Irena Steinfeldt
Unter den vielen Dokumenten, die in dem von Dr. Emanuel Ringelblum geleiteten Untergrundarchiv „Oneg Shabat“ des Warschauer Ghettos aufbewahrt wurden, befindet sich unter anderem der Bericht der Kurierin Lonka Koszybrocka, die in der Untergrundbewegung aktiv war. Sie erzählte von der Hilfe, die die Untergrundbewegung in Wilna (Litauen) durch einen österreichischen Unteroffizier namens Anton Schmid erhielt. Schmid war in Wilna Leiter der Versprengten-Sammelstelle der deutschen Wehrmacht und hatte die Aufgabe, Soldaten, die von ihren Einheiten getrennt worden waren, wieder zurückzuführen. Sein Hauptquartier lag im Bahnhof von Wilna, und wie alle wurde auch Schmid Zeuge der Verfolgung und Ermordung der Juden. Schon bald verbreiteten sich Gerüchte im Ghetto, dass sich ein österreichischer Soldat den Juden gegenüber freundschaftlich verhielt und jede Gelegenheit nutzte, ihnen zu helfen. Er stellte sie als Arbeiter für seine Militäreinheit ein und verhalf vielen zu Papieren, die die Familien vor Razzien schützten. Zudem setzte er sich für die Freilassung einiger Juden aus dem berüchtigten Lukiski Gefängnis ein und benutzte seinen Lastwagen der Wehrmacht, um sie an weniger gefährliche Orte zu bringen. Er ging sogar so weit, Juden in seiner Wohnung und in seinem Büro zu verstecken und entwedente Waffen der deutschen Wehrmacht, um sie der jüdischen Widerstandsbewegung zukommen zu lassen. Als Lonka Koszybrockas Bericht dem heimlichen Untergrundarchiv beigelegt wurde, fügte man die Überschrift hinzu, dass dies ein Teil der „Serie der Hassidei Umot HaOlam [Gerechte unter den Völkern]“ sei.
In der rabbinischen Literatur bezeichnet der Begriff Hassidei Umot HaOlam Nicht-Juden, die dem jüdischen Volk in schweren Zeiten zur Seite standen. Maimonides, der jüdische Gelehrte und Philosoph des Mittelalters, verwendete den Begriff Gerechte für Nicht-Juden, die die Sieben Noachidischen Gebote einhielten und damit die grundlegenden Theoreme jüdischer Moral und eines ethischen Codes beachteten, unter anderem das Verbot zu morden.
Es war daher nur natürlich, dass beinahe gleichzeitig und unabhängig voneinander der Begriff der Gerechten, wie ihn die Archivare des heimlichen Warschauer Untergrundarchivs verwendeten, auch im vorstaatlichen Land Israel benutzt wurde, um Nicht-Juden zu beschreiben, die während des Holocaust Juden retteten. Im Jahr 1942 begann Mordechai Shenhavi, Mitglied eines Kibbuz im vorstaatlichen Israel, erste Päne für das Gedenken an die ermordeten Juden Europas zu entwerfen. Drei Jahre später legte er ein genau ausgearbeitetes Programm vor, aus dem später die GedenkstätteYad Vashem hervorgehen sollte. Teil dieses Programmes und dieser Institution sollte es sein, eine „Liste der Gerechten unter den Völkern anzulegen, die das Leben oder die Besitztümer der jüdischen Gemeinden retteten."
Yad Vashem wurde offiziell im Jahr 1953 durch ein Gesetz der Knesset, dem israelischen Parlament, gegründet. Der Zweite Weltkrieg lag also gerade einmal acht Jahre zurück, als – obwohl die Wunden noch frisch waren – die Ehrung jener Nicht-Juden, die während des Holocaust Juden gerettet hatten, in die Agenda der Gedenkstätte mit aufgenommen wurde. Obwohl die Auseinandersetzung mit dem enormen Ausmaß des Verlustes gerade erst begonnen hatte, setzte sich der junge Staat Israel zum Ziel, an die Helfer zu erinnern, die große Risiken eingegangen waren, um Juden während des Holocaust zu retten.
