Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Im folgenden Interview sprechen wir mit Prof. Tobias Ebbrecht-Hartmann und Esther Rachow von der Hebräischen Universität in Jerusalem über digitale Holocaust Education und digitale Erinnerungskultur
YV:
Wie haben digitale Technologien das Erinnern an den Holocaust in den letzten Jahren verändert und welche Entwicklungen erwartet ihr in Zukunft?
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Es kommt natürlich immer darauf an, wie diese digitalen Technologien konkret eingesetzt werden. Bisher können bestimmte Trends beobachtet werden, deren Entwicklung seit der Corona-Pandemie an Geschwindigkeit gewonnen hat. Eine große Veränderung ist die Zugänglichkeit von Gedenkstätten und Erinnerungsorten aus der ganzen Welt auf eine viel lebendigere und interaktive Weise. Durch Social Media Formate, digitale Rundgänge und interaktive Landkarten sind Gedenkorte auch aus der Ferne virtuell begehbar.
Die Digitalisierung hat natürlich ganz generell die Zugänglichkeit zu den Quellen und Dokumenten des Nationalsozialismus und der Shoah verbessert. Alle großen Archive, Museen und Gedenkstätten wie Yad Vashem, das USHMM oder die Arolsen Archives haben umfangreiche Digitalisierungsinitiativen gestartet. Projekte wie EHRI, der European Holocaust Research Infrastructure, ist es gelungen, die Informationen über diese digitalisierten Quellen online zusammen zu tragen und zugänglich zu machen. Auf diese Weise verändert sich auch die Forschung. Mittlerweile können Forscher*innen auf viel umfassendere Bestände, die vorher weltweit verstreut waren, zugreifen. Außerdem entstehen neue Forschungsansätze, beispielsweise die Digital Humanities, mit deren Hilfe anders auf die Orte und Zeugnisse der NS-Verfolgung geschaut werden kann.
Esther Rachow:
Digitale Technologien haben außerdem das Potential, sich stärker auf das Vorwissen und die Fähigkeiten von Lernenden einzustellen und können damit Sprachbarrieren, Lernbedürfnisse und Interessenfelder mit Hilfe von interaktiven Methoden direkt adressieren. Das könnte heißen, dass Diversität und Inklusion in der Zukunft stärker in die Entwicklung und das Design von Erinnerungskonzepten eingebunden werden.
Wer ein bisschen ins Thema reinschnuppern möchte ist herzlich zu einer oder mehrer Veranstaltungen der MEMORISE online Ringvorlesung zum Thema Diversity & Inclusion in the Development and Design of Digital Projects eingeladen: https://memorise.sdu.dk/online-lecture-series-accessing-heritage-related-to-nazi-persecution/
YV:
Bitte nennt ein paar Beispiele für eurer Meinung nach gelungene digitale Lernformate und wie sie im Unterricht genutzt werden könnten.
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Beispielsweise wurden mehrere digitale Bildungsangebote zum Thema Holocaust und NS-Verfolgung in diesem Jahr für den Grimme Online Award nominiert, die wir auch direkt empfehlen würden, da sie eine Reihe von Kriterien erfüllen, die auf der Grundlage unserer Forschung relevant sind. Dazu gehören Interaktive und partizipative Elemente, gutes Storytelling auf Grundlage von kenntnisreich aufbereiteten und kontextualisierten Quellen, sowie deren multimediale Präsentation und Nutzung.
Esther Rachow:
Als „Best Practise“ Beispiele können wir die Plattform und das Spiel #Last Seen. Images of Nazi Deportation“, die digitale Ausstelleung „Zwangsräume“ und das Civil Citizen Project „Library of the Lost Books“ empfehlen, aber das sind nur ausgewählte Beispiele aus einer Vielzahl sehr guter Angebote. Alle drei Projekte sind von angesehenen Institutionen oder im Rahmen von Forschungsprojekten entwickelt worden und nutzen ganz unterschiedliche Ansätze, die die Vielfältigkeit von digitalen Möglichkeiten zeigen.
