Liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe des Newsletters!
Seit Februar bin ich nun Mitarbeiterin am German Desk der International School for Holocaust Studies und freue mich, Ihnen zukünftig unseren Newsletter präsentieren zu dürfen.
In den Seminaren der International School for Holocaust Studies sowie in den Führungen durch das Museum oder über den Campus von Yad Vashem tauchen oftmals Fragen der Besucherinnen und Besucher auf, die das Verhältnis zwischen der Shoah und der Gründung des Staates Israel betreffen. Die naheliegende Vorstellung eines kausalen Zusammenhangs, nach dem die Staatengründung eine direkte Folge der Shoah sei, ist jedoch umstritten. Der israelische Historiker Yehuda Bauer geht vielmehr von einem „indirekten Zusammenhang“ aus: „Die Überlebenden bildeten ein zentrales Element bei der Erlangung der Unabhängigkeit, doch die Shoah an sich war eine Katastrophe, die – ganz abgesehen von ihren anderen Wirkungen – auch den Kampf um den eigenen Staat gefährdete.“ Dieses Zitat legt nahe, dass der Staat Israel nicht wegen, sondern trotz der Shoah gegründet wurde, oder dass es sich doch zumindest um einen komplexeren Zusammenhang handelt. Um die Hintergründe der israelischen Staatsgründung zu verstehen, muss man daher in die Zeit vor der Shoah zurück blicken: Der Antisemitismus spitzte sich in Europa und Russland bereits lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zu und nahm schnell äußerst bedrohliche Formen an – man denke etwa an die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ im Deutschen Bund im Jahr 1819 oder die antijüdischen Pogrome in Russland um 1881, viele weitere Beispiele ließen sich hier einreihen. Der Zionismus, der im 19. Jahrhundert entstand, ist die Reaktion auf diese sich verschärfende Bedrohung durch den Antisemitismus von West- bis Osteuropa. Nachdem zehntausende Juden in Folge mehrerer Pogrome in Osteuropa nach Palästina flohen, kam es nach und nach zu einer Systematisierung der zionistischen Bewegung, die schließlich in der Forderung nach einem eigenen Nationalstaat mündete. So gab es bereits lange vor der Shoah ernsthafte Bestrebungen, insbesondere des Yishuv (der jüdischen Bevölkerung Palästinas), einen jüdischen Staat zu errichten. Hier wurde der Grundstein für den Kampf um staatliche Souveränität gelegt. Die Shoah ist schließlich der historische Beweis für die Notwendigkeit eines jüdischen Staates, da sich gezeigt hatte, dass internationale Hilfe selbst angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht zu erwarten war.
In dieser Ausgabe des Newsletters befasst sich David Witzthum mit der Frage, welches Deutschlandbild heute in der israelischen Gesellschaft einerseits, in Politik und Medien andererseits vorherrschend ist und woraus sich dieses Bild speist. Martin Liepach wird die Ergebnisse der deutsch-israelischen Schulbuchkommission präsentieren, die die Darstellung der Shoah, Israels, und dem Zusammenhang zwischen beiden in deutschen Schulbüchern analysiert hat. Amit Pinchevski beschreibt in einem Interview den Wandel, den der Eichmann-Prozess in der israelischen Gesellschaft herbeiführte und welche Rolle dabei das Radio als Medium spielte. In meinem Beitrag werde ich erörtern, welche Bedeutung der nichtgläubige Jude Jean Améry dem Judentum und dem Staat Israel angesichts der Erfahrung der Shoah und des fortlebenden Antisemitismus beimaß.
Wir freuen uns darauf, Ihnen in der nächsten Newsletter-Ausgabe im Winter ein neues Unterrichtsmaterial des German Desk präsentieren zu können. Es handelt sich um die didaktisch aufbereitete (Über-)Lebensgeschichte von Tswi Herschel. Sein Vater, Nico Herschel, hat seinem Sohn ein einzigartiges historisches Dokument hinterlassen: Einen „Lebenskalender“, den er im Winter 1942/43 nach der Geburt seines einzigen Sohnes in den besetzten Niederlanden gezeichnet hat. In diesem Kalender legt er seine persönliche Zukunftsvision für den Sohn nieder: den Weg einer selbstbestimmten, optimistischen und glücklichen Familie, die ihre Zukunft in Eretz Israel sah, wo sie sich schließlich niederlassen würde. Ein Vermittlungsziel dieser Einheit ist es, den Zionismus als politische Idee und Lebenskonzept jüdischer Europäerinnen und Europäer vorzustellen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Zukunft in einem jüdischen Staat sahen – ein Konzept, das während der Shoah schließlich existenzielle Bedeutung annahm, für die meisten der verfolgten Jüdinnen und Juden Europas allerdings nicht mehr umsetzbar war.
Wie immer freuen wir uns über Kommentare und Feedback.
Birte Hewera