- Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther, Berlin 2014.
- Ebd., S. 30.
- Ebd., S. 45.
Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Micha Brumlik
Micha Brumlik ist emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit Oktober 2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Zwischen 2000 und 2005 war er Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main.
Im November 2015 erschien sein Essay: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums im Neofelis Verlag.
Ein neuer Begriff macht derzeit unter Laien und Wissenschaftlern, die sich mit der Shoah und ihren Folgen befassen, die Runde: „Postmemory“! Geprägt von der rumäniendeutschen, in New York lehrenden Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch, Jahrgang 1949, geht es dabei besonders um jene Fragen und Belastungen, die zwischen der sogenannten „zweiten“ und „dritten“ Generation von Holocaustüberlebenden deren Familienleben, aber auch ihr allgemeines Selbstverständnis prägen.
„'Postmemory'“ – so Marianne Hirsch – „describes the relationship that the 'generation after' bears to the personal, collective, and cultural trauma of those who came before — to experiences they 'remember' only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. As I see it, the connection to the past that I define as postmemory is mediated not by recall but by imaginative investment, projection, and creation. To grow up with overwhelming inherited memories, to be dominated by narratives that preceded one´s birth or one´s consciousness, is to risk having one´s own life stories displaced, even evacuated, by our ancestors. It is to be shaped, however indirectly, by traumatic fragments of events that still defy narrative reconstruction and exceed comprehension. These events happened in the past, but their effects continue into the present.“
In einem Interview berichtete Hirsch, dass sie diesen Begriff zum ersten Mal anlässlich der Lektüre von Art Spiegelmans „Maus“ verwendet habe, einem genialen Comic, in dem es ja ebenfalls um die transgenerationale Weitergabe von Verfolgungserfahrungen ging. Tatsächlich ist Spiegelmans „Maus“ in mehrfacher Hinsicht der Prototyp der „Postmemory“ Literatur: nicht nur deswegen, weil er durch die Wahl seiner Darstellungsweise, also des erzählenden Bildromans, des Comic mit seiner bewussten Verfremdung der Figuren zu Tiergestalten, Katzen und Mäusen, einen spezifischen Zugang zu einer jüngeren Leserschaft gefunden hat, sondern auch deshalb, weil in der Erzählung selbst das hier behandelte Problem, die Beziehung zwischen einem überlebenden Vater und seinem Sohn, explizit ins Zentrum gerückt wird.
Auf jeden Fall sind Familien, jedenfalls haushaltsmäßig intakte Familien, aufgrund der doch unvergleichlichen Intimität alltäglichen Zusammenlebens nicht nur Sozialisationsagenturen, sondern auch Erzähl- und Traditionsgemeinschaften, intime kleine Gemeinschaften, in denen neben den basalen Rollen von Mann und Frau, von Alt und Jung narrative Identität gestiftet wird. Erzählungen und Erzählmuster an denen sich das Selbstverständnis der Heranwachsenden in Widerspruch und Zustimmung ausbildet, werden dabei durchaus widersprüchlich, konfliktreich und leibnah entfaltet.
Zugleich – das trifft jedenfalls für die jüdischen Überlebenden der Shoah zu – war das Zeugen und Aufziehen von Kindern unmittelbar nach Ende des Krieges ein Unterpfand, ein Beweis des Überlebthabens, des Weiterlebens. Es ist ein bekanntes demographisches Phänomen, dass die Geburtenrate in den DP-Lagern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch in absoluter Hinsicht die damals weltweit höchste gewesen ist – wenngleich mit der Historikerin Atina Grossmann einzuräumen ist, dass die überwiegende Anzahl jener, die in den DP Lagern lebten, keine Überlebenden der Vernichtungslager gewesen sind, sondern meist polnische Juden, die den Zweiten Weltkrieg im fernen Osten der Sowjetunion überstanden hatten.
Zudem – dass darf inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden – waren keineswegs alle dieser, in vielen Fällen hochgradig traumatisierten Eltern in der Lage, sich zu den erfahrenen Verfolgungen und den mit ihnen einhergehenden Traumata angemessen auseinanderzusetzen. Die Begriffe und Phänomene sind bekannt: vom Überlebensschuldsyndrom bis hinzu einer Unfähigkeit über das erlittene Leid zu sprechen, die jedenfalls den Kindern in vielen Fällen den Eindruck eines furchtbaren, unheimlichen und angsteinflössenden Tabus vermittelte.
Von dieser zwischen 1945 und 1960 geborenen Generation ist umgangssprachlich als „zweiter Generation“ die Rede. Eine Fülle von Forschungsliteratur konnte zeigen, dass ein nicht unerheblicher Anteil dieser Generation an einer Art sekundär ausgelösten Traumatisierung leidet. Auf sie kam die entweder als emotional notwendig empfundene oder als pädagogisch gebotene Aufgabe zu, die unmittelbaren Leidenserfahrungen der eigenen Eltern oder auch die eigenen Schwierigkeiten mit den traumatisierten Eltern, den eigenen Kindern, also der sogenannten „Dritten Generation“ narrativ, erzählend zu vermitteln, bzw. auf die Interaktionen zwischen ihren Eltern und ihren Kindern vermittelnd und moderierend einzuwirken und sich dabei zugleich an der Schaffung eines Familiennarrativs zu beteiligen, das zugleich ein Narrativ jüdischer Identität ist. Als Beispiel mag die zur Zeit in Deutschland sehr erfolgreiche Autorin Katja Petrowskaja dienen:
Katja Petrowskaja ist 1970 in Kiew geboren und erhielt im vergangenen Jahr einen der wichtigsten Literaturpreise für deutsche Literatur, den vor allem dem literarischen Nachwuchs gewidmeten Ingeborg Bachmann Preis.