#Last Seen ist ein Verbundprojekt der Freien Universität Berlin, das historische Fotografien von Deportationen, die zwischen 1938 und 1942 aus dem "Deutschen Reich“ stattgefunden haben, sammelt, kontextualisiert und veröffentlicht und auf der Grundlage dieser Datenbank ein Spiel entwickelt hat. In dem Spiel werden die Nutzer*innen als Journalist*innen, die aus der heutigen Perspektive handeln, dazu motiviert, verschiedene Deportationszusammenhänge zu recherchieren, um so mit dem Wissen zu interagieren, das hinter den Bildern steckt. (https://atlas.lastseen.org)
„Zwangsräume“ ist ein Projekt des Aktiven Museums Berlin, das die antisemitische Umsiedlungspolitik im Berlin der NS-Zeit beleuchtet. In der Applikation werden verschiedene Häuser und deren Geschichten gezeigt und die Nutzer*innen dazu motiviert, zu erfahren, unter welchen Bedingungen die Zwangsumsiedlung stattgefunden hat und wie Jüdinnen und Juden in Berlin bis zu ihrer Deportation gelebt haben. (https://zwangsraeume.berlin/de)
Das „The Library of Lost Books“ Projekt des Leo Baeck Instituts ist die größte Citizen Science Initiative seiner Art. Das Projekt ruft dazu auf, die 60,000 Bücher wiederzufinden, die 1942 von den Nazis aus der Bibliothek der Hochschule für jüdische Studien in Berlin gestohlen wurden. 5000 Bücher konnten bereits in verschiedenen Bibliotheken auf der ganzen Welt ausfindig gemacht werden. Das Projekt selbst ist der erste internationale Aufruf für die öffentliche Unterstützung in der Suche und Ausfindigmachung dieser verlorenen jüdischen Bücher . Die Plattform beherbergt eine Datenbank, eine interaktive Landkarte und eine Online Ausstellung. (https://libraryoflostbooks.com)
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Im Bereich Social Media können wir den bereits erwähnten TikTok Account von Lily Ebert empfehlen. Auch nach ihrem Tod ist dies ein einmaliges Reservoir von Erinnerungen und Geschichten aus der Zeit des Holocaust, verbunden mit unglaublich viel Witz und menschlicher Wärme.
Im Rahmen der „TikTok Shoah Commoration & Education Initiative“ sind in den letzten Jahren hunderte Videos von Mitarbeiter*innen und Freiwilligen an Gedenkstätten produziert worden, die vielfältige Aspekte der NS-Verfolgung, historische Orte und Objekte vorstellen. Besonders zu nennen ist hier der TikTok Account der Gedenkstätte Neuengamme. Auch die Gedenkstätte Mauthausen macht eine ausgezeichnete Arbeit auf TikTok und sucht dabei insbesondere den Dialog mit jungen Nutzer*innen und Besucher*innen.
Einige Gedenkstätten, wie die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz nutzen kurze Videos nicht nur für die Auseinandersetzung mit Geschichte, sondern klären mit diesem Medium auch über gegenwärtige Formen von Antisemitismus und Hass im Netzt auf. Besonders dem Account Keine Erinnerungskultur der Kreatorin Susanne Siegert gelingt es, geschichtsbezogenes digitales Erzählen mit gegenwartsorientierten Interventionen zu verbinden. Von uns im Rahmen des MEMORISE Projekts durchgeführte Befragungen junger Social Media Nutzer*innen haben gezeigt, dass es ihr besonders gut gelingt, Bezüge zu den Interessen und Lebenswelten junger Menschen herzustellen.
Nun kommt es aber auch darauf an auszuprobieren, inwieweit diese kurzen Videos von vertrauenswürdigen institutionellen und individuellen Kreatoren auch als digitales Bildungsmaterial z.B. im Unterricht eingesetzt werden kann.
YV:
Was können Pädagog*innen, die im Klassenraum arbeiten, von im digitalen Raum aktiven Multiplikator*innen für ihren eigenen Unterricht lernen?
Esther Rachow:
Ein wichtiger Trend im digitalen Zeitalter ist die Individualisierung von Inhalten und Vermittlungsmethoden. An dieser Stelle können Pädagog*innen, die digital aktiv sind, wegweisend sein. Ihre Angebote werden häufig auf der Grundlage von solidem Wissen über die Rezipient*innen entwickelt. Wichtig ist dabei, dass erfolgreiche Formate, die viel Aufmerksamkeit und Interaktion erfahren, Inhalte genau auf die einzelnen digitalen Formate zuschneiden und sie spezifisch dafür entwickeln. Ein nicht zu unterschätzender Schritt, dem ein ernsthafter Professionalisierungsprozess voraus geht.
