Seit einigen Jahren stellt sich immer stärker die Frage, wie die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wach gehalten werden kann, wenn die letzten Zeugen verstorben sind. Das ist eine wichtige Frage, denn sie impliziert die Aufforderung an uns (die Nachgeborenen), die Verantwortung dafür tragen, dass diese Geschichte nicht vergessen und an nachfolgende Generationen weitergegeben wird. Heute wird die Geschichte der Shoah zunehmend durch Medien vermittelt: durch technische Medien; aber auch durch lebendige Medien, durch ‚Botschafter‘ (wie beispielsweise Pädagoginnen und Pädagogen), die die Geschichten und die Geschichte der Shoah an andere weitergeben.
Bezüglich der Aufbewahrung und Weitergabe von Erinnerungen an den Holocaust sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Projekte entstanden, die sich dieser Herausforderung mit Unterstützung von technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten angenommen haben. Am bekanntesten ist sicherlich die Steven Spielberg Shoah Visual History Foundation, die seit Mitte der 1990er Jahre weltweit mehr als 50.000 Berichte von Überlebenden gesammelt hat.
Bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor, wurde 1979 an der Universität Yale in den USA, das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies gegründet, für das rund 5.000 Interviews mit Überlebenden geführt wurden. Beide Projekte verdeutlichen die wachsende Bedeutung der Überlebenden als Zeugen.
Zeugenschaft
Doch was ist ein Zeuge? Der Begriff entstammt zunächst einmal dem juristischen Kontext. Ein Zeuge ist eine Person, die durch ihre eigene Autorität und Glaubwürdigkeit ein bestimmtes Geschehen verbürgt, es bezeugt. Das Geschehene kann somit nicht mehr in Zweifel gezogen werden.
Am Ende des Krieges waren es zunächst nicht die überlebenden Opfer, die in diesem Sinne als Zeugen angesprochen wurden, sondern die an den Verbrechen unbeteiligten Akteure, die Alliierten, die die Konzentrations- und Vernichtungslager befreiten und dort der schrecklichen Folgen des nationalsozialistischen Massenmordes gewahr wurden. Sie versuchten diesen Schrecken mit Hilfe von Fotografien und Filmen zu dokumentieren. Diese Fotos und Filme dienten ihnen im juristischen Sinne als Beweise, und die Authentizität dieser Beweismittel wurde wiederrum von ihren Urhebern, den alliierten Kameraleuten und Fotografen bezeugt. Diese Urheber der Aufnahmen waren also Zeugen der Zeugnisse, die damit auch vor Gericht eingesetzt werden konnten, beispielsweise bei den alliierten Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg oder dem Bergen-Belsen-Prozess in Lüneburg.
Zwar verfassten einige Überlebende bereits kurz nach ihrer Befreiung Erinnerungsberichte, oft in einem sehr nüchternen und berichtenden Stil wie beispielsweise der polnisch-jüdische Pianist Wladzlaw Spielman, der versteckt in Warschau überlebte, aber nur wenige Zeitgenossen hatten ein Interesse daran, diese Berichte zu lesen oder den Überlebenden zuzuhören. Viele von ihnen betrachteten sich in diesen ersten Jahren nach der Befreiung auch selbst nicht als Zeugen. Im Gegenteil versuchten sie, die schrecklichen Erfahrungen möglichst schnell hinter sich zu lassen. Sie waren mit der schweren Aufgabe konfrontiert, mit diesen Erinnerungen zu leben und – falls möglich – diese zu verarbeiten, um so ins alltägliche Leben zurückzukehren. Manche bemühten sich das Erlittene zu vergessen, andere schlossen sich mit Leidensgenossen zusammen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, und versuchten Verlust und Schmerz im persönlichen Gespräch zu verarbeiten.
Die Historikern Annette Wieviorka benennt als Moment der „Entstehung des Zeugen“ den Eichmannprozess in Jerusalem. Hier entstand erstmals Raum für die Zeugen der Shoah, ihre Erinnerungen mitzuteilen. Und erstmals begannen diese sich auch selbst als Zeugen zu begreifen und versuchten, ihr Leiden in Worte zu fassen. Doch sie verstanden sich dabei nicht in erster Linie als Zeugen in einem engen juristischen Verständnis des Begriffs. Sie wollten nicht nur die Realität der Verbrechen bezeugen, sondern auch von denen zeugen, die ermordet worden waren. Sie verstanden sich also Stellvertreter der Ermordeten und sie stellten damit die Verbindung zu einer Vergangenheit her, die unwiederbringlich zerstört worden war. Die Zeugen wurden so zu Trägern von Geschichte und als solche wurden sie zu Erzählern von Geschichte.
