Dr. Chaim Shalem
„Das jüdische Verständnis von Gewalt war über Generationen hinweg eine komplexe und vieldeutige Angelegenheit. Im kollektiven Geschichtsgedächtnis jedoch manifestierte sich später vor allem ein Stereotyp, nämlich das vom passiven Juden, der keine Waffe zu führen vermag und das auch gar nicht möchte.“ So beschrieb Jehudith Tidor-Baumel die angeblich typische Passivität der traditionellen jüdischen Welt. Im Zuge der Aufklärung und besonders durch die aufkommende zionistische Bewegung veränderte sich jedoch das jüdische Politikverständnis, und damit auch die Einstellung zur Macht. Damit löste sich das Judentum als Ganzes immer mehr vom Stereotyp der Passivität, das schließlich nur noch der Orthodoxie anhaftete. Philipp Friedman, der zur ersten Generation von Wissenschaftlern gehörte, die die Shoah untersuchten, beschäftigte sich auch mit dem Verhältnis der traditionellen Orthodoxie zum Heldentum. Für jene sei das „Heldentum“ gleichbedeutend mit intellektuellem und seelischem Mut und der Aufopferung für die Religion und den Glauben. „Gegen das Schlechte in der Welt kann man nicht kämpfen und es nicht mit physischer Kraft besiegen. Diese Schlacht wurde durch die oberste Macht bereits entschieden.“
Das Stereotyp vom passiven orthodoxen Juden, der zum organisierten Widerstand nicht in der Lage sei, war bereits während der Shoah verbreitet. Tidor-Baumel begründete dies vor allem damit, dass religiöse Jüdinnen und Juden als Inbegriff der Diaspora galten, und so im Gegensatz zum zionistischen Ideal standen, dass die Diaspora ablehnte. Gershon Bakon behauptete, dass die Agudat Jisra´el den seit 1942 bestehenden Planungen für einen Aufstand im Warschauer Ghetto sehr skeptisch, wenn nicht sogar negativ gegenüberstand. [...]
Eine empirische Untersuchung der zeitgenössischen historischen Quellen enthüllt ein anderes Bild, das mit dem Mythos der passiven Orthodoxen wenig gemein hat. Aus unserer Studie geht hervor, dass sich die Sichtweisen der religiösen Führung und allgemein der religiösen Bevölkerung seit dem Beginn des Aufstandes veränderten. [...] Dieser Aufsatz soll die Ansichten von sechs Rabbinern aufzeigen, die damals im Ghetto lebten, ebenso wie ihre Gedanken zum Aufstand und ihren Anteil daran. Diese Rabbiner waren seit dem Beginn der Massendeportationen nach Treblinka (Sommer 1942) und bis zur Liquidierung des Ghettos (Frühling 1943) dort aktiv. Die Zeugenaussagen über ihre Äußerungen und Taten zur Zeit des Aufstandes zeigen die religiösen Gruppierungen im Ghetto in einem neuen Licht, zumindest im letzten halben Jahr seines Bestehens. Außer den sechs Rabbinern waren fast keine anderen religiösen Führungsfiguren mehr im Ghetto, mit Sicherheit keine orthodoxen. Daher waren sie für die gesamte orthodoxe Öffentlichkeit von Bedeutung. Andererseits akzeptierten die religiösen Ghettobewohner, wie wir noch sehen werden, nicht immer den von den Rabbinern festgelegten Kurs. Die von mir untersuchte Gruppe von Rabbinern ist repräsentativ für die Stimmung unter den Rabbinern zur Zeit des Warschauer Ghetto-Aufstandes. Gesicherte Daten über die jüdische Gesellschaft im Ghetto liegen nicht vor. So müssen wir uns auf Daten aus der Vorkriegszeit stützen, um den Anteil der orthodoxen Juden an der jüdischen Gesellschaft insgesamt zu schätzen. 1936 fanden die letzten Wahlen der jüdischen Gemeinde Warschau statt. Damals erhielten die religiösen Listen, von denen es mehr als zwanzig gab,insgesamt etwa 40% der Wählerstimmen. Davon entfielen auf die Agudat Jisra´el und mit ihr verbundene Gruppierungen etwa zwei Drittel der religiösen Stimmen, also etwa 25% der Stimmen der jüdischen Einwohner Warschaus insgesamt. In Warschau war die Agudat Jisra´el, wenn auch nicht unbedingt direkt im politischen Kontext, die dominante Kraft unter den religiösen Juden, und damit auch unter den Orthodoxen. Die Worte und Taten der ihr angehörigen Rabbiner zur Zeit des Ghetto-Aufstandes spiegeln dennoch die Gedanken eines wichtigen Teils der Warschauer Juden in Bezug auf diese Zeit wider.
