Sara Olga Yanovsky
Mit bis zu 20.000 jüdischen Schülern in einer der lebhaftesten und größten jüdischen Gemeinden Europas vor dem Holocaust, war die Frage der jüdischen Erziehung eine der entscheidendsten Aufgabenbereiche der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG).
Schon im Jahr 1812, als nur etwa 100 sogenannte ‚tolerierte‘ jüdische Familien in Wien wohnen durften, gründeten diese eine Religionsschule. Doch sowohl damals als auch nach der offiziellen Anerkennung der Israelitischen Kultusgemeinde im Jahr 1852, als bereits 10.000 Juden in der Stadt lebten, verweigerten ihre Vorsteher stets der Gründung Jüdischer Volksschulen. Sie fürchteten, dass eine Trennung zwischen jüdischen und christlichen Kindern eine erfolgreiche Integration der Juden in die Wiener Gesellschaft verhindern könnte. „Erst wenn die Zeit der vollkommenen, konfessionellen Gleichberechtigung gekommen [ist]“, schrieb der Historiker Gerson Wolf im Jahr 1867, „dann kann auch die israelitische Kultusgemeinde ohne Furcht vor dem Gespenste des Separatismus, die Frage der Errichtung israelitischer Volksschulen in Erwägung ziehen. Bis dahin muss die Frage vertagt werden.“
So besuchten fast alle jüdischen Kinder in Wien nicht-jüdische Schulen, sogar als in der Zwischenkriegszeit die jüdische Bevölkerung mit etwa 200.000 ihren Höhepunkt erreichte. Doch das Leben in der Großstadt brachte für die Wiener Juden nicht nur weitgehende wirtschaftliche, kulturelle und politische Möglichkeiten, sondern auch Gefahren mit sich, die sich auch im Leben ihrer Jüngsten widerspiegelten. So wurde es mit der Zeit immer fragwürdiger, ob Juden tatsächlich als vollkommen gleichberechtigte Bürger akzeptiert werden würden.
Aufgrund des Antisemitismus, der ab den 1880er Jahren steil angestiegen war, hatten viele jüdische Schüler mit immer brutalerer Diskriminierung und physischer Gewalt zu kämpfen. Im Jahr 1896 berichtete die Österreichische Wochenschrift von mehreren Fällen, in denen „ein christlicher Schüler seinem Schulgenossen, bloß weil's ein Jud war, mit dem Messer das Auge ausgestochen“ hatte.
Die judenfeindliche Stimmung kam derweil auch immer öfter aus der Richtung der Lehrer. Als in einer Mädchenschule in Wien-Floridsdorf eine Schülerin gelbe Zettelchen mit der Aufschrift ‚Deutsche, hütet euch vor Juden‘, verteilte, stellte sich bald heraus, dass diese von ihrem Bruder, einem Lehrer stammten. Mehrere Lehrer waren auch öffentlich in antisemitischen Parteien aktiv, was nicht nur in der jüdischen Presse, sondern auch in einer der auflagenstärksten Tageszeitungen, dem Neuem Wiener Tagblatt im Jahr 1887 diskutiert und scharf kritisiert wurde: „Behält ein solcher Lehrer seine Gesinnung für sich, dann ist gegen ihn nichts einzuwenden, denn Gedanken sind zollfrei“, schrieb die Zeitung.
„Ganz anders aber stellt sich die Sache, wenn er sich öffentlich, sei es in Vereinen oder Versammlungen bei der Bewerbung um ein Mandat oder gar in seiner Schule als Antisemit bekennt (...) Wie sollten sich nun die richtigen, liebe- und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Lehrer und Schülern, ohne welche ein gedeihlicher Unterricht unmöglich erscheint, entwickeln, wenn der Lehrer entweder die Konfession oder die Rasse, welcher die Schüler angehören, hasst und verfolgt und wenn die Schüler sich über diese seine feindliche Gesinnung aus jedem Zeitungsblatt unterrichten können.“
Auch der Inhalt in Schulbüchern wurde den zu Tage tretenden antisemitischen Ressentiments angepasst. In den deutschen Lesebüchern wurde nun ein Gedicht von Friedrich Rückert eingeführt, das jüdische Schüler gemeinsam mit ihren christlichen Klassenkameraden lasen.“Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt“ handelt von einem Nadelbaum, der sich goldene Blätter wünscht und eines morgens tatsächlich mit solchen erwacht:
Aber wie es Abend ward,
Ging ein Jude durch den Wald
Mit großem Sack und langem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und lässt das leere Bäumlein dort.