Dimensionen und Ausdrucksweisen der Zeugenschaft
Dies hängt eng mit der Ausweitung des juristischen Zeugenbegriffs zusammen. Denn die Aussagen der Zeugen beschränkten sich nicht nur auf das juristisch Verwertbare, sie redeten also nicht im Sinne des Gerichtsverfahrens „zur Sache“, sondern sie schilderten persönliches Erleben, sie bezeugten zerstörtes Leben, das nicht direkt etwas mit den verhandelten persönlichen Vergehen des Angeklagten zu tun haben musste.
Das war beispielsweise Mitte der 1960er Jahre beim Auschwitzprozess in Frankfurt anders. Zwar spielten die Zeugenaussagen für die Prozessführung der Anklage eine zentrale Rolle, aber es interessierten ganz spezifische Erinnerungen. Im Sinne des kriminologischen Vorgehens spielten detailgetreue Beschreibungen eine große Rolle. Um welchen Tag und um welche Tageszeit handelte es sich, wie war das Wetter, wo stand der SS-Mann, wo stand der Zeuge, was konnte er sehen? Solche Fragen eröffneten keinen Raum für die Erzählung subjektiven Erlebens. Im Gegenteil. Sie forderten die Objektivierung der subjektiven Erinnerungen als Beweise und Fakten. Für viele Zeugen, die sich selbst eben nicht nur als juristische Zeugen, sondern auch als Zeugen der Ermordeten, als Menschen mit einer spezifischen Erinnerung, verstanden, war dies eine schmerzliche Erfahrung.
Für die gesellschaftliche Rezeption des Auschwitzprozesses war jedoch die Präsenz der Zeugen vor Gericht von umso größerer Bedeutung. Die Filmwissenschaftlerin Judith Keilbach betont daher: „Die Gegenwart der Überlebenden, die von sichtbaren Spuren der Geschichte gezeichnet sind, trug im Auschwitz-Prozess entscheidend zur Glaubwürdigkeit der Aussagen bei. Demnach ist es nicht die detaillierte Darstellung der erlittenen Grausamkeiten, sondern vielmehr die körperliche Präsenz der Zeugen, die ihren Erinnerungen besondere Faktizität verleiht.“
Ausgehend vom juristischen Kontext, rekonstruierte Eberhard Fechner in seinem dreiteiligen Dokumentarfilm „Der Prozess“, die mehrjährigen Verhandlungen im Rahmen des Majdanekprozesses seit Ende der 1970er Jahre in Düsseldorf. In seinem Film treten die Menschen in ihren juristischen Rollen auf, als Richter, Ankläger, Verteidiger, als Angeklagte, Zeugen oder Prozess-Beobachter. Nur durch das, wovon die Interviewten berichten und die Art, wie sie erzählen, können wir hinter diesen allgemeinen, vom Prozess vorgegebenen Rollen konkrete Menschen und ihre Geschichten sowie ihre Rollen in der Geschichte erkennen. Durch diese, dem Prozessverlauf nachempfundene Darstellung, erzählt Fechner einerseits über den Verlauf des Prozesses und zeigt dabei auch kritisch, wie die Geschichten der sich erinnernden Zeugen hinter deren Rollenzuweisung als juristische Zeugen verschwinden.
Bei der Beschäftigung mit den Zeugen der Shoah geht es also um verschiedene Dimensionen von Zeugenschaft, einerseits als Zeugen der tatsächlich stattgefundenen Verbrechen und andererseits als Zeugen von den Lebensgeschichten der Ermordeten und ihrer zerstörten Lebenswelt. Die Zeugen der Shoah versuchen so gegenwärtig zu machen, was verloren, zerstört, vernichtet wurde.
