I. Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein
Der österreichisch-jüdische Essayist Jean Améry wird im Jahr 1912 als Hans Maier in Wien geboren. In den Erinnerungen an seine Kindheit sieht er sich noch an Weihnachten durch verschneite Dörfer zur Mitternachtsmette stapfen und hört seine Mutter „Jesus, Maria und Josef!“ ausrufen. Sein Vater fällt im Ersten Weltkrieg als Tiroler Kaiserjäger. Zwar weiß auch der junge Hans Maier, dass seine Familie als jüdische Familie angesehen wird, aber es hat für ihn wenig Bedeutung. Er habe nie an den Gott Israels geglaubt und sei mit jüdischer Kultur kaum vertraut.
Relevant wird seine jüdische Herkunft erst, als er im Jahr 1935 in einem Wiener Café die Zeitung aufschlägt und die Verkündung der Nürnberger Rassegesetze liest. Mit einem Schlag wird ihm klar, dass er damit gemeint ist: „Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben.“
Die Rassegesetze gelten ihm als Erfahrung des äußersten Würdeentzugs. Für Améry bedeutet Würde das von der Gesellschaft zuerkannte Recht auf Leben – hinter dem Würdeentzug steht damit kaum verhüllt die Todesdrohung.
Améry ist keineswegs der Meinung, dass er sich diesem von der „Volksgemeinschaft“ verhängten Urteil unterwerfen müsse, bloß erkennt er, dass es auch keinen Sinn haben könne, das Urteil zu verleugnen: Dieser gesellschaftlichen Drohung sein eigenes Selbstbild entgegenzuhalten, musste schlicht wirkungslos bleiben. Erst später, nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager und der Lektüre von Sartres Überlegungen zur Judenfrage kann er seinen damaligen Entschluss in die Worte fassen, es gebe nur die eine Möglichkeit, ein moralisches Überstehen zu gewährleisten: Man müsse dieses Urteil auf sich nehmen, um es in der Revolte zu überwinden.
Deutlich ist hier die Anlehnung an Sartres Begriff des authentischen Juden erkennbar: Ein Jude sei ein Mensch, so Sartre, den andere Menschen für einen Juden halten: „Der Antisemit macht den Juden.“ Dieser könne nicht wählen, kein Jude zu sein.
Lediglich zwei gleichermaßen unerträgliche Möglichkeiten blieben ihm angesichts der Zuschreibung: die „unauthentische“ Entscheidung, ihr zu entfliehen und das Jude-Sein zu verbergen, oder aber den „authentischen“ Weg zu beschreiten. Dieser bestehe darin, „ein klares und wahrhaftiges Bewußtsein von der Situation zu haben, die Verantwortungen und Risiken, die die Situation einschließt, auf sich zu nehmen, mit Stolz oder Demut, mitunter auch mit Grauen und Haß zu ihr zu stehen“.
Sartres Begriffe des „authentischen“ und „unauthentischen“ Juden enthalten keine moralische Wertung. Es handele sich um eine Entscheidung, die „ uns […] nichts angeht“.
Der „authentische Jude“ wird von Sartre nicht überhöht, denn auch er fällt seine Entscheidung unter dem Zwang, „sich auf der Grundlage falscher Probleme und in einer falschen Situation zu wählen“.
Améry jedenfalls beschließt, dem „Welturteil“ – die Juden sind zu vernichten – ins Auge zu sehen. Er flieht nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs mit seiner Frau nach Belgien, wo noch demokratische Zustände herrschen. Allerdings folgt der Feind ihm nach, und als Belgien von den Deutschen besetzt wird, schließt sich Améry einer kommunistischen Widerstandsgruppe an, die illegale Flugblätter gegen die deutschen Besatzer druckt und verbreitet. Dabei wird er entdeckt, verhaftet, und ins Gestapo-Hauptquartier gebracht, wo man ihn foltert. Als schließlich seine jüdische Identität bekannt wird, bringt man ihn nach Auschwitz-Monowitz, von dort aus gegen Ende des Krieges wiederum nach Buchenwald und Bergen-Belsen, wo er im April 1945 von den Engländern befreit wird.