Das erste Zeugnis, das uns von einem Agudat Jisra´el-Mitglied über den Aufstand vorliegt, ist das von Rabbiner Alexander Soscha Friedman, einem Journalisten und Schriftsteller, welcher der Führung von Agudat Jisra´el in Polen angehörte. Vor dem Krieg verfasste er ein wichtiges Werk, Ma´ajana schel Torah (Die Quelle der Tora), das zu einem der populärsten religiösen Bücher auf den Shabbat-Tischen wurde. Im Ghetto war Rabbiner Friedman besonders beliebt, da er der Leitung der Sozialhilfestelle angehörte.
Am 22. Juli 1942 begannen die Massendeportationen nach Treblinka – als Tag der „Großen Aktion“ ging er in die Geschichte des Ghettos ein. Eine Versammlung von Mitgliedern aller politischen Bewegungen und aller Vereinigungen der Warschauer Jüdinnen und Juden trat zusammen, um über die Lage zu diskutieren und sich auf eine für alle Seiten akzeptable Reaktion zu einigen. In der Diskussion wurde auch ein Aufstand gegen die Deutschen als mögliche Reaktion besprochen, doch Rabbiner Friedman konnte diesem Vorschlag nichts abgewinnen. Er rief die Versammelten auf, „geduldig zu warten, und das Wunder wird kommen […]. Geduldig und in der Sicherheit, dass Gottes Hilfe uns befreien wird.“ Rabbiner Friedmans Haltung entspricht also den Thesen von Philipp Friedmann und Jehudith Tidor- Baumler. Doch es waren nicht nur die Vertreter der religiösen Gruppierungen, die dem Aufstand ihre Unterstützung verweigerten. Auch der Historiker Dr. Yitzchak Schiffer, Mitglied der Po‘alei-Zion, äußerte Bedenken. Die meisten anderen Anwesenden brachten zwar ihre grundsätzliche Unterstützung zum Ausdruck, fanden aber, dass man noch abwarten müsse – unter anderem aufgrund des Eindrucks, den die Redebeiträge von Friedman und Schiffer hinterlassen hatten. Die Debatte wurde immer erregter geführt, und einige Tage nach der Versammlung wurde die „jüdische Kampforganisation“ (polnisch Żydowska Organizacja Bojowa, kurz ŻOB) gegründet. Während der Deportationen schickten Rabbiner Friedman und sein Freund Josef Königsberg, der ebenfalls Mitglied der Agudat Jisra´el und Vorsitzender der Jeschiwa Chochamei Lublin war, geheime Nachrichten in die Schweiz, um die Welt um Hilfe zu bitten.
Nach den Massendeportationen nach Treblinka, die bis Mitte September 1942 andauerten, schien sich die Meinung von Rabbiner Friedman geändert zu haben. Möglicherweise hatte er erst da das ganze Ausmaß der Katastrophe erfasst. Zu dieser Zeit soll er sein Bedauern darüber ausgedrückt haben, dass er keinen bewaffneten Kampf führen konnte. Er zählte gar zu denjenigen, die Rabbiner Menachem Semba (s. weiter unten) ermutigten, die Teilnahme am Aufstand zu erlauben. Dies geht aus dem Bericht von Jehuda Arie (Leib) Feingold hervor, einem religiösen Juden, der aus dem Lager Treblinka floh, ins Ghetto Warschau zurückkehrte und sich dort den Aufständischen anschloss. Er hörte, wie Rabbiner Friedman zu Rabbiner Semba sagte, dass man im Kampf gegen die Deutschen auch zur Waffe greifen müsse, da es sich um Notwehr handele.