Tobias Ebbrecht-Hartmamn:
Besonders auffällig ist, dass das Internet als sozialer Raum mit dem Thema Holocaust und NS-Verfolgung durch Mitglieder der einzelnen Erinnerungsgemeinschaften selbst bespielt wird. Beispielsweise sind auch Holocaust-Überlebende hier aktiv. Dabei handelt es sich um eine neue Form der Kommunikation mit Erfahrungswissen und Selbstdarstellung, die in einer Kontinuität mit Überlebenden-Gesprächen verstanden werden kann - die zwar ganz andere Merkmale aufweist, aber durchaus zur Sichtbarkeit von Überlebenden und ihren Stimmen im Erinnerungsdiskurs beiträgt.
Ein Beispiel dafür sind Accounts von Überlebenden auf TikTok, wo sie gemeinsam mit ihren Enkelkindern Video über ihre Geschichte, aber auch ihren Alltag machen. Die Auschwitzüberlebende Lily Ebert hat noch bis zu ihrem Tod gemeinsam mit ihrem Urenkel Dov auf TikTok mit Menschen kommuniziert.
Esther Rachow:
Für Lehrkräfte könnte das heißen, dass wir digitale Möglichkeiten nutzen können, um mit dem Erfahrungswissen von Überlebenden zu interagieren, auch wenn sie nicht in unserem Klassenraum präsent sind. Außerdem liegt es nahe, Unterrichtsangebote auf Wissensstand und Fähigkeiten der Lernenden hin zu überprüfen und diese Erkenntnisse dann auf digitale Methoden zu übertragen. Auch das Angebot, eigene Inhalte zu entwickeln und dann im Klassenverband und durch die Lehrkraft zu diskutieren, analysieren und überprüfen zu lassen, kann produktiv sein und gleichzeitig das digitale Bewusstsein stärken.
YV:
Wo stößt digitales Lernen und Lehren an seine Grenzen?
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Kurz gesagt stößt es überall dort an Grenzen, wo auch analoge Ansätze an Grenzen stoßen, nämlich wenn Lernen nicht individuell und explorativ verstanden wird, sondern als Vermittlung bestimmter Ansichten und „Lehren“, oder wenn es mehr um Effekte als um tatsächliche Erfahrungen mit Geschichte und ihre Relevanz für die Gegenwart der Lernenden geht. Insgesamt bieten sich viele digitale Medien vor allem dazu an, Zugänge zu schaffen und zum Weiterforschen anzuregen. Digitale Plattformen und Sammlungen können dann für dieses weitere forschende Lernen ein sinnvoller Ort sein.
Prinzipiell gibt es aber natürlich dort Grenzen digitalen Lernens, wo die Grundlage dafür fehlt: kein Netzempfang in Gedenkstätten, langsames Internet, fehlende digitale Ausstattung mit Tablets, Laptops und VR-Brillen an Schulen.
Esther Rachow:
Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aus den letzten 10 bis 15 Jahren zum Thema Lernen über den Holocaust und die NS-Verfolgung mit digitalen Mitteln lässt sich sagen, dass die historischen Orte der Verfolgung eine wichtige Rolle einnehmen. Die Verbindung zwischen der geographischen Verortung des Verbrechens und der computergestützten Visualisierung von nicht-mehr-vorhandener Architektur, Kontextinformationen, Zeug*innenbericht und dergleichen wird als besonders produktiv eingeschätzt. Hinzu kommt der Effekt, den die Eigenständigkeit dieser Methoden mit sich bringt, die eher ein geographisch und thematisch strukturiertes Narrativ anbieten, als beispielsweise eines, das chronologisch strukturiert ist. Dieses Vorgehen scheint zunächst den zeitgenössischen Lerngewohnheiten am nächsten zu kommen. Eine Schwierigkeit ist jedoch, dass die Inhalte, die für dieses Vorgehen nötig sind, häufig noch nicht ausreichend aufbereitet worden sind und die Umsetzung daher nur langsam stattfindet.
