Mit ihrer Formel von der „Banalität des Bösen“ hat die Philosophin Hannah Arendt nachhaltig die Wahrnehmung des in Jerusalem angeklagten Adolf Eichmann geprägt. Bettina Stangneth geht nun in ihrer Studie „Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“ Eichmanns Strategien der Selbstinszenierung und seiner öffentlichen Wahrnehmung vor dem Prozess in Israel nach und sammelt dafür akribisch Selbst- und Fremdauskünfte, die verdeutlichen wie sehr Eichmann daran gelegen war, sich und seine Funktion während des Nationalsozialismus so zu überhöhen wie er sie nach der deutschen Niederlage 1945 zu verkleinern suchte. Seine vorherigen Mitarbeiter und Kollegen nutzten jedoch die Gelegenheit, durch die neuerliche Überhöhung von Eichmanns Rolle ihre eigene Schuld zu verkleinern und sich hinter dem ‚Monster Eichmann’ zu verstecken. Die von Stangneth nachgezeichnete Geschichte ist darum in ihrem ersten Teil eine komprimierte Darstellung der Karriere eines Verbrechers genauso wie die Nachzeichnung jener Legitimierungs- und nachträglichen Abwehrstrukturen, die das Verbrechen möglich machten und später im ‚Nebel‘ der Geschichte zum Verschwinden zu bringen versuchten.
Im Zentrum der Studie steht jedoch Eichmanns „Nachkriegskarriere“. Einerseits wird sein Name zum Synonym für den Mord an den Juden. Andererseits gelang es Eichmann, sich zunächst erfolgreich unter falscher Identität in Niedersachsen zu verstecken und dann nach Argentinien zu fliehen. Dort kam er in Kontakt mit alten und neuen Nationalsozialisten, die ein publizistisches und propagandistisches Netzwerk führten, das dazu dienen sollte, nationalistische, antisemitische und revanchistische Positionen in der deutschen Gesellschaft wieder mehrheitsfähig zu machen. Um die immer grausameren Details über den Mord an den Juden, die in den 50er Jahren zunehmend an die Öffentlichkeit drangen, abzuwehren, entstanden zahlreiche Varianten der Leugnung und Minimierung des Holocaust. Eichmann sollte für diese Positionen als Kronzeuge fungieren. Darum begann der ehemalige niederländische SS-Mann Willem Sassen, der als Journalist u.a. auch für Zeitschriften in der Bundesrepublik tätig war und beste freundschaftliche Kontakte zum argentinischen Diktator Peron pflegte, Eichmann über sein Leben und seine Tätigkeit zu interviewen. Dieser wiederum witterte in den Gesprächen die Chance, sich und seine Taten gegenüber Gesinnungsgenossen zu erklären und den ihm verwehrten Ruhm für seine ‚geschichtliche Tat’, die massenhafte Ermordung der europäischen Juden, zu ernten, sowie wieder zu einer öffentlichen Figur zu werden.
Stangneth wertet diese Gesprächsmitschriften – oft unter Einbezug der Originaltondokumente, die Einschätzungen über die Stimmung und Atmosphäre der Gespräche erlauben – zusammen mit zahlreichen anderen, bisher kaum oder gar nicht analysierten Selbstauskünften Eichmanns aus seiner Zeit in Argentinien, aus. Ihre gründlichen und feinsinnigen Analysen machen einerseits deutlich, dass Eichmann immer ein überzeugter Nationalsozialist und fanatischer Antisemit blieb, sie zeigen aber auch, wie seine späteren Verteidigungsstrategien in Jerusalem, sich selbst als kleines Rad im Getriebe eines Verwaltungsmassenmordes darzustellen, bereits in Argentinien erprobt wurden. Die Studie zeichnet so ein eindringliches Bild nicht nur von Eichmann, sondern versucht sich vor allem dessen Denkungsart anzunähern. Gleichzeitig handelt es sich um eine umfangreiche Darstellung der Kontinuität nationalsozialistischen Denkens, die über Argentinien auch zu tatsächlichen oder erhofften Allianzen mit radikal-antisemitischen arabischen Kräften und bis zur tätigen Zusammenarbeit ehemaliger Nazis mit dem bundesdeutschen und anderen westlichen Geheimdiensten reichten.
Stangneth knüpft mit dieser gelungenen Mischung aus historischer Analyse und philosophischer Interpretation durchaus an Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Eichmann als Vertreter eines bestimmten Typus von Nazitäter an. Sie vervollständigt jedoch das Eichmannbild um dessen Positionen und Selbstdarstellungen vor dem Prozess und korrigiert damit einige von Arendts Annahmen, die Eichmanns Selbstinszenierung in Jerusalem offensichtlich nicht immer durchschauen konnte oder – zugunsten ihres über die konkrete Person Eichmanns hinausreichenden Interesses für eine spezifische ‚Unfähigkeit zu denken’ – nicht durchschauen wollte.