Eine deutlichere Unterstützung der Untergrundtätigkeit und der Vorbereitung des Aufstandes finden wir bei Rabbiner Joseph Alexander Zemelmann, einem der Anführer der Jugend der Agudat Jisra´el in Polen, der Rabbiner im Städtchen Przedecz in der Nähe des Lagers Chelmno gewesen war. Rabbiner Zemelmann war damals etwa 30 Jahre alt, ein bekannter Religionsgelehrter und eloquenter Redner auf Polnisch, Jiddisch und Hebräisch. Er gehörte zu den Chassidei Gur, bewunderte den Zionismus und hatte Zuhause eine Sammelbüchse des Keren Kayemet LeIsrael.
Im November 1942 kam er als Flüchtling ins Warschauer Ghetto und berichtete von der Auslöschung vieler jüdischer Gemeinden in ganz Polen. Sofort knüpfte er Kontakte zu den polnischen Partisanen, um von ihnen Waffen und Munition zu bekommen. Auf einer Versammlung revisionistischer Geschäftsleute, an der er teilnahm, beschloss man, als Vorbereitung für die Zukunft Waffen anzuschaffen. Die Brüder Zwi und Moshe Silberberg, beide Beitar-Mitglieder und beide im Jüdischen Militärverband (pl. Żydowski Związek Wojskowy, kurz ŻZW) waren davon sehr beeindruckt. So beschlossen sie, mit ihm zusammen Waffen vom Warschauer Ostbahnhof über das Viertel Praga, in dem sie aktiv waren, ins Ghetto zu schmuggeln. Katriel Ben Arie zufolge konnte man sich der ZOB nur als politisch ausgerichtete kämpfende Truppe anschließen. Die Jugend der Agudat Jisra´el aber verfügte im Sommer 1942 nicht über eine kämpfende Truppe. Wer wie Rabbiner Zemelman kämpfen wollte, war also gezwungen, sich dem ZZW anzuschließen. In einer seiner Predigten im Ghetto erläuterte er die Notwendigkeit eines Aufstandes, wobei er sich auf eine rabbinisch- homiletische Stelle des Psalms 94,1 ("[Du] Gott der Vergeltung, der Ewige") im Talmud stützte, in der es heißt: "Groß ist die Rache, wie sie zwischen zwei Namen Gottes geschrieben ist". Über Rabbiner Zemelman und seine Tätigkeit schrieb Hillel Seidmann nach der Shoah: „Der Rabbiner Orlian [Jehuda Leib, ein Mitglied der Agudat Jisra´el und einer der Vertreter von „Beit Yaakov“ in Polen] erzählte mir voller Bewunderung von Rabbiner Zemelman, seinen Taten und seinen Worten. Er verblüffte uns durch seine Teilnahme am Aufstand, denn es gab nur wenige Rabbiner, die so waren, […] und Ende 1942, Anfang 1943 hörten wir plötzlich, dass Rabbiner Zemelman in der Stadt war und zum Widerstand und zum Aufstand aufrief.“ Einige Tage vor dem Aufstand wandte sich eine Gruppe von Rabbinern, darunter auch Rabbiner Zemelman, an die Bewohner des Ghettos und bat sie, nicht auf die Aufrufe der Fabrikbesitzer Tevens und Schulz zu reagieren, in denen die Ghettoinsassinnen und -insassen aufgefordert wurden, „freiwillig“ in den Arbeitslagern Poniatov und Troniki, beide in der Gegend von Lublin, für deren Fabriken zu arbeiten. Während des Aufstandes kämpfte Rabbiner Zemelman mit einigen Jeschiwa-Schülern zusammen. Er starb durch eine von den Deutschen abgefeuerte Granate, die ihm tödliche Verletzungen zufügte.
