In der Geschichtsschreibung über die Verbrechen des Nationalsozialismus nehmen die Deportationen eine wichtige Stelle ein. Die erzwungene und logistisch bis ins Detail organisierte Verschleppung von Millionen Menschen markiert auf verschiedenen Ebenen zentrale Wendepunkte. Erstens stehen die Deportationen an der Schwelle zwischen der ideologisch intendierten Ausgrenzung bzw. forcierten Auswanderung der jüdischen Bevölkerung und der nun beginnenden systematisch durchgeführten Vernichtung.
Zweitens wird die Verschleppung und Ermordung der Juden ab der zweiten Jahreshälfte 1941 zum zentralen Kriegsziel. Die Todeszüge werden in die Logistik des Vernichtungskrieges eingeplant, mitunter bekommen sie sogar Vorrang vor militärisch wichtigen Transporten.
Drittens, und dies ist der wichtigste Aspekt, markieren die Deportationen einen existentiellen Wendepunkt im Leben der noch in Europa verbliebenen Juden. Mit den Deportationen beabsichtigen die nationalsozialistischen Verwaltungsmassenmörder die endgültige Entmenschlichung und vollständigen Zerstörung der vor 1933 geführten und gelebten Existenz der Opfer. Mit dem Beginn der Transporte ‚nach dem Osten‘ begann die nationalsozialistische ‚Judenpolitik‘ auf nur noch ein Ziel zuzulaufen, nämlich das der Massenvernichtung.
Viertens markierten die Deportationen auch eine zentrale Veränderung in der Wahrnehmung der Verbrechen durch die deutschen Zuschauer und Mitläufer. So fungieren die Deportationen als signifikanter Übergang des offensichtlich Sichtbaren zum Unsichtbaren. Nach der für alle sichtbaren Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben, ihrer erzwungenen Vertreibung, dem Raub ihres Vermögens und dem öffentlichen Pogrom im November 1938 – alles Ereignisse, die sich vor den Augen der deutschen Bevölkerung abspielten – bildeten die Deportationen, sieht man einmal von der mit der Zustimmung und Beteiligung weiter Teile der Bevölkerung betriebenen Praxis der ‚Zwangsarbeit‘ und von der Rückkehr der Häftlinge im Verlauf der Todesmärsche im Frühjahr 1945 ab, den letzten Moment der Sichtbarkeit, der gleichzeitig den Übergang zur Unsichtbarkeit bildete: der Massenmord wurde zum Gerücht, zur Tat, von der zwar alle wussten oder wissen konnten, später aber niemand mehr etwas wissen wollte.
Vor aller Augen
Die systematische Entrechtung und Ausgrenzung der Juden in Deutschland war längst durchgesetzt, als Ende 1941 aus immer mehr Städten Transporte mit Juden in die besetzten Gebiete des Ostens rollten. Die jüdische Bevölkerung wurde von Seiten der Gestapo durch Deportationsbefehle aufgefordert, zu einem bestimmten Datum an einem Sammelpunkt zu erscheinen. Die Kommunikation der Transport- und Gepäckregeln übernahmen meist lokale ‚Selbstverwaltungen‘ der jüdischen Gemeinden. Die Bewachung der zu Deportierenden wurde fast immer von Mitgliedern der Ordnungspolizei übernommen.
Die lokale Bevölkerung wurde dabei oft Zeuge der Verschleppung. Durch die erzwungene Kennzeichnung mit dem gelben Stern auf der Kleidung waren die zu Deportierenden deutlich als Juden zu erkennen. Einige entzogen sich dem Befehl zum Abtransport indem sie untertauchten oder sich das Leben nahmen.