Die Motivation hierfür lag zweifelsohne einem Gefühl von moralischer Verpflichtung sowie tiefer Dankbarkeit den Rettern gegenüber zugrunde. Das Gesetz von 1953 ist als formaler Ausdruck eines Bedürfnisses zu verstehen, das Dr. Friedbaum bereits im Juli 1947 wie folgt formulierte: „Wir werden nicht in einer Welt leben können, die vollständig dunkel ist, und wir werden uns selbst nicht rehabilitieren können, wenn wir von einer ausschließlich dunklen Welt umgeben werden.“ Für ein Leben mit der Erkenntnis, dass Auschwitz eine tatsächliche und reale Möglichkeit geworden war, wurde es also zugleich unverzichtbar, zu betonen, dass der Mensch auch in der Lage war, menschliche Werte zu verteidigen und aufrecht zu erhalten. Diese Einsicht bringt auch Primo Levi in der Beschreibung seines Retters in Auschwitz, Lorenzo Perrone zum Ausdruck: „Ich glaube, daß ich es Lorenzo zu danken habe, wenn ich noch heute unter den Lebenden bin. Nicht so sehr wegen seines materiellen Beistands, sondern weil er mich mit seiner Gegenwart, mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein, dauernd daran erinnerte, daß noch eine gerechte Welt außerhalb der unsern da ist: etwas und jemand, die noch rein sind und intakt, nicht korrumpiert und nicht verroht, fern von Haß und Angst, etwas sehr schwer zu Definierendes, eine entfernte Möglichkeit des Guten, für die es sich immerhin verlohnt, sein Leben zu bewahren. [...] Lorenzo zu Dank war es mir vergönnt, daß auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein.“
Hierin liegt das Einzigartige in der Ehrung der Gerechten durch Yad Vashem. Dieses Programm stellt einen präzedenzlosen Versuch der Opfer dar, Menschen anzuerkennen, die ihnen in der Zeit von Verfolgung und größter Tragödie zur Seite standen – den Versuch, jene Personen aus den Reihen der Täter, Kollaborateure und Mitläufer hervorzuheben, die sich dem allgemeinen Trend entgegenstellten und Juden vor dem Tod zu schützen versuchten. Es war in keiner Weise selbstverständlich und erforderte sicherlich enorme moralische und ethische Stärke, um Deutsche und Österreicher (unter vielen anderen) als israelische Staatshelden auszuzeichnen. Damit dient dieses Programm nicht nur dem Andenken an die Courage und Menschlichkeit der Retter, sondern legt auch Zeugnis über die Kraft der Opfer und Überlebenden ab, die, obwohl sie mit der extremsten Manifestation des Bösen aus nächster Nähe konfrontiert waren, nicht in Verbitterung und Rache verfielen, sondern menschliche Werte hochhielten. In einer Welt, in der Gewalt so oft Gegengewalt auslöst, ist dies ein einzigartiges und bemerkenswertes Phänomen.
Darüber hinaus existiert kein Volk, das einen Genozid erlitt oder einem maßlosen Verbrechen zum Opfer gefallen ist und ein ähnliches Programm ins Leben gerufen hätte, durch das die Opfer nicht nur ihrer eigenen Märtyrer, sondern auch der Angehörigen jener Nationen gedenken, die verantwortlich für deren Tragödie waren. So finden sich im Pantheon israelischer Helden litauische Priester, deutsche Wehrmachtsoldaten, polnische Hausfrauen, französische Bauern und andere. In dieser Hinsicht weicht das Programm der Gerechten von Projekten wie zum Beispiel das des Berliner Senats ab, der Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre Deutsche, also Mitglieder des eigenen Volkes, auszeichnete, die Juden gerettet haben.
