„Mit den Augen der Täter“
Andreas Weinhold
Wie Textquellen sind historische Fotografien Zeichengefüge, die vom Betrachter entschlüsselt werden müssen. Wie Textquellen sind sie auch Datenträger von Vergangenem, weshalb Fotografien z. B. in den Kriegsverbrecherprozessen nach 1945 als Beweismittel eine wichtige Rolle spielten. Bis heute werden sie als Belege herangezogen, wenn es darum geht, das Handeln oder Leiden während der Zeit des Holocaust zu illustrieren oder zu dokumentieren: in Schulbüchern etwa, populären Geschichtszeitschriften, TV-Dokumentationen oder auf Internetseiten. Und bis heute neigen viele Betrachter dazu, den Fotos einen höheren Wirklichkeitswert, ein höheres Maß an „Objektivität“ zuzuschreiben als anderen Geschichtsquellen. Das gilt insbesondere für Schülerinnen und Schüler. Obwohl sie selbst oft mit einfachen (gemessen an vergangenen Möglichkeiten allerdings hochkomplexen) Techniken der Fotomanipulation vertraut sind, trauen die Jugendlichen den historischen Fotografien zu, das Vergangene so abzubilden „wie es eigentlich gewesen“ ist. „Das ist ein Foto. Das zeigt ja wohl, was damals so abgegangen ist.“ So habe ich einmal die Replik eines Schülers auf meine Fragen zum Aussagewert eines Fotos notiert.
Dieses positivistische Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt von Fotoquellen hat eine Menge damit zu tun, wie Fotografien in unterrichtlichen Zusammenhängen präsentiert werden; nämlich oft weitaus weniger aufwändig als Textquellen, bei deren Erschließung die historisch-kritische Methode der Quellenkritik in der Regel als Selbstverständlichkeit gilt. Nicht ganz unschuldig sind daran aber auch die verfügbaren Lernmittel. So lautet etwa die Bildunterschrift unter dem berühmten Foto aus dem Auschwitz-Album, das die Selektion ankommender ungarischer Häftlinge zeigt, in einem in Nordrhein-Westfalen verbreiteten Oberstufen-Lehrbuch wie folgt:
„Selektion
Das ist die berüchtigte Rampe von Auschwitz, dem größten Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Hier fand die Auswahl statt: 25% eines jeden Zugtransportes durfte – zeitweilig – überleben und wurde zum Arbeitseinsatz abkommandiert. Die restlichen 75% wurden sofort in die Gaskammern geschickt.“
So oder ähnlich könnte dieses berühmte Foto auch in anderen gängigen Schulgeschichtsbüchern beschrieben sein. Weder Schülerinnen und Schüler noch die Lehrkraft haben auf der Grundlage der angegebenen Informationen eine Chance, dem Quellen- und Aussagewert der Fotografie gerecht zu werden. Die Informationen zum situativen Entstehungskontext beschränken sich auf die zitierte Bildunterschrift. Die außergewöhnliche Überlieferungsgeschichte des Bildes im Zusammenhang mit dem in Yad Vashem ausgestellten Auschwitz-Album bleibt unerwähnt. Und wer dazu Genaueres wissen möchte, muss sich mit den „Bildnachweisen“ auf der letzten Seite des Buches begnügen, wo – in alphabetischer Reihenfolge – die Bildrechteinhaber aufgelistet werden.
„Das ist die berüchtigte Rampe von Auschwitz“, so heißt es in der Bildunterschrift. Nein, das ist sie nicht. Es ist eine nachgedruckte Fotografie der (erst nach 1945 „berüchtigten“) Gleisrampe. Aufgenommen wurde sie von einem Täter, einem SS-Mann, der in diesem Bild nicht einfach den Vorgang „knipste“, der sich vor seinen Augen abspielte, sondern der darin seine Haltungen im Hinblick auf das Geschehen festhielt. Die in dem Foto abgebildeten ungarischen Juden tauchen in der Bildunterschrift lediglich als passive, entindividualisierte Opfer auf. Die Einsicht, dass sie auch Handelnde waren, Menschen mit eigener Geschichte und Identität, muss dem Foto des SS-Mannes erst „abgetrotzt“ werden. Der Rassen- und Vernichtungswahn der Täter, den das Bild als Quelle bezeugt, sprach ihnen die Rolle von Handelnden auf fundamentalste Weise ab. Das sollten Schülerinnen und Schüler lernen, wenn sie sich mit Fotografien aus dem Holocaust auseinandersetzen. Doch was – genau – kann in diesem Zusammenhang gelernt werden?