Aus verschiedenen Städten des Reichsgebietes sind fotografische Dokumente überliefert, die den Ablauf der Deportationen dokumentieren und zugleich die letzten visuellen Zeugnisse von Menschen sind, die nach Fahrten unter unmenschlichen Bedingungen bei ihrer Ankunft in den Todeslagern oder bei Erschießungen sofort ermordet wurden. Aufgenommen wurden die Fotografien meist von Angehörigen lokaler NSDAP-Parteigruppierungen, Mitarbeitern lokaler Behörden, Amateur- oder Pressefotografen. Aus drei Städten sind sogar filmische Aufnahmen überliefert. Im März 1942 filmte der Amateurfilmer und Stadtinspektor Erwin Kamberger die Deportation der Juden aus Hildesheim. Eingeblendet in Kambergers Filmaufnahmen aus Hildesheim ist der Zwischentitel „Evakuierung der Juden“. Im Anschluss sind etwa eine Minute lang die Ankunft und die Durchsuchung von Juden sowie deren Warten auf den Abtransport in einem Kasernenkomplex zu sehen. Am 19. März 1942 übermittelte die Gestapo aus Hannover ein Eilschreiben nach Hildesheim. Darin stand zu lesen: „Der Transportzug Da6 wird fahrplanmäßig am 31.3.1942 um 12.12 Uhr in Gelsenkirchen eingesetzt und trifft mit 400 Juden der Staatspolizeileitstelle Münster um 18.15 Uhr in Hannover, Bahnhof Fischerhof, ein. Hier erfolgt die Zuladung der für Hannover (Hildesheim) abzuschiebenden 500 Juden... Um 18.36 Uhr fährt der Transportzug nach Braunschweig weiter... Die Staatspolizeileitstelle Braunschweig ladet die von ihr für den Transport vorgesehehen Juden (116) und das zugehörige Gepäck zu, so dass die endgültige Weiterfahrt des Da6-Transportzuges nach Trawniki bei Lublin um 20.16 Uhr erfolgen kann.“ Am 31. März wurden laut Transportliste 500 Menschen aus Hildesheim deportiert. Nur wenige Monate nach dem ersten Transport wurden am 23. Juli 1942 die restlichen noch in Hildesheim und Umgebung lebenden Juden nach Theresienstadt verschleppt.
Bereits im Dezember 1941 entstand auf dem Stuttgarter Killesberg ein Film, der die auf dem ehemaligen Gelände der Reichsgartenschau auf ihren Abtransport wartenden Juden aus der Region Stuttgart zeigt. Die Urheberschaft des Films ist nicht zweifelsfrei ermittelt. Er wurde im Rahmen der vom Stuttgarter Oberbürgermeister Dr. Karl Strölin im Juni 1941 initiierten Kriegschronik archiviert. Dieser verfügte, „von geeigneten, für die Kriegszeit bezeichnenden Vorgängen Laufbilder aufnehmen zu lassen.“ So entstanden dokumentarische Kurzfilme, von denen heute 58 erhalten sind. Verantwortlich für das Projekt waren das Stuttgarter Stadtarchiv und der lokale Dokumentarfilmer Jean Lommen. Allerdings bestritt der ehemalige stellvertretende Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs Paul Nägele in einer Aussage die Mitwirkung Lommens an dem Film über das Sammellager auf dem Killesberg. Zwar bestätigte er, dass Lommen und er „wie viele Stuttgarter auch“ von der Deportation der Juden gewusst hätten, allerdings hätten sie es abgelehnt „von dieser rein politischen Angelegenheit“ einen Film zu drehen. Nägele schrieb die Urheberschaft daher der Stuttgarter Gestapo zu. Die Staatspolizeistelle Stuttgart hatte am 18. November 1941 in einem Erlass mitgeteilt, dass die jüdische Bevölkerung ab dem 27. November 1941 auf dem früheren Gelände der Reichsgartenschau auf dem Killesberg konzentriert werden solle. Zur Vorbereitung wurde die Jüdische Kultusvereinigung aufgefordert, Listen zu erstellen. Diese wurden daraufhin von der Gestapo überprüft und genehmigt. Durch die Gemeindevertreter wurden diejenigen, die den Deportationsbefehl erhielten, über die Vorschriften bezüglich der Mitnahme von Gepäck, Gebrauchsgegenständen und Schmuck informiert. Anders als bei späteren Transporten war es gestattet, Handwerkszeug, Baumaterialeien und Küchengeräte mitzunehmen. Offensichtlich sollten die Deportierenden über den Zielort der Transporte getäuscht und der Eindruck erweckt werden, sie würden umgesiedelt‘.