Die Erfahrung von Verhaftung, Folter und KZ, die Améry immer wieder als Erfahrung äußerster Einsamkeit und als Verlust des Weltvertrauens beschreibt, bleibt in ihm aufgestaut: „Täglich morgens kann ich beim Aufstehen von meinem Unterarm die Auschwitznummer ablesen; das rührt an die letzten Wurzelverschlingungen meiner Existenz, ja ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht meine ganze Existenz ist.“ Améry verfügt über das Judentum nicht als kulturelles und religiöses Gut, auf das er sich beziehen könnte, sondern sein Jude-Sein resultiert aus der Vernichtungsdrohung: Als Jude „ohne positive Bestimmbarkeit“ bezeichnet er sich, gar als „Katastrophenjude.“ Für ihn und die anderen Juden, über die ihr „Judesein hereinbrach“, bedeutet dies, „die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel jüdischer Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“ Gleichwohl, selbst wenn er weder Sprache, noch kulturelle Tradition, noch Kindheitserinnerungen mit dem Judentum teile, verbinde ihn das „Welturteil“ mit allen anderen Juden weltweit: Als Solidarität angesichts der Bedrohung!
II Antizionismus und Israel
Resultiert Amérys Bezug zum Judentum und seine Solidarität mit Juden weltweit aus der Erfahrung der Shoah, so ist dieser Zusammenhang mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus keineswegs obsolet geworden. Durch das Fortleben des Antisemitismus, der sich seit dem Sechstagekrieg zunehmend als Antizionismus verschleiert, um dann in Form vermeintlich legitimer „Israelkritik“ seinen Ausdruck zu finden, sieht Améry den Staat Israel und damit alle Juden, innerhalb wie außerhalb Israels, potentiell bedroht. Analog zu seinem negativ definierten Bezug zum Judentum ist daher auch Amérys Verhältnis zum Israelischen Staat zu verstehen: Er spricht dessen Sprache nicht, er bereist Israel lediglich einmal, und dennoch hat dieses winzige Land für ihn mehr Bedeutung als jedes andere Staatswesen der Welt, denn er betrachtet Israel stets vor dem Hintergrund der jüdischen Katastrophe und der nicht auszuschließenden Möglichkeit einer Wiederholung in der Zukunft.
Im Zuge des Sechstagekrieges wird Améry Zeuge, wie die deutsche Linke, der er sich stets selbst zugerechnet hat, sich zunehmend antizionistisch positioniert, eine Entwicklung, die seine Erfahrung der Einsamkeit aktualisiert. Trotz der allgemeinen Versicherung, es ginge lediglich um eine Kritik an der Politik Israels, ist für Améry angesichts der greifbaren Gefahr, die von Seiten der Nachbarstaaten Israels ausgeht, klar: Wer Israel delegitimiert, liefert es den Feinden aus, die es sich bekanntermaßen zum Ziel gesetzt haben, Israel zu vernichten.
Die Linke, die sich nunmehr im antizionistischen Konsens geeint hat, kann jedwedes antisemitische Ressentiment moralisch gereinigt auf den Staat Israel projizieren und legt somit schon damals einen Grundstein für die antisemitische Querfront. Antisemitismus und Antizionismus mögen historisch gesehen unterschiedliche Erscheinungen sein.