„Beabsichtigte Ikonographie“
Ein Text kann mehrere Perspektiven einnehmen. Bei einer historischen Darstellung würde man darauf sogar größten Wert legen. Aber man kann kein multiperspektivisches Foto machen. Die Perspektive, aus der ein Foto die vermeintliche Wirklichkeit zeigt, ist immer die des Fotografen. Bei keiner anderen Quellensorte lässt sich das so eindeutig feststellen. Neben der Statik ist die Monoperspektivität eines der konstruktiven Merkmale der Fotografie. Sie eignet sich daher in besonderem Maße für historische Lernprozesse.
Ein reflektierter Umgang mit fotografischen Quellen kann die Einsicht in den Konstruktionscharakter aller Geschichte, d. h. die Standortgebundenheit, Ausschnitthaftigkeit, Interesse- und Gegenwartsgebundenheit jeder historischen Darstellung fördern: z. B. dadurch, dass man Schülerinnen und Schüler hin und wieder selbst Fotos machen lässt. Von der Erfahrung, wie sehr die fotografische Abbildung eines Motivs vom eigenen „Standpunkt“ abhängt, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass es sich beim Erzählen von „Geschichte“ immer nur um eine unvollkommene Deutung der Vergangenheit handeln kann. Denn längst nicht alles, was gewesen ist, ist durch Text- oder Bildquellen überliefert. Und wenn Quellen vorhanden sind, sind sie an ihre Produzenten gebunden, geben immer nur bestimmte Perspektiven wieder. Andere, abweichende oder kontroverse Perspektiven hingegen bleiben unsichtbar - so wie die Kameraperspektive der Holocaust-Opfer, die weder Einfluss auf das erzwungene fotografische Fremdbild der NS-Fotografen nehmen konnten noch dazu in der Lage waren, Selbstbilder ihrer Situation in den Ghettos und Vernichtungslagern anzufertigen.
Um die menschenverachtende Perspektive, aus der die Täter die für die Vernichtung vorgesehenen Opfer fotografierten, erkennen und durchschauen zu können, sollten Schülerinnen und Schüler eine bestimmte historische Bildkompetenz entwickeln. In der wissenschaftlichen Ikonographie, jenem Forschungsbereich der Kunstgeschichte, der sich mit den Bedeutungsdimensionen von Kunstwerken befasst, wird diese Kompetenz mit dem Begriff der „beabsichtigten Ikonographie“ (intended iconography) zusammengefasst. Gemeint ist damit eine Methode der Bilderschließung, die sich vor allem auf die Haltung und die Intentionen des Schöpfers (hier: des Fotografen), des Auftraggebers oder des zeitgenössischen Betrachters im Hinblick auf die Funktion und Bedeutung der Bildelemente konzentriert. Haltungen und Intentionen von NS-Fotografen, ihren Auftraggebern und Abnehmern können auf ganz unterschiedliche Weisen überliefert sein: z. B. durch Anweisungen des Propagandaministeriums oder der Abteilung für Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht, durch Reportagetexte oder Bildunterschriften in zeitgenössischen Printmedien, durch sogenannte Bildbegleitzettel oder durch nachträgliche Äußerungen der Fotografen. Kurz: die „beabsichtigte Ikonographie“ fotografischer Quellen aus dem Holocaust lässt sich anhand des zeitgenössischen Auftrags- und Gebrauchszusammenhanges der Fotos rekonstruieren. Wie wichtig die Einbeziehung des politisch-ideologischen Entstehungskontextes im Prozess der Bilderschließung und Bilddeutung ist, zeigt der nachfolgende Auszug aus einem Kompaniebefehl der Propagandakompanie 612 vom 18. Januar 1940:
„Der Bildbericht ist nicht das zufällige Ergebnis einer Bildberichterarbeit, sondern verlangt vorherige Überlegung und gedankenmässige Festlegung der zu fotografierenden Aufnahmen. Ein regiemässiges Nachhelfen durch Herbeiführen bestimmter Vorgänge wird zur Herstellung eines Bildberichtes oft nötig sein. Es muss aber unbedingt beachtet werden, dass die Hauptbedingung eines Bildberichts die Lebendigkeit ist. Gestellt wirkende und ‚tote‘ Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung des Bildberichts.“
Ganz gleich, ob es sich bei einer von Schülerinnen und Schülern zu untersuchenden Fotografie um die Aufnahme einer Propagandakompanie (PK), einer Bildagentur wie Scherl und Atlantic oder eines amateurhaft „knipsenden“ SS- oder Wehrmachtsangehörigen handelt; sofern eine Fotografie aus dem Kontext des Holocaust stammt und Juden, Sinti und Roma, Angehörige der verschiedenen slawischen Ethnien und anderer Opfergruppen darin abgebildet, sollte die beabsichtigte Ikonographie ein selbstverständlicher Teil des Lernprozesses sein. Indem diese zentrale quellenkritische Bildkompetenz systematisch aufgebaut wird, kann ausgeschlossen werden, dass Schülerinnen und Schüler die durch das unfreiwillige Bild entwürdigten Personen mit den Augen ihrer Peiniger betrachten. Ausgebildet werden damit zugleich bildkritische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in den gegenwärtigen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler von hoher Relevanz sind. Antisemitische, antiziganistische oder andere gruppenbezogene Bildstereotype sind aus unserer heutigen, von ungeheuren Bildmengen beherrschten Medienwelt keinesfalls verschwunden. Man denke nur an die einseitig von Passivität, Hilfsbedürftigkeit und Gewalt geprägten Afrikabilder in den Medien und ihre entsolidarisierende Wirkung auf die europäische Mehrheitsgesellschaft.