Darüber hinaus sind die Grenzen, denen wir als Holocaust-Educator im digitalen Zeitalter ausgesetzt sind, von der Zeit bestimmt. Ein großer Verlust besteht darin, dass wir immer weniger direkt mit Überlebenden in Kontakt treten können. Dieser Verlust kann mit digitalen Mitteln nicht unmittelbar ausgeglichen werden.
Hinzu kommen auch unsere eigenen Grenzen, die bestimmen, was wir uns vorstellen können und wo unsere ethischen Grenzen bei dem Thema liegen. Aktuelle Forschung hat grundsätzlich den Auftrag, die große Verantwortung, die das Thema Holocaust und NS-Verfolgung für uns als europäische Gesellschaften mit sich bringt, mit der neuesten und besten Technologie zusammen zu bringen und zu unterstützen - jedoch gelingt das nicht immer auf eine nutzer*innenfreundliche Weise.
YV:
Wie kann man sicherstellen, dass digitale Lerninhalte zum Holocaust historisch genau und respektvoll sind? Wie kann die Qualität und Wissenschaftlichkeit z.B. der Verwendung von historischen Quellen und Sekundärliteratur in digitalen Formaten wie Tik Tok und Instagram sichergestellt bzw. überprüft werden?
Esther Rachow:
Es gibt sehr große Unterschiede zwischen den verschiedenen digitalen Formaten, die aktuell verstärktverwendet werden. Es muss in jedem Fall zwischen Kampagnen in den sozialen Medien, Lernplattformen, Spielen, sogenannten Serious Games und im Internet zugänglichen Bildungsmaterialien unterschieden werden.
Letztere werden meist in enger Kooperation von Wissenschaftler*innen, Entwickler*innen und Vermittler*innen durchgeführt. Die beteiligten Wissenschaftler*innen sind dafür verantwortlich, dass Anwendungen wie digitale Plattformen, 3D Modelle oder Augmented Reality Apps auf historischen Quellen basieren und alle notwendigen Wissensbestände und Informationen in die Entwicklung einfließen. Entwickler*innen müssen diese Integrität der Quellen wahren und Transparenz sicherstellen, und Vermittler*innen sollten dabei helfen, erprobte Zugänge und Ansätze in die jeweilige technologische Form zu übersetzen.
Ein wichtiges Qualitätsmerkmal kann also bereits die Herausgeber*innenschaft liefern. Wenn eine Plattform oder ein Serious Game von einer etablierten Gedenkstätte initiiert, entwickelt und herausgegeben wurde, können wir davon ausgehen, dass hier ähnliche Qualitätskriterien eingehalten wurden, wie es auch bei der Forschungs- und Bildungsarbeit der jeweiligen Institution der Fall ist. In der Regel lässt sich die Urheberschaft, die wissenschaftliche Begleitung und die Quellenherkunft bei seriösen Projekten immer nachvollziehen und ist wie bei einer analogen Publikation auf der Seite selbst zu finden.
Multiplikator*innen sollten sicherlich einen Blick auf diese Informationen werfen, bevor sie ein bestimmtes digitales Material in Erwägung ziehen. Darüber hinaus könnte es auch hilfreich sein, sich einmal mit den Aktionsplänen oder aktuellen Richtlinien der Europäischen Union zu digitalem Lernen bekannt zu machen. Dort lassen sich konkrete länderspezifische Antworten auf fachliche Fragen aus dem Bericht der digitalen Bildung finden. Zusätzlich entwickeln Forschungsprojekte wie das MEMORISE_EU (https://memorise.sdu.dk) Projekt Richtlinien für den Umgang mit digitalen Methoden und Applikationen zum Thema Holocaust und Nazi-Verfolgung, in denen die Grundlagen der Holocaust Educationen konkret mit denen der digitalen Bildung verbunden werden. Ein Beispiel dafür sind diese ethischen Richtlinien für den Umgang mit dem visuellen Erbe der Nazi-Verfolgung: https://memorise.sdu.dk/guidelines/
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Im Hinblick auf die sozialen Medien stellt sich als Erstes die Frage, für welchem Zweck sie verwendet werden. Viele Gedenkstätten betreiben ihre eigenen Kanäle in den sozialen Medien und setzen auch hier in der Regel ihre bewährten Qualitätskriterien an. So gibt es beispielsweise Gedenkstätten, die großen Wert darauf legen, dass historisches Bildmaterial aus der Zeit des Holocaust nicht kontextlos oder als bloße Illustration verwendet wird. Was andere Nutzer*innen machen, lässt sich aber nur schwer beeinflussen. Darum ist es wichtig, dass Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen mit ihren Inhalten auf sozialen Medienplattformen auch „Best Practice“ Beispiele dafür geben, wie diese Themen angemessen in dieser Umgebung behandelt werden können.
