt lediglich mit dem erhobenen Zeigefinger auf Missstände hinzuweisen, werden viele praxisbezogene Hinweise gegeben und geschichtsdidaktische Fragen diskutiert, so dass das Buch zur anregenden und wertvollen Lektüre für jene dienen kann, die sich in unterschiedlichen Kontexten mit der Vermittlung von Geschichte befassen.
Martin Liepach, Wolfgang Geiger
Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen
Schwalbach/Ts., 2014
192 Seiten
19,80 €