Es geht auch um verschiedene Ausdrucksweisen von Zeugenschaft. Neben dem gesprochenen Wort, der Aussage oder Erzählung, kommt dabei vor allem dem körperlichen Ausdruck besondere Bedeutung zu. Gerade die nichtsprachliche Dimension des Zeugnisses verweist auch auf die Schwierigkeit Zeugnis abzulegen. Wenn wir über Zeugen sprechen, dann reden wir gleichzeitig auch über die oft schmerzhafte Überwindung des Schweigens. Während die Täter schwiegen, um ihrer Strafe zu entgehen, konnten die Opfer nicht sprechen, ohne von den traumatisierenden Ereignissen der Vergangenheit wieder eingeholt zu werden. Das Zeugnis ist also eine Überwindung und die erneute Konfrontation mit etwas Unangenehmen. Gleichzeitig ist dieser Prozess notwendig, nicht nur in einem juristischen oder historiographischen Sinne, sondern auch unter psychologischen Gesichtspunkten.
Darum gehört zu Zeugenaussagen auch das Schweigen, das Weinen, das Unterbrechen der Rede hinzu. Die Erinnerungen von Zeugen der Shoah bestehen mitunter sogar ausschließlich aus Wiederholungen, aus fehlenden Erinnerungen, Zeitsprüngen und nicht systematischem Erzählen. Filme können diesen schmerzhaften Prozess des Bezeugens wahrnehmbar und damit die Traumatisierungen sichtbar machen, die die Zeugen erlitten haben.
Dies wird besonders in dem epochalen Dokumentarfilm „Shoah“ von Claude Lanzmann deutlich, in dem die Geschichte der Vernichtung aus der Perspektive von jüdischen Überlebenden, polnischen Zuschauern und deutschen Tätern ‚rekonstruiert‘ wird. Der französische Filmemacher nähert sich der Geschichte der Shoah dabei als einer Geschichte des Todes und der Vernichtung ausschließlich über die gegenwärtigen Orte und die Berichte der Zeugen, Zuschauer und Täter an. Dabei gibt es für ihn nur eine Prämisse: die „Befreiung der Zeugenaussage“ vom Schweigen. In einer bekannten Szene des mehrstündigen Films wird dies besonders eindringlich deutlich. Lanzmann interviewt hier den Zeugen Abraham Bomba, der im Vernichtungslager Treblinka ankommenden Häftlingen die Haare schneiden musste, bevor sie in die Gaskammern geschickt wurden. Bomba arbeitete später wieder als Friseur, allerdings in den USA. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er bereits pensioniert und lebt in der Nähe von Tel Aviv. Lanzmann interviewt ihn in einem Friseursalon. Bomba schneidet einem Bekannten die Haare, während Lanzmann mit ihm spricht. Hier geht es also nicht darum, das historische Geschehen zu rekonstruieren. Vielmehr ist die Szene in Absprache mit dem Zeugen für die Kamera konstruiert worden. Dabei bringt der Filmemacher den Zeugen in eine Situation, in der durch körperliche Bewegungen und Gesten die Vergangenheit wachgerufen wird. Das Schneiden der Haare bringt unweigerlich Handlungen in die Gegenwart zurück, die im Zusammenhang mit dem Zeugnis, das Bomba vor der Kamera ablegt, stehen. Dabei entsteht ein verstörender Eindruck, weil Lanzmann hier auf die Zeugenaussage von Bomba insistiert, obwohl diesem die Stimme versagt und er nicht weitersprechen kann. Die Kamera fixiert beharrlich Bomba, der versucht, sein Gesicht abzuwenden. Durch die Erzählung und das Schweigen an diesem symbolischen Ort rückt die Vergangenheit auch ohne Nachstellungen und Rekonstruktionen sehr nah an uns heran. Einerseits wird dabei das Sprechen fast erzwungen, andererseits können wir als Zuschauer auch das Schweigen wahrnehmen, bemerken, wann der Zeuge abbricht, werden selbst Zeugen seiner Erschütterung und seiner Überwältigung durch die Erinnerung.
In diesem Sinne werden die Zeugen selbst zu Medien. Sie helfen uns, die Vergangenheit vorstellbar zu machen und zeigen gleichzeitig, dass wir sie niemals in ihrer Gesamtheit begreifen können. Die überlebenden Zeugen der Shoah rufen die Vergangenheit in der Gegenwart auf. Die Geschichte wird so für uns wahrnehmbar.