Das dritte Filmdokument entstand am 23. bzw. 24. November 1942 in Dresden und zeigt laut Filmtitel die „Zusammenlegung der letzten Juden in Dresden in das Lager Hellerberg“. Zu sehen ist in dem Film ein von der Firma Zeiß-Ikon errichtetes und finanziertes Barackenlager am Rand der Stadt. Im März 1943, nur vier Monate nachdem dieser Film entstand, wurden die dort gefilmten Menschen nach Auschwitz deportiert. Die Filmaufnahmen machte der 1912 geborene Erich Höhne, Angestellter bei Zeiß-Ikon und Verwalter des dortigen Filmlagers.
Täterblicke
Solche Filmdokumente haben einen besonderen Status. Einerseits handelt es sich um seltene visuelle Dokumente von den nationalsozialistischen Verbrechen. Sie belegen das historische Geschehen und verdeutlichen dabei auch dessen Sichtbarkeit. Andererseits handelt es sich aber keineswegs um ‚objektive’ Dokumente. Die ideologische Formierung der nationalsozialistischen Gesellschaft zeigt sich vielmehr auch in diesen semi-offiziellen Aufnahmen. Daher ist es notwendig, die Filmaufnahmen zu kontextualisieren. Nur unter Hinzuziehung historischen Wissens über die Organisation und Durchführung der Deportationen und mit Hilfe zusätzlicher Dokumente wie Deportationsbefehlen, Rundschreiben und Erinnerungen von Überlebenden lässt sich das, was wir in solchen Filmen sehen, verstehen. Ferner sollten solche Filme einer doppelten Einstellungsanalyse unterzogen werden, wie sie die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch vorgeschlagen hat. In den Aufnahmen zeigt sich nicht nur eine technische Einstellung, der Ausschnitt eines Geschehens, den das Objektiv der Kamera in einem bestimmten Moment festgehalten hat. Auch die Einstellung derjenigen, die die Kamera bedienen und den Ausschnitt auswählen, schlägt sich in solchen Aufnahmen nieder. Indem wir also die Bildausschnitte, die Kameraperspektiven und die Blicke der Gefilmten betrachten, können wir auch Rückschlüsse auf die politisch-ideologische Haltung und Einstellung der Filmenden ziehen, insbesondere, wenn wir diese im konkreten gesellschaftspolitischen Entstehungskontext verorten wollen.
Solche Filmaufnahmen besitzen also eine „ideologische Signatur“, durch die sich die Täterperspektive in das Material einschreibt. Sie können nicht als wirklichkeitsgetreue Dokumentationen des Geschehens verstanden werden, sondern reproduzieren immer auch den nationalsozialistischen Blick. Als Propagandabilder verstellen sie das historische Geschehen eher, als dass sie es abbilden könnten. Daher ist es notwendig die „ideologische Aufladung des Ausgangsmaterials“ bei der Arbeit mit solchen Aufnahmen zu berücksichtigen und durch die Analyse herauszuarbeiten.
Solche ideologischen Signaturen können in besonderer Weise in Filmen herausgearbeitet werden, die von Amateuren oder semi-offiziellen Filmemachern aufgenommen wurden und nicht von dazu ausgebildeten Propagandakompanien: „Durch diese semiprofessionelle Machart entsprechen die Aufnahmen nicht der reglementierten Form und Ästhetik klassischer Propagandafotografen, obwohl der (Mit-)Täter Elemente dieser Ästhetik imitiert. So entstehen Brüche und Fehlleistungen“. Im Folgenden soll eine solche Analyse am Beispiel der Deportationsfilme aus Stuttgart und aus Dresden vorgenommen werden.