Ihr hochgelobtes Buch „Vielleicht Esther1“stellte eine literarische Spurensuche dar, ein Gedächtnisabenteuer, das die Autorin in das verzweigte Gewebe einer jüdisch-polnisch-russischen-österreichischen Familie durch das Jahrhundert der Extreme – so der Historiker Eric Hobsbawm – und durch die von einem anderen Historiker, Timothy Snyder beschriebenen „Bloodlands“, also durch die von Hitler und Stalin gepeinigten Länder, vor allem die Ukraine führt. Katja Petrowskaja lebt in Berlin und ist vierundvierzig Jahre alt. Sie schreibt:
„Als Lida, die ältere Schwester meiner Mutter, starb, habe ich begriffen, was das Wort Geschichte bedeutet. Mein Verlangen zu wissen war reif, ich war bereit gewesen, mich den Windmühlen der Erinnerung zu stellen, und dann ist sie gestorben. Ich stand da mit angehaltenem Atem, bereit zu fragen, und so bin ich stehen geblieben, und wäre es ein Comic gewesen, wäre meine Sprechblase leer. Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen. Ich hatte niemanden mehr, den ich hätte fragen können, der sich an diese Zeit noch erinnern konnte. Was mir blieb: Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven. Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt. War ich nun erwachsen, weil Lida tot war? Ich fühlte mich der Geschichte ausgeliefert.“2
Katja Petrowskaja ist heute die Mutter einer inzwischen wohl zwölfjährigen Tochter. In einem historischen Museum stehen beide vor einer Tabelle mit den Nürnberger Gesetzen, als ihre Tochter sie fragt: „Mama, wo sind wir hier?“
„Ich war“, so Petrowskaja „über ihre unmittelbare Art erschrocken, und um sie vor dem Schrecken zu bewahren, wollte ich schnell anfügen, dass wir auf diesem Bild gar nicht vertreten sind, wir wären doch damals in Kiew gewesen oder schon evakuiert, und übrigens waren wir noch überhaupt nicht geboren, diese Tabelle habe überhaupt nichts mit uns zu tun....“3
Gleichwohl sollte man sich davor hüten, den jetzt beginnenden Diskurs über „Postmemory“ umstandslos mit dem kurzzuschließen, was derzeit unter dem Thema „transgenerationale Traumatisierung“ verhandelt wird.
„Postmemory“ - so wie Marianne Hirsch als Literaturwissenschaftlerin diese Konstellation beschreibt – basiert zwar tatsächlich auf dem, was als transgenerational vermitteltes, verfolgungsbedingtes Trauma bezeichnet werden kann. Gleichwohl ist es unerlässlich, daran zu erinnern, dass nicht jede Befindlichkeitsstörung, ja noch nicht einmal jede Neurose als „Trauma“ zu bezeichnen ist. Unter „Traumata“ werden schließlich von „außen“, also nicht innerpsychisch verursachte psychische Beeinträchtigungen verstanden, die mit den Mitteln der eigenen seelischen Anlage nicht bewältigt, sondern allenfalls auf Zeit ruhig gestellt werden können und daher immer wieder – bei naheliegenden Assoziationen - ungewollt in der Erinnerung, im Erleben und im Verhalten auftauchen – und zwar so, dass sie mit dem üblichen Verhaltensrepertoire nicht unter Kontrolle gebracht werden können. Traumata manifestieren sich stets nachträglich – eben als „posttraumatische Belastungsstörungen“. Wo diese nicht vorliegen, scheint es problematisch, von „Trauma“ zu sprechen. Beim Problem der „transgenerationalen Weitergabe“ von Traumata stellt sich dann die Frage, ob tatsächlich sinnvoll – so wie das die „Postmemory Theorie“ unausgesprochen tut - von „Traumata“ gesprochen werden kann. Gibt es, so ist mit Blick auf die Psychopathologie zu fragen, „Traumata“ ohne nachträgliche Belastungsstörung? Und ist eine persönliche Identität als Kind oder Enkel von Opfern der Shoah, also eine Identität nicht von „Victims“, sondern von „Survivors“ notwendig Ausdruck eines seelischen Leidens? Wir sollten vorsichtig sein, sozial- und literaturwissenschaftliche Kategorien nicht als belastende Stigmata zu verwenden.
„Postmemory“ jedenfalls eröffnet die Möglichkeit, kollektive und individuelle Identitätsbildungsprozesse zu untersuchen – um eine Kategorie der Klinik handelt es sich dabei nicht.
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