Auch Rabbiner Elieser Gershon Friedensohn, ein wichtiger Vertreter von Agudat Jisra´el in Polen und einer der Leiter des orthodoxen Erziehungswesens „Beit Yaakov“, beteiligte sich am Waffenschmuggel. Vor der jüdischen historischen Kommission in Polen wurden 1947 zwei Zeugenaussagen abgelegt, in denen vom Waffenschmuggel ins Ghetto und vom Kommando des Rabbiners Friedensohn berichtet wurde. Yaakov Silberberg sagte aus: „Unsere Gruppe bestand aus 20 Personen […] Wir stahlen Waffen, und wenn wir an der Ghettomauer vorbeikamen, warfen wir die Waffen dorthin […] Das Kommando in unserer Gruppe hatte der bekannte orthodoxe Geschäftsmann Elieser Gershon Friedensohn, Anführer der Aguda. Er organisierte auch andere Gruppen chassidischer Jeschiwa-Schüler […] Er gab uns Befehle, wie wir die Waffen heraus- und ins Ghetto hineinbringen sollten. Er sagte uns, dass wir sogar am Shabbat arbeiten müssen, um der heiligen Aufgabe willen […]. Im April 1943 wurde er von den Deutschen auf dem Hof des Judenrates erschossen.“ Der wichtigste Unterstützer des Aufstandes aus den Reihen der Agudat Jisra´el in Polen war Rabbiner Menachem Semba. Vor der Shoah wurde er zu den Großen Israels gezählt, er galt als herausragende religiöse Autorität innerhalb der Agudat Jisra´el. Er gehörte ihrem Rat der Religionsgelehrten an, ebenso dem Rat der Rabbiner von Warschau. Während der Deportationen der Warschauer Jüdinnen und Juden nach Treblinka, zwischen Juli und September 1942, wurde auch seine Frau deportiert. Danach verfasste er einen langen Aufsatz zu den religiösen Gesetzen des Märtyrertums, worin er sich auf Moses Maimonides und andere wichtige Gelehrte berief. In der Einleitung zu diesem Aufsatz schrieb er: „Was ich mit G’ttes Hilfe erneuert habe in den Tagen des Zorns, als man mir meine teure Frau nahm“. Die umfangreiche Handschrift ging im Ghetto-Aufstand verloren. Vielleicht war seine Einstellung zu dieser Zeit noch immer passiv. Doch mit dem Ende der ersten Deportationswelle gab es Berichte von den Ermordungen in Treblinka, und damit änderte sich die Einstellung von Rabbiner Semba zum Widerstand und zur Organisation einer jüdischen Kampftruppe. Er sprach von einem großen „Märtyrertum“ und vom Heldentum der Seele, das er bei Israel Arie Wilner, Mitglied des Shomer HaTzair, gesehen habe, als dieser unter den schweren Foltern, die die Deutschen ihm zufügten, nicht zusammenbrach. Zu denen, die Rabbiner Semba inspirierten, die Teilnahme am Aufstand religionsrechtlich für zulässig zu erklären, gehörte (neben Rabbiner Friedman, von dem bereits berichtet wurde) ein weiterer Rabbiner der Agudat Jisra´el: Rabbiner Schimon Huberband, der die Jugend der Agudat Jisra´el in Otwock in Polen gegründet hatte. Er war ein bekannter Wissenschaftler, Dozent und Journalist in vielen verschiedenen Themenbereichen. Im Ghetto gehörte er zur Leitung des Untergrundarchivs „Oneg Schabbat“. Er bat Rabbiner Semba um ein religionsrechtliches Gutachten zum bevorstehenden Aufstand und stimmte dessen Einschätzung dann zu. Das Gutachten von Rabbiner Semba, in dem er die Teilnahme am Aufstand befürwortete, wurde im ganzen Ghetto verbreitet. Es existieren zwei voneinander unabhängige Zeugenaussagen von zwei separaten Versammlungen, bei denen sein Gutachten eine Rolle spielte. Die erste ist von Leib Feingold und wurde sofort nach der Shoah in HaTzofe