Die Deportationsfilme aus Stuttgart und Dresden
Die ersten Aufnahmen des Materials aus Stuttgart zeigen Menschen an einem Tisch bei der Registrierung. Die Kamera schwenkt über Dokumente und Pässe. Der darin eingestempelte Buchstabe „J“ ist zu erkennen. Dann sieht man die Durchsuchung von Gepäckstücken. Ein Koffer wird in Nahaufnahme gefilmt, außerdem Kleider und andere Gepäckstücke auf einem Tisch. In den nächsten Szenen sieht man Menschen in einer Halle, die zwischen Gepäckstücken warten. Mehrfach blicken die Gefilmten erst in die Kamera und schauen dann sofort wieder weg. Am Ende dieser Sequenz betreten Männer den Warteraum.
Die nächsten Aufnahmen sind außerhalb der Gebäude aufgenommen worden und zeigen wie ein Lieferwagen entladen wird. In Großaufnahme wird der Inhalt einer Schachtel gefilmt. Danach sieht man die Ausgabe von Essen auf einem Platz, dampfende Kessel und wartende Menschen. Die Kamera fährt an den Wartenden entlang, zeigt die Essensausgabe von Nahem und filmt teilweise auch aus erhöhter Position die Menschen auf dem Platz.
In der nächsten Szene sind wieder Männer zu sehen, die einen Lieferwagen mit Koffern beladen. Einige der Koffer werden so nah abgefilmt, dass man die Namen der Besitzer erkennen kann, die auf die Koffer geschrieben wurden. Nach dem Ende der Verladung fährt der Wagen vom Hof. In den letzten Szenen werden Koffer in einer Reihe sortiert. Das letzte Bild zeigt ein Gepäckbündel mit einer Nummer.
Zwar wirkt der Schnitt der Aufnahmen vom Sammellager auf dem Stuttgarter Killesberg noch unfertig, allerdings lassen sich thematische Blöcke erkennen. Zunächst die Registrierung, dann die Organisation notwendiger Arbeiten und schließlich der Abtransport des Gepäcks, der auch als Platzhalter für den Abtransport der wartenden Menschen gesehen werden kann. Der Film hat jedoch keinen Titel und auch keine beschreibenden Zwischentitel, so dass er wie ein Rohschnitt wirkt.
Anders verhält es sich mit den Filmaufnahmen aus Dresden. Dieser Film wurde offensichtlich provisorisch geschnitten und mit einem Titel und Zwischentiteln versehen. Auf der Titeltafel am Anfang steht zu lesen: „Zusammenlegung der letzten Juden in Dresden in das Lager am Hellerberg am 23./24. Nov. 1942“. Danach beschreibt der Zwischentitel „Abholen des Gepäcks“ die folgenden Aufnahmen, die unweit der Dresdener Frauenkirche vor einem sogenannten „Judenhaus“ gemacht wurden. Zu sehen ist, wie Möbel und Koffer in einen Lieferwagen geladen werden. Auch die folgenden Aufnahmen entstanden vor „Judenhäusern“ in Dresden.
Der nächste Teil des Films zeigt Frauen und Kinder auf einem Hof. Zuvor ist auf einem Schild „Städtische Entseuchungs-Anstalt“ zu lesen. Teilweise sieht man Männer in weißen Kitteln. Auch uniformierte Mitglieder der SS und Gestapo sind zu erkennen. Mehrere Naheinstellungen nehmen Frauen und Kinder in den Blick. Gezeigt wird auch die Untersuchung der Haare jüdischer Frauen.