Oft bekamen jüdische Schüler auch schlechtere Noten, weil sie Juden waren. Beschwerden gab es nicht besonders viele, zu groß war die Angst, dass dies den Kindern nur noch mehr Schaden zufügen könnte, fast selbstverständlich war die Feindseligkeit als Teil des ganz normalen Alltags. Auf der anderen Seite waren jüdische Kinder mit ihren christlichen Klassenkameraden auch oft gut befreundet.
So erzählt Sonia Wachstein, die 1907 geborene Tochter des Historikers und Direktors der Wiener jüdischen Bibliothek Bernhard Wachstein, in ihren Erinnerungen, dass sie in ihrer Klasse recht beliebt war und es keine Bosheit oder Feindseligkeit war, wenn ihre Freunde ihr mitteilten, was der Pfarrer ihnen im Religionsunterricht über Juden erzählt hatte: „ (...) dass ein Römer beim Anblick eines Juden seine Verachtung damit ausdrückte, dass er auf den Boden spuckte.“ Doch beschweren wollten sich die Wachsteins nicht: „Es kam mir oder meinen Eltern niemals in den Sinn, uns beim Stadtschulrat zu beklagen, obwohl Wien nach dem ersten Weltkrieg eine sozialistische Verwaltung hatte und der berühmte Reformer [Otto] Glöckel neue Ideen in den Volksschulunterricht eingeführt hatte.“
Eine dieser Reformen, der sogenannte Glöckel-Erlass, schaffte die obligatorische Teilnahme an Schulgebeten, sogenannten ‚Religiösen Übungen‘ für alle Konfessionen ab und verweigerte den Wunsch der Kirche, katholische Schulgebete in allen Schulen vor und nach dem Unterricht einzuführen. Gebete blieben außerhalb der allgemeinen Schulstunden als freiwillige Übungen erhalten. Auch die IKG organisierte in bis zu siebzehn Synagogen mit jeweils mehreren hundert Schülern regelmäßig Jugendgottesdienste, um die nur zwei Wochenstunden Religionsunterricht zu ergänzen.
Im Jahr 1933 allerdings wurden unter der Regierung Engelbert Dollfuß wieder obligatorische Schulgebete eingeführt und katholische Schüler waren verpflichtet, sowohl zu Unterrichtsbeginn als auch zu Unterrichtsschluss, ein christliches Schulgebet zu sprechen und dies auch mit dem Kreuzzeichen zu beginnen und abzuschließen. Der Stadtschulrat ersuchte den Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde, dazu Stellung zu nehmen. Dieser erklärte, dass es im Interesse aller Schüler wünschenswerter wäre, ein konfessionsloses Gebet einzuführen und die Worte ‚Heiliger Geist‘ mit ‚Heiliger Gott‘ zu ersetzen. Die Jüdischen Vorsteher hatten allerdings keine Einwände dagegen, dass Juden in der Klasse blieben, während ihre christlichen Klassenkameraden beteten.
Es kam aber immer wieder vor, dass jüdische Eltern zu Hause erstaunt bemerkten, wie ihre Kinder die christlichen Gebete, die sie tagtäglich hörten, aufsagten. Auch kannten sie die christlichen Feiertage viel besser als die jüdischen, an denen sie, wie an Samstagen, zur Schule gehen mussten. Allerdings waren sie am Sabbat vom Schreiben und Zeichnen befreit.