Das „Witnesses and Education“ Projekt
Daran knüpft auch das „Witness and Education“ Projekt in Yad Vashem an. Im Vergleich zu den Projekten in Yale oder der Shoah-Foundation, ist diese Initiative noch ziemlich jung. Erst vor einigen Jahren hat man sich auch in Yad Vashem entschlossen, kurze Filme über die Lebenswege von heute in Israel lebenden Überlebenden der Shoah zu produzieren. Dieses Projekt ging federführend auf die pädagogische Abteilung, die International School for Holocaust Studies, zurück und ist daher bemüht, die Stimme und die Geschichten der Überlebenden in die Bildungsarbeit hineinzutragen und damit vor allem Jugendlichen nahezubringen. Das wahrscheinlich wichtigste Ziel der Filme ist, dass die dokumentierten Lebensgeschichten nicht vergessen werden. Außerdem versuchen sie, die Zeit des Holocaust heutigen Generationen zu vermitteln. Dafür ist es wichtig, dass wir den Menschen sehen, der seine Geschichte erzählt. Darum hat man sich dazu entschlossen, nicht nur die Berichte aufzuzeichnen, sondern mit den Zeugen an die Orte ihrer Kindheit, ihres Leidens und Überlebens zu reisen. Mit den Protagonisten überschreiten die Filme dabei vielfältige Grenzen. Wir überqueren die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit und kehren zurück in die Kindheit der Zeugen. Wir überqueren aber auch geographische Grenzen zwischen verschiedenen Ländern Europas und Israel. Bisher gibt es sieben Filme von rund 50 Minuten Länge, in denen Überlebende ihre Geschichten erzählen und dabei an die Orte ihrer Herkunft und ihres Leidens zurückkehren. Fünf davon wurden bisher ins Deutsche übersetzt. Bei der Entscheidung, zusammen mit den Überlebenden und der Hebräischen Universität Jerusalem das Projekt ins Leben zu rufen, spielten folgende Gedanken eine zentrale Rolle:
Zeugnisse, die mit einem Gesicht verbunden werden können, mit dem Leben eines konkreten Menschen, ermöglichen es eher Empathie und Aufmerksamkeit hervorzurufen. Die Zuschauer und Zuhörer werden so in die Lebenswelt des Überlebenden oder der Überlebenden förmlich hineingezogen.
Indem wir die Zeugen nicht nur hören, sondern auch sehen, gibt es eine Art Begegnung, die durch das Medium des Films vermittelt wird.
Die Zuhörer und Zuschauer werden sowohl emotional als auch intellektuell angesprochen. Wir können die Empfindungen der Überlebenden nachvollziehen und wir lernen über die Geschichte des Holocaust bzw. möchten mehr darüber erfahren.
Es ist wichtig, beim Betrachten der Filme zu beachten, dass diese Filme in erster Linie für ein junges israelisches Publikum hergestellt wurden. Darum erzählen alle Zeugen eine Geschichte, die zwar in Europa beginnt aber durch die Erfahrung von Verfolgung und Leid schließlich in Israel, als rettender Hafen und Neuanfang jüdischen Lebens in einem eigenen Staat, endet. Zum einen wird dadurch die emotionale und biographische Nähe der jungen Israelis zu den Geschichten dieser Zeugen, die heute das Alter ihrer Großeltern haben, erhöht. Zum anderen erfahren sie aber auch etwas über das jüdische Leben in Europa vor dem Holocaust.
Auf diese Weise knüpfen die Filme an die pädagogischen Ansätze an, die an der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem praktiziert werden. Dort soll nicht ausschließlich eine Geschichte von Zerstörung und Leid erzählt werden. Vielmehr beginnt die Thematisierung bereits mit dem jüdischen Leben vor dem Krieg, was dann im Zuge von Verfolgung, Deportation und Massenmord in vielen Ländern für immer zerstört wurde, und sie geht auch nach dem Ende des Krieges und der Befreiung der Lager weiter.