Der nächste Zwischentitel vermerkt die „Ankunft am Hellerberg“. Die folgenden Szenen zeigen Menschen, die, teilweise mit Regenschirmen oder Regenmänteln ausgerüstet, nasse Wege und Straßen entlang gehen. Zu erkennen sind dann die ersten Baracken des Lagers. Teilweise werden Gepäckstücke mit Namen in Großaufnahme gezeigt. Andere Einstellungen zeigen Frauen und Kinder. In wieder anderen Szenen sind Uniformträger zu sehen. Der nächste Zwischentitel verkündet: „Einige Beispiele jüdischer Ordnung“. Zu sehen sind übereinander geworfene Besen und Reinigungsgeräte, voll gestellte Baracken, Schränke, Waschanlagen und Koffer. Danach werden wieder Menschen und Menschengruppen gezeigt. Der Film endet abrupt mit einem Bild von der Registratur.
Zeigen und Nichtzeigen
Schaut man sich aus heutiger Perspektive die Aufnahmen aus Stuttgart an, dann wirken diese schon allein darum verstörend, weil die dargestellten Szenen so wenig unseren ikonografischen Vorstellungen von den Deportationen entsprechen. Zu sehen sind neben gestapelten Gepäcksstücken, Menschen, die auf dem Boden einer Halle sitzen oder in einer Schlange warten, die Ausgabe von Essen auf einem Hof und die Verladung von Koffern. Bis auf die ersten Einstellungen des rund sechs Minuten langen Materials, in denen Menschen zu sehen sind, die offensichtlich registriert werden und ihre Pässe vorzeigen müssen, scheint jede Form von Zwang und Gewalt in den Aufnahmen abwesend zu sein. Gemächlich schwenkt die Kamera über die zwischen Kleiderbündeln und Koffern sitzenden oder herumstehenden Menschen. Nur deren Reaktionen auf die Kamera, ihre verunsicherten Blicke und das schnelle Wiederabwenden ihrer Gesichter verweisen darauf, dass die hier Gefilmten nicht freiwillig vor der Kamera stehen. Doch erst eine solch genaue Analyse der Aufnahmen, die den Entstehungshintergrund und das historische Wissen über die spezifische Situation miteinbezieht, kann Hinweise auf die Perspektive der Aufnahmen, die Einstellung der Macher und ihr Verhältnis zu dem Gefilmten geben. Die Blicke und Blickrichtungen sind dafür entscheidend. Sie können etwas darüber aussagen, in welchem Verhältnis Filmender und Gefilmte zueinander stehen. Doch auch die irritierende ‚Normalität‘ der Aufnahmen kann durch eine kritische Analyse erhellt werden. Zwar ist heute nicht mehr zu klären, welchem Zweck die Aufnahmen dienen sollten, ob sie bloß für das Archiv bestimmt gewesen sind oder ob ihnen dezidierte propagandistische Absichten zugrunde lagen, etwa um als Material für einen ‚Dokumentarfilm‘ über die Deportationen aus der Sicht der Täter zu dienen. Die verstörende ‚Normalität‘ der Aufnahmen und die so auffällige Abwesenheit von Gewalt und Zwang verweisen aber durchaus auf den Inszenierungscharakter – nicht nur dieser Aufnahmen, sondern auch dieser ersten Deportationen. In ähnlicher Weise wie die zu deportierenden Menschen so lange wie möglich im Unklaren darüber belassen werden sollten, was sie erwartete – bis hin zu der Charade, dass sie Werkzeug und Küchengerät mitnehmen sollten, obwohl sie direkt nach ihrer Ankunft in Riga erschossen wurden – konstruiert auch der Film ein die Wirklichkeit der Deportationen verstellendes Bild vom Geschehen. Es gibt nur wenige Stellen, an denen diese Maskerade aufbricht und die Verstellung offenkundig wird. Eine solche ‚Fehlleistung‘ findet sich nach wenigen Minuten, als am rechten Bildrand ein Ordnungspolizist ins Blickfeld der Kamera tritt. Erst nach einigen Sekunden dreht sich der Polizist in Richtung Kamera. Offensichtlich bekam er in diesem Moment einen Wink des Kameramannes und geht zügig wieder aus dem Bildausschnitt. Eine zweite Situation gegen Ende des Films hinterlässt einen ähnlichen Eindruck. Ein Ordnungspolizist lehnt an einem Pfeiler. Zufällig gerät er ins Bild. Als dies der Kameramann bemerkt, schwenkt er die Kamera leicht zurück, damit der Polizist wieder aus dem Blick gerät. Offensichtlich war es intendiert, die anwesenden Ordnungspolizisten im Film nicht zu zeigen, um ganz bewusst den Eindruck einer normalen und zwanglosen Situation zu evozieren. Gleichzeitig entspricht die Kameraführung der Registratur der Menschen, die hier zu sehen ist. Die Perspektive des Films ist letztlich die eines Verwaltungsaktes.