An einem Beispiel aus dem Kontext des Warschauer Ghettos soll nun in gebotener Kürze gezeigt werden, wie eine Förderung der beabsichtigten Ikonographie im Rahmen der historischen Bildkompetenz aussehen kann.
Ein Beispiel für den Geschichtsunterricht
Im Mai 1941 machte Ludwig Knobloch, Bildberichterstatter der in Warschau stationierten Propagandakompanie (PK) 689, eine Aufnahme von fünf erwachsenen Personen, drei Frauen und zwei Männern, in einem Lokal im Warschauer Ghetto. Die Gruppe sitzt an einer für Bars oder Nachtlokale typischen Theke, die Männer rauchen, auf dem Tresen ist deutlich eine Flasche Wein oder Schnaps zu erkennen. Alle Personen sind einander zugewandt, scheinen sich angeregt miteinander zu unterhalten. Eine der Frauen umarmt den neben ihr sitzenden Mann freundschaftlich. Sie und ihr Nachbar sind durch die für das Ghetto Warschau typische Zwangskennzeichnung, eine weiße Armbinde mit Davidstern, deutlich als Juden zu erkennen.
Niemand in der Gruppe scheint zu bemerken, dass gerade ein Foto gemacht wird. Im Bildhintergrund sind zahlreiche Flaschen mit alkoholischen Getränken sowie eine verspiegelte Wand zu erkennen, in der sich die Gruppe und, schemenhaft, weitere Personen spiegeln.
Das – sicher auch für Schülerinnen und Schüler – Überraschende an diesem Foto: nichts deutet auf Hunger und Elend hin. Im Gegenteil: den Menschen scheint es gut zu gehen, sie sind elegant gekleidet und weisen keinerlei Anzeichen von Mangelernährung auf.
Das Foto ist auch in den Hintergrundbereichen scharf und hell, was für eine mit Bedacht gewählte Ausleuchtung des Raumes sowie eine gute Kameraoptik spricht. Die Kameraperspektive vermittelt einen natürlichen Blick auf die Gruppe, sodass vom Gebrauch eines für damalige Reportagekameras typischen Kleinbildobjektivs bei normaler Brennweite auszugehen ist. Das würde bedeuten, dass der Fotograf recht nahe bei der Gruppe stand, als er seine Aufnahme machte. Da den fotografierten Personen unter diesen Umständen nicht entgangen sein konnte, dass sie fotografiert wurden, dürfte es sich bei ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Fotografen um eine gestellte Pose handeln. In der Summe lassen diese konstruktiven Merkmale des Fotos auf eine in hohem Maße inszenierte Bilderstellung schließen.