Während der ersten Jahre ihres Bestehens konzentrierte sich die Gedenkstätte Yad Vashem auf Forschung, auf das Zusammentragen von Archivdokumenten und Zeugenaussagen und das Sammeln der Namen der Opfer. So fanden sich im Magazin von Yad Vashem auch Geschichten über Retter von Juden und wurden von den Forschern dokumentiert. Bereits während der 1950er Jahre brachten Überlebende und andere mehrfach den Wunsch vor, Gerechte durch eine Zeremonie zu ehren. Das Programm der „Gerechten unter den Völkern“ nahm aber erst im Jahre 1962 Gestalt an. Im Entwicklungsprozess des Programms spielten Überlebende eine wesentliche Rolle. Schließlich wurde anlässlich des Holocaustgedenktages am 1. Mai 1962 die Allee der Gerechten eingeweiht und elf Bäume zu Ehren von Gerechten gepflanzt, die von Yad Vashem ausgewählt wurden. Geplant war zudem, dass Oskar Schindler einen zwölften Baum pflanzen sollte, der sich zu dieser Zeit auf Einladung „seiner“ Überlebenden in Israel aufhielt. Eine Woche vor dieser Zeremonie kam Julius Wiener, ein Holocaustüberlebender aus Krakau, auf Yad Vashem zu und protestierte gegen die geplante Ehrung Schindlers. Obwohl er zugab, dass auch er durch Schindler gerettet worden war, behauptete er, der Retter sei ein Nazi, der ihn und seine Familie auf brutale Weise behandelt habe, als er nach Krakau kam, und der einzig und allein Juden gerettet habe, um sich ein Alibi zu verschaffen, nachdem er erkannt hatte, dass Nazideutschland den Krieg verlieren würde. Um einen Skandal zu vermeiden, entschloss man sich, Schindler zu bitten, der Zeremonie fernzubleiben. In den Zeitungen wurde berichtet, dass er wegen Krankheit im Hotel geblieben wäre. Eine Woche später wurde er eingeladen, seinen Baum unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu pflanzen. Dieser Vorfall trug wohl zu der Erkenntnis bei, dass eine klar strukturierte Vorgehensweise notwendig ist, um entscheiden zu können, wem das Recht zustehe, in der Allee der Gerechten in Yad Vashem einen Baum zu pflanzen. So entschloss man sich dazu, eine unabhängige Kommission einzurichten. Um einen angemessenen Ablauf zu garantieren, wurde ein Richter des Obersten Gerichtshofes zum Vorsitzenden der Kommission benannt. Dies wurde in den 50 Jahren des Bestehens dieses Programms beibehalten, und nach wie vor treten die Kommission bzw. deren Teilkommissionen regelmäßig zusammen. Ihre Mitglieder sind vorwiegend Überlebende des Holocaust – einige von ihnen wurden durch Gerechte gerettet, andere haben durch ihre Nachbarn eine gleichgültige oder feindliche Haltung erfahren.
Viele der Herausforderungen, die sich der Kommission in den kommenden Jahren stellen sollten, wurden in den ersten Sitzungen diskutiert. Die Frage, ob der Titel des Gerechten nur an gute Menschen ohne jeden Fehler zu verleihen sei, war eines der am meisten diskutierten Themen in den Debatten der Kommission. Während Richter Landau, der erste Vorsitzende der Kommission, davon ausging, dass die Reinheit des Titels um jeden Preis aufrecht erhalten werden muss, hielt Dr. Aryeh Kubovy, Yad Vashems Vorstandsvorsitzender in den 1960er-Jahren, dagegen, dass in der jüdischen Ethik Reue ein wichtiges Prinzip darstelle. „Das Gesetz verpflichtet Yad Vashem nicht, reine, heilige Menschen zu finden“, sagte er. Diese und andere Fragen fordern die Kommission bis zum heutigen Tag heraus.