Wenn Produkte der sozialen Medien in Bildungsangeboten mit einzelnen Zielgruppen an Gedenkstätten umgesetzt werden, passiert dies häufig auch vor dem Hintergrund eines konkreten Lernangebotes, eines Studientages, einer Führung oder eines Workshops. Ist dies der Fall, kann man auch davon ausgehen, dass die Qualität der Inhalte entsprechend gemanagt wurde. Bei Influencer*innen oder anderen gänzlich unabhängig produzierten Inhalten, können zwei Regeln befolgt werden: 1. Wenn die Quellen transparent und für die Rezipient*innen überprüfbar dargestellt sind, kann davon ausgegangen werden, dass das Format vertrauenswürdig ist. 2. Wenn transparent dargestellt wird, dass die Inhalte subjektiv und eventuell auf der Grundlage eigener Gedanken oder Überlegungen zu dem Thema verfasst wurden, bietet sich dieser Account eventuell für eine Diskussion oder Meta-Analyse zum Thema Gedenken und Erinnern an, aber nicht unbedingt zur Vermittlung konkreter historischer Fakten. Wenn Fakten behauptet und nicht belegt werden und für die Konsument*innen nicht nachvollziehbar sind, dann ist das Format vermutlich für die Bildungsarbeit eher schlecht geeignet.
Esther Rachow:
Im Allgemeinen kann es sehr produktiv sein, wenn sich die Pädagog*innen und die Lernenden gemeinsam das notwendige Wissen aneignen, um die einzelnen Formate zu bewerten.
YV:
Gibt es seitens der BetreiberInnen und für NutzerInnen dieser Plattformen Mechanismen, um auf ihnen geteilte Inhalte zu überprüfen?
Esther Rachow:
Auch hier gibt es große Unterschiede, Gedenkstätten und Museen verwenden häufig Quellen aus ihren eigenen Beständen, die insofern dann auch verifiziert sind. Wenn eine Plattform den Nutzer*innen die Möglichkeit gibt, selbständig mit den Inhalten zu interagieren oder eigene Inhalte beizusteuern, werden diese Funktionen in der Regel moderiert. Wenn dies nicht der Fall ist, sollte man diese Inhalte nicht unbedingt für den eigenen Unterricht verwenden. In der Tat zeigt sich, dass bei der Vermittlung der Geschichte des Holocaust und der NS-Verfolgung durch digitale Angebote weniger auf interaktive und partizipative Möglichkeiten zurückgegriffen wird, als bei anderen Themen. Dies lässt sich mit der Sensibilität des Themas und der potentiellen Überforderung durch verstörende Inhalte erklären und zeigt, dass es weiterhin große Angst vor Geschichtsverfälschung gibt.
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Die großen sozialen Medienplattformen haben ihre eigenen Moderationsmechanismen. Oft basieren diese auf automatisierter Moderation, d.h. potentiell problematische Inhalte, also das, was gegen die Community Guidelines der Plattform verstößt, wird automatisch herausgefiltert. Allerdings können diese KI-betriebenen Systeme viele Formen der Desinformation, die Verzerrung historischer Fakten oder antisemitische Kommunikation nicht immer effektiv erkennen. Hier sind die großen Plattformen wie TikTok oder Instagram in der Pflicht, ihre Guidelines und ihre Moderation an die Tatsache anzupassen, dass immer mehr vor allem junge Menschen solche Medien als Quellen für Informationen und auch als Orte für Bildung nutzen. In Bezug auf Inhalte über den Holocaust fügt TikTok zum Beispiel allen Videos zu diesem Thema einen Link zu einer Informationsseite hinzu, die vom World Jewish Congress und der UNESCO betreut wird.
YV:
Welches Ergebnis eurer Forschung hat euch am meisten überrascht?