Die beabsichtigte Ikonographie dieser PK-Aufnahme lässt sich anhand ihres Gebrauchszusammenhanges rekonstruieren. Am 24. Juli 1941 veröffentlichte die auflagenstarke Berliner Illustrierte Zeitung eine vierseitige Bildreportage, in der auch Ludwig Knoblochs Foto Verwendung fand. Titel der Reportage:
„Juden unter sich – So lebt und haust das Volk, aus dem die Mörder von Bromberg, von Lemberg, Dubno, Bialystock hervorgingen. Ein Bericht aus dem Warschauer Getto.“
Neben dem hier beschriebenen Bild enthält die Reportage siebzehn weitere Fotografien, zwölf davon offenbar auch von Knobloch, die übrigen von den PK-Fotografen Cusian und Koch. Die Bildmotive sind unterschiedlich: eine Marktszene mit Menschenmassen etwa, ein hölzerner Brückenübergang, die Ghettomauer, ein „Appell der Männer vom jüdischen Ordnungsdienst“, Kabarett- und Theaterszenen, ein Spielsaal, in fünf Fällen auch Beispiele für Hunger, „Verwahrlosung“ und Sterben im Ghetto. Alle Fotos sind mit Bildunterschriften und Begleittexten versehen, die ihren für die beabsichtigte Ikonografie wesentlichen propagandistischen Sinnzusammenhang enthüllen: die perfide Konstruktion eines Feindbildes, wonach angeblich „ jüdische“ Eigenschaften für Hunger und Elend im Ghetto verantwortlich seien. Während die reichen Ghettobewohner sich in Bars oder an Spieltischen amüsierten, so der von den Begleittexten erzeugte Eindruck, gingen die Armen nur wenige Schritte entfernt an Hunger und Krankheit zugrunde. Entsprechend sind dem oben beschriebenen Foto von Ludwig Knobloch in der Reportage die Porträtaufnahmen zweier offensichtlich hungernder Kinder und folgender zynischer Begleittext beigefügt worden:
„Das Gesicht des jüdischen Sozialismus: Die Snobs der Getto-Bar.
… und die verhärmten Elendsgesichter der Kinder, die vor den gleichen Amüsierlokalen betteln.“
Die propagandistische Absicht der Fotografen und der Bildredakteure war demnach „die Verbreitung visueller Desinformation zur Konstruktion eines Feindbildes“. Die Bilder sollten ein unmittelbares Nebeneinander von Reichtum und Elend im Ghetto suggerieren und durch angeblich „jüdische“ Verhaltensmerkmale wie Genusssucht, Gier oder Gleichgültigkeit erklären. Indem sie den jüdischen Bewohnern eine moralische Schuld anlasteten, sollten sie gleichzeitig darüber hinweg täuschen, wer für die katastrophalen Zustände im Ghetto verantwortlich war: das NS-Regime nämlich, das die Zufuhr von Nahrungsmitteln in mörderischer Absicht verknappte.
Was sollten Schülerinnen und Schüler lernen, um diesen von vielen Fotografien aus dem Holocaust verschleierten Sinnzusammenhang durchschauen zu können? Die nachfolgenden Spiegelstriche sollen eine erste Orientierung geben, worin die Bilderschließungskompetenzen der Lernenden nach Maßgabe der beabsichtigten Ikonographie bestehen könnten:
Schülerinnen und Schüler sollten
- zunehmend selbständig Fragestellungen hinsichtlich der Perspektivität und Intentionalität fotografischer Bildquellen entwickeln können
- zunehmend selbständig den Entstehungszusammenhang einer fotografischen Bildquelle (Entstehungsort, -zeit, -kontext, Fotograf, Auftraggeber, Adressaten) beschreiben können
- zunehmend selbständig den Inhalt einer fotografischen Bildquelle (Personen, Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, marginale Bildelemente wie den Bildhintergrund, den abgebildeten Raum und die abgebildete Zeit) bestimmen können
- zunehmend selbständig die konstruktiven Merkmale einer fotografischen Bildquelle (Fotogenre, Perspektive, Komposition, Linien, Proportionen, Bildausschnitt, Bildrahmen, Farbe, Kontrast, Lichtführung, symbolische Formen; Kleidung, Posen, Bewegung und Beziehungen abgebildeter Personen; Bildbearbeitung und –manipulation) bestimmen können
- zunehmend selbständig die möglichen Wirkungen einer Fotografie (Funktion und Gebrauchszusammenhang der Fotografie, vom Produzenten bzw. Auftraggeber beabsichtigte Bildwirkung, Wirkung auf den heutigen Betrachter, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Fotografie) beschreiben können
- zunehmend selbständig den Zusammenhang zwischen einer fotografischen Bildquelle und dem historischen Kontext (im Foto enthaltene Informationen über Vergangenes, politisch-ideologischer Standort des Fotografen und/oder seiner Auftraggeber, Bildwirkungen und Bildaussagen im Kontext, Analogien/Unterschiede zwischen Foto und Textquellen) deuten und beurteilen können
- zunehmend selbständig fotografische Bildquellen auf heutige poltische oder alltägliche Gebrauchszusammenhänge der Fotografie beziehen können
Andreas Weinhold ist Geschichtslehrer und pädagogischer Mitarbeiter der Medienberatung NRW