veröffentlicht. Erstmals sprach Rabbiner Semba von einem eventuell bevorstehenden, gerechtfertigten Aufstand. Feingold besuchte den Rabbiner Semba in seiner Sukka am ersten Abend des Sukkoth-Festes 5703 (26. September 1942). Dort hatten sich verschiedene Persönlichkeiten eingefunden, unter anderem Mitglieder des Misrachi, orthodoxe Geschäftsleute und Mitglieder der Agudat Jisra´el. Rabbiner Semba betonte, so beschreibt es Feingold, dass er seine Worte gewählt habe „nach einer abschließenden Abwägung, und ich sage Euch, dass dies der Weg ist – sich erheben, Widerstand leisten, aktiv und mit der Waffe in der Hand […]. Es gibt viele unter uns, die gegen einen Aufstand sind, […] töricht ist es, wenn jeder einzelne nur darauf spekuliert, dass das Böse vor ihm haltmachen wird, dass ausgerechnet er verschont wird […]. Ich sehe in einem Aufstand aus religiöser Sicht ein Gebot, nach allen Regeln des Krieges, denn dies ist Rache für 'vergossenes Blut', da kann es niemanden geben, der sich selbst meint, denn welche Rache soll das sein, wenn klar ist, das man erst selbst getötet werden muss, aber hier zählt das Märtyrertum […]. Rache aus tiefster Seele ist hier das Gebot, in der Heiligung der Meinung und des Willens – wir stehen auf!“ Die zweite Zeugenaussage stammt von Hillel Seidmann vom 14. Januar 1943. Sie wurde vier Monate nach dem Sukkoth-Treffen mit Rabbiner Semba und damit einige Tage vor dem „Kleinen Aufstand“ (18. Januar 1943) weitergegeben. An diesem Tag trafen sich einige Rabbiner, Gelehrte, Politiker und Philosophen aller Strömungen im Archiv der Gemeinde von Warschau. Während des Gespräches sagte Rabbiner Semba, es sei eine Sünde, widerstandslos zum Umschlagplatz zu gehen. Seiner Meinung nach hätte man auf die „Aktion“ im Juli 1942 mit Widerstand reagieren müssen, statt sich weiter Illusionen hinzugeben. Voll bitterem Zynismus beschrieb er das Volk Israel, wie es sich deportieren lässt, als höfliches und weises Volk, aber auch als „Volk, das seinen Verstand abgeworfen hatte“. Er fügte hinzu: „Von Anfang an hätte uns jedes Mittel recht sein müssen, um die Welt auf unser Schicksal aufmerksam zu machen, wenigstens jetzt also sollten wir Widerstand leisten. Wir dürfen uns nicht selbst in die Hände des Feindes begeben […]. Der einzige Weg zum Märtyrertum ist aktiver, bewaffneter Widerstand“. Laut Israel Elfenbin beeindruckten die Worte von Rabbiner Semba „die übrig gebliebenen Juden von Warschau“, ebenso seine „religionsrechtliche Auslegung, die den Widerstand zur Pflicht machte“. Der Neffe von Rabbiner Semba, ein Rabbiner namens Avraham Semba, der bereits vor dem Aufstand aus dem Ghetto gerettet wurde, schrieb nach der Shoah, sein Onkel habe während der Deportationen sein Missfallen an der Haltung der Ghettobewohner zum Ausdruck gebracht: Kurz vor dem Aufstand habe Rabbiner Semba einigen Menschen geraten, aus dem Ghetto zu fliehen. Außerdem habe er diejenigen gewarnt, die sich von den Vorschlägen der Deutschen verlocken ließen, freiwillig in eines der Arbeitslager bei Lublin zu gehen: „Um Himmels Willen, sich selbst in die Hand des Verbrechers zu begeben, ist wie sich selbst den Verstand zu rauben.“ Daraus geht zwar nicht hervor, dass Rabbiner Semba den Aufstand direkt unterstützte, aber mit seinen Worten kritisierte er die passive Haltung vor dem Ausbruch des bewaffneten Widerstandes.