Über die Jahre hinweg entwickelte die Kommission eine Reihe von Regelungen und Kriterien, um innerhalb der unterschiedlichen und nuancenreichen menschlichen Verhaltensweisen und Haltungen klare Richtlinien zu schaffen. Durch diese Richtlinien werden Rettungsaktionen, für die der Titel vergeben wird, von anderen Bekundungen von Hilfe und Solidarität gegenüber Juden unterschieden. Hierbei bildet die Definition von Gerechten im Wortlaut des Gesetzestextes als jene, die „ihr Leben riskierten“, eine Grundlage für die Entscheidungen der Kommission. Dadurch wird eine kleine Gruppe von Menschen skizziert, die nicht nur halfen, sondern die bereit waren, ihre relativ sichere Position als Zuschauer oder Mitläufer aufzugeben; Menschen, die in Kauf nahmen, für ihren Standpunkt einen Preis zu bezahlen und sogar das Schicksal der Opfer zu teilen. Angesichts extremster Manifestationen des ultimativ Bösen gaben sie sich nicht damit zufrieden, den Opfern lediglich ihre Sympathie zum Ausdruck zu bringen. Außerordentliche Umstände erforderten außergewöhnliche Reaktionen.
Diese Trennlinie ist verständlicherweise in vielen Fällen unscharf, was die Kommission vor anspruchsvolle Fragen und Dilemmata stellt. Ebenso wie Historiker versuchen die Kommissionsmitglieder, Licht in die Ereignisse zu bringen und sie im Kontext ihres historischen Rahmens auszuwerten. Anders als Historiker sind sie aber gezwungen, am Ende dieses Vorgangs einen klaren Maßstab an komplexe und facettenreiche Situationen anzulegen und schließlich zu einem einfachen Ja oder Nein zu kommen. Sie müssen versuchen, das Risiko, das der Retter auf sich nahm, historisch zu ermessen, ebenso wie die Motivation, mit der eine Person es auf sich nahm, jüdisches Leben zu retten und die von hintergründigen Motiven wie finanziellem Gewinn, religiöser Konvertierung oder dem Wunsch, ein Kind zu adoptieren, bestimmt sein konnte.
Die letztgenannte Motivation ist oft Gegenstand der Erwägungen der Kommission, wie zum Beispiel beim Fall von Bernard Tuch, geboren in Antwerpen. Mit drei Jahren wurde er in das Haus von Franciscus und Stephanie Willems gebracht, die ihn bis zum Ende des Krieges bei sich aufnahmen. Als sich nach der Befreiung herausstellte, dass Bernards Eltern umgekommen waren, wollten die Willems Bernard, der mittlerweile zu einem Teil der Familie geworden war, bei sich behalten. Auch Bernard selbst wollte nicht mehr weg von den Menschen, bei denen er in Liebe und Respekt aufgewachsen war. Aber ein Onkel des Kindes hatte überlebt und kam, um ihn zurückzuholen. Als ihm dies verweigert wurde, ging er vor Gericht. Das belgische Gericht entschied, dass das Kind zurückgegeben werden müsse. Man kann sich vorstellen, welchen Schmerz diese Entscheidung für Bernard bedeutete: „Aus einem liebevollen katholisch-flämischen Haushalt kam ich in ein fremdes, französischsprachiges jüdisches Waisenhaus“, erzählte er in seiner Zeugenaussage. Trotz ihrer Weigerung, das Kind zurückzugeben, entschied die Kommission, dass es nicht die ursprüngliche Intention der Willems war, ein Kind zu adoptieren, sondern dass sie im Laufe der Zeit eine tiefe Liebe zu ihm entwickelt hatten und dass die Willems annahmen, sie seien diejenigen, die dem Kind am ehesten ein warmes, liebendes und stabiles Elternhaus bieten könnten, nachdem seine Eltern umgekommen waren.