Spätestens seit Auschwitz ist die Differenz eingezogen, beiden Formen kommt die identische Funktion zu. „Israelkritik“ kann sich aber im Gegensatz zum Antisemitismus als moralisch makellos präsentieren, da sie in Anspruch nimmt, lediglich eine legitime Staatskritik zu formulieren, deswegen ist der Antizionismus auch innerhalb der Linken so weit verbreitet. Da das antisemitische Ressentiment fortbesteht und weiterhin unterdrückte Triebregungen auf „den Juden“ projiziert werden, dient der Antizionismus als Ersatz für den Antisemitismus. Allein, dass „Israelkritik“ zu einem Terminus technicus geworden ist, spricht Bände – oder hat man schon einmal von „Russlandkritik“, „Syrienkritik“ o. ä. gehört? Améry kommentiert die Demonstrationen in Deutschland im Gefolge des Sechstagekrieges so: „Man darf rufen: ‚Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!‘ – und kann verschweigen oder sogar empört die Insinuation zurückweisen, daß in diesem Kampfruf ein anderer, nur allzu bekannter mitschwinge: das ganz eindeutige ‚Juda verrecke‘ der Nazis.“ Er hingegen erkennt: Der Antisemitismus ist im Antizionismus enthalten „wie das Gewitter in der Wolke.“
Amérys Einstehen für den Staat Israel gründet somit auf dem Fortleben des Antisemitismus als Kontinuität zum Nationalsozialismus und der potentiellen Wiederholbarkeit von Auschwitz. Was die prekäre weltpolitische Konstellation um Israel angeht – die Garantie, dass seine Verbündeten auch in Zukunft zu Israel halten werden –, so muss Améry sich eingestehen, dass es eine solche Garantie nicht gibt. Durch diesen Umstand ist seine Solidarität mit dem Staat Israel keine Meinungs- oder Einstellungsfrage mehr, sondern seit Auschwitz sei er wie jeder Jude, ob Zionist oder nicht, existentiell an den Staat Israel gebunden, und dies aus zwei Gründen. Der erste Grund ist der physische Schutz, den Israel den Juden garantiert. Die Notwendigkeit für einen jüdischen Staat resultiert zwangsläufig aus der Geschichte des Antisemitismus, die in Auschwitz kulminierte, genau darin unterscheidet Israel sich auch von jedem anderen Staat der Welt. Israel sei die Zuflucht und neue Heimat der Überlebenden und Verfolgten. Gerade hier wirft Améry der Neuen Linken ihre Verständnislosigkeit vor: „Sie waren nicht dabei, als man den Nachbarn, Herrn Schlesinger, samt seiner Familie aus seiner Wohnung holte und ihn irgendwohin verbrachte, wo’s nicht schön ist.“ Um das „Phänomen Israel“ verstehen zu können, müsse man aber die „jüdische Katastrophe“ vollumfänglich begreifen, denn: „In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel, eines Vergasten; in Deutschland und im übrigen Europa kann man es sich leisten, überhaupt nicht ‚Sohn‘, nicht ‚Enkel‘ zu sein.“
Jedoch, und dies ist die zweite Seite des Zusammenhangs, ist der Staat Israel zugleich notwendige Bedingung dafür, nicht Sohn oder Enkel eines Vergasten zu bleiben, sondern ein politisch souveränes Leben unabhängig von den antisemitischen Zuschreibungen führen zu können. Dem Staat Israel kommt damit ein hoher Stellenwert in der von Améry beschriebenen Verbindung zwischen Todesdrohung und Würdeentzug im Nationalsozialismus und dem Kampf um Wiedererlangung der Würde zu: Während die Juden auf zwei Jahrtausende der Verfolgung und Demütigung zurückblicken müssen, habe der Staat Israel „alle Juden der Welt den aufrechten Gang wieder gelehrt.“
Israel ermögliche es den Juden, über ihre Identität selbst zu entscheiden und nicht mehr durch das antisemitische Stereotyp bestimmt zu sein: „Es ist das Land, wo der Jude Bauer ist und nicht Zinswucherer, Soldat und nicht bleicher Stubenhocker, Handwerker und nicht Kommissionär.“ Damit sei allein durch die Existenz des Staates Israel das antisemitische Stereotyp widerlegt.
Bei der von Améry so benannten existentiellen Bindung der Juden an Israel handelt es sich nicht notwendig um eine volkstümlich-mythische Verbundenheit an Land, Kultur und Politik, sondern um die Etablierung eines Daseins, das nicht einmal jüdisch bestimmt sein muss, das aber eine Befreiung von der aufgezwungenen, antisemitisch bestimmten Zuschreibung ebenso garantiert wie die manifeste, staatlich verbürgte Sicherheit für Leib und Leben: „Seit es Israel gibt, weiß er, der Jude ist nicht, wie der Antisemit es ihm so lange eingeredet hatte, bis es zur Überredung schließlich gekommen war, feige, unfähig zu manueller Arbeit, geboren nur zu Geldgeschäften, untauglich zum Landbau, ein faselnder Stubenhocker und bestenfalls geistreichelnder Schwätzer. Er weiß aber noch mehr: nämlich, daß, wenn immer es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, daß er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigender Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigstenfalls unter deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“
Meine Dissertationsschrift „…daß das Wort nicht verstumme.“ Jean Amérys Kategorischer Imperativ nach Auschwitz erschien 2015 bei Tectum.