Wie in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, erzählen die Filme konkrete Einzelschicksale. Die Überlebenden sind dabei selbst Erzähler ihrer Geschichten. Sie werden nicht unterbrochen oder durch einen Sprecher oder Interviewer kommentiert. Geführt wurden die Gespräche von pädagogisch geschulten Mitarbeitern von Yad Vashem. Diese versuchten bereits während der Interviews bestimmte Schwerpunkte zu setzen und Hintergrundinformationen von den Zeugen selbst zu erfragen. Tod, Ermordung und Vernichtung sind dabei natürlich dauerhaft präsent, schon allein weil die Überlebenden vom Verlust ihrer Freunde und Angehörigen berichten. Im Zentrum steht die Frage: wie waren Menschlichkeit und Überleben in einer solchen Situation möglich, in der für alle Juden Europas der Tod das von den Nazis und ihren Helfern vorherbestimmte Schicksal sein sollte. Die Filme zeigen Situationen der Entscheidungen, der Dilemmata und zentrale Wendepunkte innerhalb der Lebenswege der Protagonisten.
An diesen Entscheidungssituationen und Wendepunkten kann bei der Beschäftigung mit dem Film immer wieder angesetzt werden. Die damit aufgeworfenen Fragen thematisieren Formen der Entwürdigung und fragen nach Möglichkeiten der Einflussnahme, der Entscheidung, als auch der Hilfe. Denn die Zeugen erzählen nicht nur von ihrem Leid. Sie berichten auch davon, welche Rolle andere Menschen in ihrem Leben spielten, solche, die sie verfolgten, terrorisierten und misshandelten und solche, die sie unterstützten, ihnen Mut zusprachen oder Hilfe zukommen ließen. Und sie erzählen davon, wie sie sich der Entwürdigung zu widersetzen versuchten, wie sie sich bemühten, ihre Würde zu bewahren.
Somit fordern und fördern die Filme eine Auseinandersetzung, nicht nur mit den nationalsozialistischen Verbrechen und der Geschichte des Holocaust, sondern auch mit uns und unserer Gegenwart.
Zeugen der Zeugen
Dabei ist es wichtig, als Zuschauer auch den eigenen Standpunkt beim Betrachten der Filme und beim Anhören der Erinnerungen mit zu bedenken. Viele der geschilderten Situationen berühren emotional, sie erschrecken und verstören oder lassen uns Trauer empfinden. Da wir den Zeugen nicht nur zuhören, sondern auch sehen können, wie sie manchmal nach Worten ringen und von ihren Erinnerungen körperlich und emotional überwältigt werden, kann schnell die Distanz zu den schrecklichen Ereignissen, die von den Überlebenden geschildert werden, verloren gehen.
Solche Distanz aber ist wichtig. Die seelische Erschütterung der Zeugen soll uns berühren und mit den emotionalen Folgen der Verbrechen, des Verlusts und der Trauer konfrontieren, aber nicht ‚betroffen‘ machen. Wir selbst sind nicht die Betroffenen, die von dieser Vergangenheit gezeichnet sind. Wir können unsere Situation, unser Leben nicht vergleichen mit dem derjenigen, die nur durch Zufall der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie, den Henkern und ihren Helfern entrannen. Gerade wenn wir diese Filme heute in Deutschland betrachten, sollten wir uns auch dieser Unterschiede bewusst werden.
Was also kann unser Verhältnis zu den Erzählungen der Zeugen der Shoah sein? Welchen Standpunkt können wir einnehmen? Bei der Eröffnung der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Yad Vashem hat der Auschwitzüberlebende und Nobelpreisträger Elie Wiesel dazu aufgefordert, die jungen, nach dem Krieg geborenen Generationen, sollten „Witnesses of the Witnesses“ werden, sie sollten sich selbst als Zeugen der Zeugen sehen, als Medien und Botschafter von Erinnerungen, die bewahrt und weitergegeben werden müssen. Die Filme, die wir heute sehen, die Geschichten, die die Überlebenden darin erzählen, brauchen jemanden, der sie weiterträgt, der sich mit ihnen auseinandersetzt. Auf diese Weise ermöglichen es uns diese Filme, Zeugen der Zeugen zu werden, indem wir zuhören und zusehen und mit dazu beitragen, dass die Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Opfer nicht vergessen wird.
Tobias Ebbrecht ist Film- und Medienwissenschaftler und hat zuletzt die Studie „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld, 2011) veröffentlicht. Er forscht über die Wechselwirkung von Medien und Geschichtsschreibung an der Bauhaus Universität Weimar. Bis 2010 war er pädagogischer Mitarbeiter der ISHS in Deutschland.