Manchmal muss die Kommission zwischen verschiedenen Aspekten der Rettung und den Motiven der Retter abwägen. So wurde zum Beispiel beschlossen, Vladislav Vushkan aus Preili, Lettland anzuerkennen, der mehrere Juden rettete, die nach den ersten Massenexekutionen im Juli 1941 fliehen konnten. Vushkan war bereit, sie zu verstecken, jedoch unter der Bedingung, dass sie ihm mitteilten, wo sie ihre Wertsachen versteckt hielten. Einige Wochen später informierte Vushkan die Juden, dass er unter Verdacht geraten war, weil er immer so große Mengen an Lebensmitteln einkaufte, und dass er ihnen daher kein Essen mehr bringen könne. Zwei Tage später forderte er sie auf, sein Haus zu verlassen, weil er verraten worden sei. Nachdem sich die Verfolgten zwei Nächte lang in der verlassenen Synagoge versteckt hatten, kehrten sie – mangels jeglicher Alternative – verzweifelt zu Vushkan zurück, der sie schließlich bis zum Ende der deutschen Besetzung versteckte. Zwei der Verfolgten starben während ihrer Zeit im Versteck, aber sechs Juden erlebten die Befreiung. Mit der Ausnahme von ein paar wenigen Dutzend, denen die Flucht in die Sowjetunion gelungen war, waren diese sechs die einzigen überlebenden Juden dieser Stadt, deren Bevölkerung in der Vorkriegszeit zur Hälfte aus Juden bestand (847 von 1.662 Einwohnern waren im Jahr 1935 jüdisch). Mit der Anerkennung von Vushkan bestätigte die Kommission, was Mordekai Khagi, einer der Überlebenden, in seiner Zeugenaussage wie folgt beschrieb: „Meine Beschreibung von Vushkan, seiner Motive und seinem Verhalten ist korrekt... Alles ist verziehen. Er hat sein Leben riskiert, um uns zu retten. Es war kein vorübergehender Impuls – die Rettung dauerte drei Jahre an. Jahre, angefüllt mit Angst, Hoffnung, und ich glaube manchmal sogar mit Hass auf uns von seiner Seite aus... Aber es war Heldentum im höchsten Maße...“
In einigen Fällen ist es der Charakter des Retters, der eine genaue Untersuchung erfordert. So kam zum Beispiel die Frage auf, ob der Titel an Antisemiten verliehen werden könne. Im Sommer 1942 verfasste Zofia Kossak-Szczucka, eine polnische Autorin und strenggläubige Katholikin, das illegale Flugblatt „Protest“, in dem sie die Verbrechen der Nazis gegen die Juden verurteilte. In dem Flugblatt kommen Kossak-Szczuckas antijüdische Einstellungen klar zum Ausdruck, aber zugleich wird darin der Mord an den Juden verurteilt und in unmissverständlichen Worten darauf bestanden, dass es eine Pflicht sei, den verfolgten Juden beizustehen. „Das Schweigen kann nicht länger hingenommen werden“, so schrieb sie, „daher erheben wir – Katholiken, Polen – unsere Stimme. Unsere Einstellung den Juden gegenüber hat sich nicht verändet. Weiterhin halten wir sie für die politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Feinde Polens. […] Dieser Umstand befreit uns jedoch nicht von unserer Pflicht, Mord zu verdammen… Gott, der es nicht erlaubt zu töten, fordert von uns diesen Protest. Er wird durch unser christliches Gewissen gefordert.“ Kossak-Szczucka war eine der Begründerinnen von Zegota, jener Organisation die Juden half, indem sie sie mit arischen Papieren ausstattete, Versteckplätze bei polnischen Familien fand, Kinder in sicheren Familien oder Klöstern unterbrachte und finanzielle Unterstützung sowie medizinische Hilfe für Juden im Versteck organisierte. Trotz ihrer antisemitischen Ansichten wurde Zofia Kossak-Szczucka für ihren heldenhaften Einsatz und ihr Verhalten als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.