Filmische Zeugnisse
Dennoch finden sich auch in diesen offensichtlich von einem propagandistischen und die Wirklichkeit verschleiernden Standpunkt aus gefilmten Aufnahmen Spuren der dort zu sehenden Menschen. Wir sehen in ihre Gesichter und wir lesen ihre Namen auf den in Nahaufnahme abgefilmten Koffern. „Die Gepäckstücke und Koffer der zu deportierenden Juden bilden einen zentralen Motivkomplex der Filmaufnahmen. Immer wieder werden Reihen von Koffern abgefilmt. Die Dominanz der Kofferbilder bringt den heutigen Zuschauern also die unterbrochenen Lebenswege zu Bewusstsein und aus dieser Perspektive reflektiert das Koffermotiv auch den immanenten Erinnerungswert des Filmdokuments, in dem Menschen zu sehen sind, die kurz darauf ermordet wurden.“
Auch den Filmaufnahmen aus Dresden kommt nachträglich diese Dimension hinzu, da einige der im Lager Hellerberg aufgenommenen Menschen identifiziert werden konnten. Eine Einstellung zeigt jüdische Frauen mit zwei kleinen Kindern. Es handelt sich um Eva Weiß und Ingeborg Teufel mit deren kleineren Geschwistern Hans-Joachim und Rita. Beide Frauen wurden zusammen mit den Kindern am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Bei diesen und späteren Aufnahmen im Film „irritiert ein beinahe empathischer Blick, besonders bei den Einstellungen von Kindern. Die Bilder des Films spiegeln zum Teil auch ein ‚normales‘ Verhältnis zwischen Kamera und Subjekt, was durchaus durch spontanes Lächeln der Gefilmten zum Ausdruck kommt.“
Dennoch sind diese Aufnahmen eingebunden in eine Montage, die bereits in der Auswahl und Anordnung auch auf antisemitisch konnotierte Zuschreibungen und Entwürdigungen zulaufen. Eine solche Wirkung haben beispielsweise die Aufnahmen nach dem kommentierendem Zwischentitel zu „Beispielen jüdischer Ordnung“ oder die Entwürdigung beim Inspizieren der Haare. Auch zeigen einige Einstellungen ähnliche Reaktionen wie die Aufnahmen aus Stuttgart: „Vereinzelt erblickt man ein demonstratives Abwenden von der Kamera.“
Anders als in den Aufnahmen aus Stuttgart sind in dem Film aus Dresden auch Täter zu sehen: „Die Täter, soweit sie ins Bild geraten, die Gestapo-Leute Henry Schmidt, Martin Petri, Rudolf Müller, Herbert Klemm sowie Dr. Johannes Hasdenteufel vom Zeiss-Ikon-Konzern, demonstrieren bis auf wenige Ausnahmen Gelassenheit, unterhalten sich angeregt, einer raucht Zigarre.“ Und auch die Reaktionen von Passanten hat der Kameramann Erich Höhne eingefangen, der nicht nur die Zustände im Lager Hellerberg, sondern auch die Verladung von Möbelstücken aus den sogenannten ‚Judenhäusern‘ gefilmt hat. „Geradezu frappierend ist die nur in dem bewegten Film zu beobachtende beunruhigende Hast der Passanten, allesamt Zuschauer, die dem Geschehen vor den ‚Judenhäusern‘ scheinbar auszuweichen versuchen. Die Bilder zeigen beispielhaft, daß sich die Ausgrenzung, Verfolgung und Verschleppung der Juden nicht als ‚Geheime Reichssache‘ abgeschirmt vor den deutschen ‚Volksgenossen‘ vollzog. Die Selbstverständlichkeit derartiger Maßnahmen, die Möglichkeit, davon Kenntnis zu haben, sich dafür zu interessieren, etwas wissen zu wollen, tritt hier deutlich zu Tage.“