So liefert Stangneths Studie eine der wertvollsten Ergänzungen für eine neue Auseinandersetzung mit Eichmann, wodurch auch Arendts Prozessbericht, im Kontext dieser Erkenntnisse gelesen, neue Konturen bekommt. Dazu trägt auch die Veröffentlichung eines Radiogesprächs und Briefwechsels zwischen Hannah Arendt und dem deutschen Historiker Joachim Fest bei, die noch einmal verdeutlichen, wie stark Eichmann eigentlich nur als Modell für eine philosophische Reflexion diente. In ihrem Gespräch von 1964 thematisieren Arendt und Fest Fragen des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der Täterschaft und verschiedener Tätertypen, sowie Reaktionen der Welt auf den Mord an den Juden. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung über Arendts Formel von der „Banalität des Bösen“, die sie insbesondere an Klischees und Redensarten von Eichmann festmacht. Arendt sah daher in Eichmanns Selbstinszenierung als gedankenlosem Befehlsausführer ein Moment, das sie als Philosophin (nicht als Journalistin oder jüdische Intellektuelle) interessierte: den Zustand der Unfähigkeit zu Denken, den sie in ihrem philosophischen Spätwerk über das Denken, das Wollen und das Urteilen explizit und losgelöst vom konkreten Beispiel Eichmann ausgeführt hat und im Gespräch mit Fest skizziert. Eichmann und der Nationalsozialismus dienten so als Grenzfall einer Haltung der Entscheidungslosigkeit und des Nichthandelns, die einem bloßen Funktionieren ohne jede Fähigkeit zur Reflexion und zur Einfühlung in das Leiden anderer Vorschub leistete. Die Beobachtung dieser Konstitution liefert zum Verständnis der nationalsozialistischen Täter einen durchaus relevanten Teil, geht aber über dieses hinaus. Sie verdeutlicht vielleicht sogar umso mehr die Bedeutung einer pädagogischen Initiative, die zu eigenständigen Denk- und Handlungsprozessen befähigt, zur Fähigkeit mit komplex erscheinenden Herausforderungen umzugehen und von sich und seiner eigenen Situation abstrahieren zu lernen, um sich in andere einfühlen zu können. Für die Erklärung nationalsozialistischer Verbrechen ist diese Erkenntnis aber dann unvollständig, wenn sie die ideologische Zustimmung und die Vorstellungen unberücksichtigt lässt, die die Entscheidung zur Tat, zur Mithilfe bei der Ermordung von Juden, angeleitet haben. Im Gespräch diskutieren Arendt und Fest darum auch die Frage der Verantwortung und der Schuld, sowie des Handelns selbst unter Bedingungen der Ohnmacht.
Eingerahmt wird das Radiogespräch von einem informativen Vorwort der Herausgeber und einer kleinen Anzahl von Briefen, die Arendt und Fest vor und nach dem Radiogespräch wechselten. Sie geben insbesondere über den Hintergrund der Themenwahl für das Gespräch Aufschluss. Gespräch wie Briefe liefern aber – im Vergleich zu Arendts philosophischen Werken über „Das Urteilen“ und „Über das Böse“ – wenig grundlegend neue Erkenntnisse über die von ihr beobachtete „Unfähigkeit zu Denken“.
Besonders wertvoll für die Auseinandersetzung mit den Folgen des Eichmannprozesses und Arendts Beschreibung von Eichmann ist aber die ergänzend zu Gespräch und Briefwechsel aufgenommene Auswahl von zeitgenössischen Stellungnahmen zu Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“, u.a. des Council of Jews from Germany, des Historikers Golo Mann, der amerikanischen Philosophin Mary McCarthy und des Journalisten Reinhard Baumgart. Interessanterweise heben alle Besprechungen gerade die Entscheidungs-, Dilemma- und Handlungssituationen und -optionen hervor und nehmen damit spätere historiographische und pädagogische Überlegungen zum Umgang mit dem Holocaust vorweg. Bei aller Unzulänglichkeit der Umsetzung sind es diese Fragen, die Arendts Überlegungen philosophisch aber vielleicht auch pädagogisch noch heute interessant machen. Eichmann war sicher kein „Narr“[1], wie McCarthy in ihrem Text suggeriert, und trotzdem oder gerade deswegen weil er weder Narr noch Monster war, fordern er und andere Nazi-Verbrecher bis heute zum schwierigen Unterfangen des Verstehens (das nicht Verständnis impliziert) heraus. Dies ist Bettina Stangneth mit ihrem materialreichen Bemühen der Kontextualisierung von Eichmanns Denken gelungen. Schon McCarthy weist in ihrem Text darauf hin, Arendts Eichmann sei „nicht der ‚endgültige’ Eichmann“. Eines Tages werde er vielleicht auf eine völlig verschiedene Art „im Lichte seiner Handlungen“ dargestellt.[2] Das ist Stangneth ohne Zweifel gelungen. Vielleicht entsteht gerade dadurch der Raum, Arendts Bericht nicht länger als historische Darstellung zu lesen, sondern als Anregung, über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Urteilskraft, Handlungen und Entscheidungen nachzudenken.
Hannah Arendt / Joachim Fest
Eichmann war von empörender Dummheit
Gespräche und Briefe
Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild
Piper Verlag 2011
208 Seiten, 16,95 € [D] | 17,50 € [A] | 25,90 CHF
Bettina Stangneth
Eichmann vor Jerusalem
Das unbehelligte Leben eines Massenmörders
Arche Literatur Verlag 2011
656 Seiten, 39,90 € [D] | 41,10 € [A] | 56,90 CHF
Dr. Tobias Ebbrecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ an den Universitäten Weimar, Erfurt und Jena.