Die Geschichten mit denen die Mitglieder der Abteilung der „Gerechte unter den Völkern“ konfrontiert werden, sind keine in sich abgeschlossenen Kapitel. Trotz des zeitlichen Abstandes rufen diese schwierige Erinnerungen hervor. Vertieft man sich in die einzelnen Fälle, kommen oft Alpträume und noch offene Wunden an die Oberfläche. Viele Geschichten, obwohl sie doch von Handlungen nobelster Humanität erzählen, enthalten Untertöne traumatischer Erinnerungen. Im Unterschied zu Historikern stehen wir ständig mit den Zeugen und Überlebenden in Kontakt, sprechen und korrespondieren mit ihnen. In unseren Versuchen, die Umstände der Rettung zu rekonstruieren, stoßen wir oft an Grenzen und enorm schmerzhafte Aspekte, die uns das klare Gefühl vermitteln, hier nicht weiter bohren zu dürfen, um nicht Wunden wieder zu öffnen, die dann ohne jede Kontrolle weiterbluten würden.
Genau dies geschah nämlich bei dem von Barbara S. eingereichten Antrag. Sie wurde als kleines, krankes und halb verhungertes Baby zu einer polnischen Familie in Warschau gebracht. Erst nach vielen Jahren wurde ihr bewusst, dass sie jüdischer Abstammung war und begann, ihre Familiengeschichte zu erforschen. Alles was sie hatte war ein Stück Papier mit einem Namen darauf, das sie im Besitz ihrer Adoptivmutter gefunden hatte. Es war der Name der Frau, die ihre leibliche Mutter versteckt und das Versteck für das offensichtlich unehelich geborene Baby organisiert hatte. Mitarbeitern der Abteilung der „Gerechten unter den Völkern“ gelang es, die Mutter über die Datenbank der Namen der Holocaustopfer ausfindig zu machen, wo sie Gedenkblätter eingereicht hatte. Die Mutter von Barbara gründete nach dem Holocaust erneut eine neue Familie und leugnete in einem Brief, die Mutter des Babies gewesen zu sein. Sie gab der Tochter zudem den Rat, dass es nicht wirklich günstig sei, jüdisch zu sein, erkundigte sich aber dennoch nach ihrem Wohlergehen und drückte ihre Hoffnung aus, dass sie sich eines Tages begegnen würden.
Solch schmerzhafte Themen sind oft verbunden mit der Frage, warum Überlebende sich erst zu einem so späten Zeitpunkt ihres Lebens entschließen, sich an Yad Vashem zu wenden. Ada Israeli (Zivcon), die als junges Mädchen in Lettland versteckt worden war, erzählte, dass sie wartete, bis ihre Mutter verstorben war, da diese negative Gefühle gegen die Retter hegte, die ihr das eigene Kind nicht wieder aushändigen wollten, als sie nach der Befreiung auftauchte, um es abzuholen. Es ist nur natürlich, dass solch intensive Beziehungen mit dem Retter Spannungen zwischen den Familien verursachten. Eltern oder andere überlebende Verwandte fürchteten, dass die Retter eine Bedrohung für sie darstellten bei dem Versuch, ihr Leben aus den Trümmern wieder aufzubauen, und beneideten nicht selten die Leute, die die Chance hatten, ihre Kinder statt ihrer selbst aufzuziehen. Diese Emotionen sind oftmals vermischt mit dem Gefühl der Dankbarkeit und der unermesslichen Verpflichtung denen gegenüber, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um ihre Kinder zu retten. Aus dieser Ambivalenz heraus entstanden nicht selten Schuldgefühle gegenüber den Rettern. Dasselbe gilt für die Kinder. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo man sich darum bemühte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und die Traumata zu vergessen, glaubten viele, dass der Abbruch aller Beziehungen zu den Rettern die beste Lösung für die eigenen Kinder sei. Jahrzehnte später versuchten viele Überlebende im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit ihren Rettern Kontakt aufzunehmen. Daher erreichen die Ansuchen, Retter als Gerechte anzuerkennen, Yad Vashem oft sehr spät. So findet sich in den Geschichten oftmals nicht nur die Geschichte der Retter, sondern – entweder offen ausgedrückt oder implizit zwischen den Zeilen – die Exegese der Erinnerung an diese Rettung.