Auch der Rabbiner Itzchak Elieser Meisel aus Lodz, ein Verwandter des Dichters Itzchak Katzenelson, hielt den Aufstand für wichtig und notwendig. Einige Zeit vor dem Aufstand gehörte er zu einer Gruppe von Rabbinern, die dazu aufrief, die Aushänge der Deutschen zu ignorieren. Zwei Zeitzeugen, Zivia Lubetkin und Tuvia Boshikovsky aus dem Kibbutz der Ghettokämpfer, berichten, dass sie Rabbiner Meisel sofort nach dem Ausbruch des Aufstandes getroffen hatten. Er habe ihnen Erfolg gewünscht und sogar sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass der Aufstand nicht eher begonnen habe. Am ersten Tag nach dem Sederabend fragte Rabbiner Meisel nach den Einzelheiten des Aufstandes und nach den Kämpfern. Als er den Bunker verließ, sagte er zu Boshikovsky: „Ich bin schon alt, aber Ihr, die Ihr jung seid, fürchtet Euch nicht, kämpft und siegt, G’tt soll mit Euch sein.“ Im Eichmann-Prozess sprach Zivia Lubetkin über Rabbiner Meisel und erzählte, wie sie am zweiten Sederabend in den Bunker kam, wo der Rabbiner den Seder unterbrach, ihr die Hände auf den Kopf legte und sprach: „Nun kann ich gut sterben. Hätten wir das doch nur früher getan“.
Scheinbar stützen also die Aussagen von Boshikovsky und Lubetkin – die beide überzeugte Zionisten waren – die erstgenannten Aussagen, wonach der Aufstand bereits in der Planungsphase Unterstützung fand.
Zusammenfassend kann man sagen, dass einige Rabbiner, die eine bedeutende Gruppe innerhalb der politischen und religiösen Führung von Agudat Jisra´el und innerhalb der orthodoxen Bevölkerung Warschaus bildeten, in Worten und Taten den Wandel bezeugten, der sich innerhalb eines Teils der orthodoxen Bevölkerung ereignete. Sein Ausmaß war damals noch nicht zu erkennen. Dass aber einige – wichtige und weniger wichtige – Rabbiner ihre Meinung zum Aufstand änderten, muss nicht heißen, dass die gesamte religiöse Bevölkerung und die Mitglieder von Agudat Jisra´el ebenfalls deren Standpunkt annahmen. Bella Haber beispielsweise ist eine Überlebende des Ghettos von Warschau. Sie hielt sich zu Beginn des Aufstandes mit vielen anderen im Bunker auf. Ihrer Erinnerung nach, so sagt sie, behaupteten einige chassidische Gruppen, zu denen auch sie gehörte, der Aufstand sei überflüssig und schade gar den übrig gebliebenen Juden, die von den Deportationen verschont geblieben waren. Yaakov Maroko meinte, dass der Aufstand „ein erfolgloser und kraftloser Versuch“ gewesen sei, und „die Jungen, die mit ihren wenigen Pistolen spielten und wie Helden aussehen wollten“ Schuld an der anschließenden Zerstörung des Ghettos trugen. Gemäß der hier aufgeführten Aussagen (worunter sich die Aussagen von zumindest zwei Gruppen von Menschen befinden, die Waffen ins Ghetto schmuggelten) können wir davon ausgehen, dass sich einige Dutzend orthodoxe Juden aktiv am Aufstand beteiligten. Inwieweit die orthodoxe Bevölkerung des Ghettos den Aufstand befürwortete, lässt sich jedoch kaum abschätzen.
Gekürzte Übersetzung eines Aufsatzes, der in der Zeitschrift „Bischwil Hasikaron“ [Zur Erinnerung], Nr. 10, Dezember 2011 erschienen ist. In der Originalversion untersucht der Autor zusätzlich die wissenschaftliche Rezeption orthodoxer Reaktionen auf den Aufstand im Warschauer Ghetto.
Dr. Chaim Shalem ist Dozent am Michlalah Jerusalem College.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Alice Meroz