Die orthodoxen Juden Wiens, die schon im Jahr 1849 ihre eigene private Schule gegründet hatten, übten schärfste Kritik am IKG Vorstand, weil dieser trotz steigendem Antisemitismus, aber vor allem angesichts der Entfremdung jüdischer Kinder von ihrem Glauben, noch immer keine jüdischen Volksschulen errichtete und auch die orthodoxe Talmud Thora Schule nicht ausreichend unterstützte. Die orthodoxe ‚Jüdische Presse‘ klagte auch über jüdische Eltern, weil nur ein kleiner Bruchteil von ihnen ihre Kinder in die Talmud Thora schickte: „Fühlen es die sabbathaltenden Eltern nicht, dass trotz Nichtschreibens, trotz Nichtzeichnens die Sabbatseele des Kindes durch den Besuch der Profanschule an und für sich verschüttet, wenn nicht getötet wird? Dieser Schulbesuch am Sabbat bedeutet, ..dass das Kind förmlich wie ein Dieb sich von zu Hause, aus dem sabbatlichen Elternhause wegschleichen muss – oft ohne Kiddush, ohne Gebet, hastig und nervös, um dann in der Schule im Mittelpunkt unliebsamer Aufmerksamkeit, verspottet, gehetzt, allmählich dem Sabbat im Herzen untreu zu werden.“
Der Oberrabbiner der IKG Zwi Perez Chajes gründete zwar im Jahr 1919 ein jüdisches Gymnasium, hatte es aber nicht leicht, sich gegen die Meinungen durchzusetzen, die fürchteten, eine eigene Schule würde jüdische Kinder von der nicht-jüdischen Gesellschaft entfremden. In einer Rede beklagte er, dass gerade in den sogenannten interkonfessionellen Schulen die Kinder mit dem Antisemitismus unvorbereitet konfrontiert werden würden, und sie dies erst recht von der Außenwelt entfremdete. „Wenn ein Knabe immer wieder auf das Judentum schimpfen hört, so ist er nicht in der Lage, sich und das Judentum zu verteidigen“, sagte Chajes. In der jüdischen Schule hoffte er die intime, selbstbewusste Bindung zum Judentum wieder herstellen zu können, damit die Kinder, wenn sie heranwuchsen, mit einem authentischen Selbstwertgefühl in die Welt gehen konnten. Die meisten Schüler des Gymnasiums waren Einwanderer aus Galizien, die nach dem ersten Weltkrieg als Ausländer galten und nicht in öffentliche Schulen aufgenommen wurden.
Ihre erste jüdische Volksschule eröffnete die IKG erst im Jahr 1935, ein Jahr nachdem der Stadtschulrat im September 1934 überraschend die ‚Parallelklassenverordnung‘ eingeführt hatte. Nicht-katholische Schüler sollten nun aus ‚praktischen Gründen‘ in separaten Klassen unterrichtet werden. Viele Schüler mussten deshalb die Schule wechseln und die wenigen jüdischen Schuldirektoren wurden entlassen.
Anfang 1938 veröffentlichte die ‚Jüdische Presse‘ eine kleine Notiz über ein bevorstehendes Verbot, jüdischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu erteilen. Dies hätte die Erziehungsstrategie der IKG stark erschüttert, da der Großteil der Gemeindeaktivitäten im Unterrichtswesen genau auf solchen Religionsunterricht konzentriert waren. Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich im März 1938 wurden die ‚Nürnberger Gesetze‘ auch in Wien eingeführt und mit einem Schlag alle jüdischen Kinder in separate jüdische Schulen eingeteilt. Später wurden genau diese Schulen als Sammellager für Juden, die deportiert werden sollten, verwendet.
Ab 1942 besuchten jüdische Kinder in Wien keine Schulen mehr, die meisten waren geflüchtet oder wurden deportiert und es sollte fast vierzig Jahre dauern, bis die IKG im Jahr 1980 mit der Eröffnung der Zwi Perez Chajes Volksschule ein neues Kapitel jüdischer Erziehung in Wien begann.
Sara Olga Yanovsky schreibt ihre Dissertation an der Hebräischen Universität in Jerusalem über jüdische Erziehung in Wien und Budapest 1867-1938. Sie ist Mitarbeiterin der "Jews and Cities" Forschungsgruppe am interdisziplinären Forschungszentrum Scholion ("Scholion - Interdisciplinary Center for Jewish Studies").