Im März 1943 traf Marie Ijzerman in Amsterdam die herzzerreißende Entscheidung, sich von ihrem Sohn zu trennen, in der Hoffnung ihn damit retten zu können. Den Mitgliedern der Untergrundorganisation, der sie ihr Baby Andy anvertraute, gab sie einen Brief für ihn mit:
„Mein geliebtes Kind: Bevor ich dich verlassen werde, hoffentlich nicht für immer, muss ich dir ein paar Zeilen schreiben. Aber so wie es aussieht, besteht wenig Hoffnung, dass ich dich jemals wieder sehen werde. Mein liebster Andy, ich muss dir jetzt auf Wiedersehen sagen, du bist gerade neun Monate und drei Wochen alt. Gott weiß, was für ein furchtbares Los das für uns ist, aber es ist besser so, als dich mit uns ins Ungewisse zu nehmen. Ich hoffe, du wirst ein mutiger junger Mann und wirst die Leute, die dich aufziehen werden, lieben wie deine eigenen Eltern. Allein Gott weiß, ob wir das richtige tun oder nicht. Ich wollte dich immer bei mir haben, aber es ist zu gefährlich für dich und ich möchte nicht, dass du in die Hände unsere Henker gerätst. Und nun, mein Kind, muss ich mich von dir verabschieden. Tausend Küsse von deiner Mutter und deinem Vater. Gott segne dich, Amen. Marie Ijzerman Trompetter.“
Andys Eltern wandten sich an die NV (Naamlose Vennootschap), eine illegale niederländische Widerstandsgruppe, auch bekannt als „Anonyme Gruppe“, die mehr als 200 jüdische Kinder gerettet und in christlichen Familien untergebracht hat, sie dort weiterhin besuchte und die Retter mit Dokumenten und Lebensmittelkarten unterstützte. Die Mitglieder dieser Gruppe fanden einen Ort, an dem sie den kleinen Andy verstecken konnten und ihm so das Leben rettete. Das Schicksal der Eltern verlief weniger glücklich: Sie wurden verraten und im Februar 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo man sie ermordete. Die Hoffnung der Mutter, ihr Kind möge ein liebevolles Zuhause finden, erfüllte sich nicht sofort. In der ersten Familie, in der man Andy unterbrachte, erfuhr er keine gute Behandlung. Nachdem die Untergrundorganisation bemerkte, dass das Kind misshandelt wurde, brachten sie ihn in ein besseres Zuhause, nämlich zu Hermana van Corbach-De Vries, einer 43 Jahre alten Witwe in der Provinz Overijssel, die ihn bis zum Ende des Krieges bei sich versteckt hielt.
Nach dem Krieg wurde Andy von seiner Retterin getrennt und von Verwandten seiner Mutter adoptiert, aber die Narben aus seiner frühesten Kindheit blieben ihm sein ganzes Leben, bis zu seinem frühen Tod im Alter von 36 Jahren. Die Akte, die uns von einem Cousin übergeben wurde, enthielt nur eine schlechte Xerox-Kopie des Briefes. Als wir versuchten, das Original ausfindig zu machen, fanden wir heraus, dass Andy sein ganzes kurzes Leben lang nicht in der Lage war, mit seiner Vergangenheit zurecht zu kommen und dass er nie versucht hatte, mehr Informationen über seine Mutter oder den Brief, den sie ihm hinterlassen hatte, in Erfahrung zu bringen. Dennoch war es sein Wunsch, mit dem Brief beerdigt zu werden. Alles was übrig blieb, ist die Geschichte einer Rettung, die von der Kommission der Gerechten rekonstruiert werden konnte, und eine schlechte Kopie des verzweifelten Briefes seiner Mutter. Wir werden niemals erfahren, wie viele Geschichten begraben liegen und für immer unentdeckt bleiben.
Irena Steinfeldt leitet die Abteilung der „Gerechter unter den Völkern“ in Yad Vashem.