Fazit
Auf diese Weise können die Filmdokumente der Deportationen Ausgangspunkte für die Auseinandersetzung mit diesem zentralen Kapitel der nationalsozialistischen Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden bilden. Dazu muss die Beschäftigung aber die spezifische Perspektive und den Kontext der Aufnahmen miteinbeziehen. Die ideologische Signatur solcher Täteraufnahmen kann durch die Bildanalyse aufgedeckt werden, wenn diese insbesondere Fehlleistungen und Brüche untersucht. Die Blicke der Gefilmten sind dabei ein besonders wichtiges Indiz für das Wechselverhältnis von Filmendem und Gefilmten. Andererseits ist es notwendig die spezifische Ordnung und Anordnung der Aufnahmen in ihrem Kontext zu analysieren.
Beide untersuchten Filme deuten dabei auf eine intendierte Dramaturgie hin. In den Aufnahmen aus Stuttgart zeigt sich deutlich eine Narration der Registratur und Verwaltung. Auch der Film aus Dresden zeigt solche Momente, ist aber aufgrund der Zwischentitel noch klarer wertend. Dennoch gibt es auch in diesen Aufnahmen einen dokumentarischen Überschuss. Das Unbehagen von einigen der Gefilmten ist ebenso zu sehen wie die unfreiwillig sichtbar werdende Mitwisserschaft beiläufig vorbeigehender Passanten in den ersten Aufnahmen des Films.
Leider sind beide Filme nur schwer zugänglich. Die im Stadtarchiv in Stuttgart und im Bundesarchiv verwahrten Aufnahmen vom Stuttgarter Killesberg sind zwar in den Dauerausstellungen von Yad Vashem und dem Haus der Wannseekonferenz zu sehen aber bis auf eine Anfang der 90er Jahre von der Landeszentrale in Baden-Württemberg ausgegebenen VHS nicht zugänglich. Ende der 1980er Jahre wurden sie in dem Film „Die Lüge und der Tod“ der DDR-Filmemacher Walter Heynowski und Gerhard Scheumann verwendet. Die Filmaufnahmen aus Dresden und vom Hellerberg befinden sich im Archiv der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“. Ernst Hirsch und Ulrich Teschner haben die Entstehungszusammenhänge des Filmmaterials und die Geschichten der darin zu sehenden Menschen auch in ihrem Dokumentarfilm "Die Juden sind weg. Das Lager Dresden-Hellerberg" rekonstruiert. In dem Buch „Die Erinnerung hat ein Gesicht. Fotografien und Dokumente zur nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945“ (Leipzig 1998) wurden die Aufnahmen in Form von Momentaufnahmen aus dem Film dokumentiert, mit historischen Informationen und Referenzquellen kommentiert und durch die historische Studie „Zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945“ von Marcus Gryglewski kontextualisiert. Einige Bilder aus dem Film sind auch online über die Seiten der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“ zugänglich.
Tobias Ebbrecht ist Film- und Medienwissenschaftler und hat zuletzt die Studie „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld, 2011) veröffentlicht. Er forscht über die Wechselwirkung von Medien und Geschichtsschreibung an der Bauhaus Universität Weimar. Bis 2010 war er pädagogischer Mitarbeiter der ISHS in Deutschland.