Esther Rachow:
Mich persönlich hat am meisten überrascht, wie viel Wissen uns im Grunde fehlt. Es gibt sehr wenig Wirkungsforschung, und unsere Methoden müssen immer noch sehr stark auf die Anforderungen und Möglichkeiten des Lernens im digitalen Zeitalter angepasst werden. Beispielsweise sollte es ein Standard sein, dass digitale Angebote gemeinsam mit den Zielgruppen entwickelt werden. Eine wichtige Erkenntnis bei der Auseinandersetzung mit den Phänomenen des digitalen Zeitalters ist die Tatsache, dass unsere Schüler*innen uns häufig im Umgang mit digitalen Methoden und Applikationen ein paar Schritte voraus sind. Daraus erwächst die Forderung für ein radikales Umdenken bei der Entwicklung von Lernangeboten. Ganz im Sinne dieser Beobachtung bestätigt auch eine groß angelegte Studie aus dem Bereich der Bildungswissenschaften (https://visible-learning.org/hattie-ranking-influences-effect-sizes-lear...), dass „sichtbares Lehren“ ein wirksames Mittel für effektive Wissensaneignung darstellt. Das bedeute eine Lehre, bei der die Multiplikator*innen selbst auch lernen. Wenn wir miteinander und voneinander lernen, kann sich dies also positiv und produktiv auf die Lernergebnisse und die Wissensproduktion auswirken.
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Auch ich war und bin am meisten davon überrascht, dass wir viele digitale Entwicklungen und Ansätze auf Vermutungen über die digitalen Kompetenzen und Erfahrungen unserer Zielgruppen stützen. Unsere initiale Nutzer*innenbefragung im MEMORISE Projekt hat bestätigt, was mir schon bei einer anderen Nutzer*innen Studie in einem früheren Projekt aufgefallen war: dass insgesamt das Interesse an „konservativen“ digitalen Medien wie Websites oder Webapps überwiegt und gerade jüngere Nutzer*innen noch wenig Erfahrungen mit Technologien wie Virtual und Augmented Reality haben. Geschichtsbildung mit digitalen Medien geht also immer auch mit der Vermittlung von Digitalkompetenz einher. Bei vielen innovativen Projekten gibt es die anvisierten Nutzer*innen schlicht noch gar nicht, zumindest nicht im „klassischen“ Bildungsbereich.
Außerdem erstaunt mich immer wieder, dass innovative Projekte mit viel Fördergeldern tolle Prototypen entwickeln, ohne dass Überlegungen über die Implementierung und Verwendung dieser Anwendungen in Bildungskontexten in den Projekten mitgedacht werden. Hier sind auch Fördergeber in der Pflicht, stärker dahin zu wirken, dass eine nutzungs- und anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung im Bereich der digitalen Holocaust-Erinnerung vorangetrieben wird.
YV:
Was wird es für das Gedenken an den Holocaust bedeuten, wenn Gedenkstätten in Zukunft Virtual Reality einsetzen werden, um bei der Begehung eines ehemaligen Tatorts der Shoah zu versuchen, das dort Geschehene näherzubringen?
Esther Rachow:
Zunächst einmal bewirkt der Einsatz von digitalen Technologien wie Virtual Reality für die Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Holocaust und der NS-Verfolgung eine nie zuvor dagewesene Genauigkeit, die in den nächsten Jahrzehnten unser Wissen über den Holocaust erneuern wird. Hybride Formate, wie die oben erwähnten VR-Applikationen, die mit digitalen Rekonstruktionen arbeiten, haben ein sehr hohes Potential für die Wissensvermittlung über die NS-Geschichte. Durch ihre Verwendung an historischen Orten zeigen sie den Nutzer*innen zunächst einmal die geographische Dimension des historischen Geschehens. Diese physische Verortung vermittelt die historische Realität des Geschehenen auf eine sehr direkte Weise. Der Holocaust kann so mit einem Ort verbunden werden, der eventuell sogar in der Nähe des eigenen Wohnortes zu finden ist. Somit ist zum Beispiel "Bergen-Belsen" nicht mehr nur ein Schlüsselbegriff in einem Facebook-Post, sondern wird zu einer realen Bezugsgröße. Da wir gleichzeitig davon ausgehen müssen, dass die Bedeutung, die diese historischen Orte für frühere Generationen automatisch mit vermittelt haben, bei jüngeren Lernenden bereits nicht mehr in der gleichen Weise überliefert wird - können die von VR-Angeboten ausgehenden Rekonstruktionen, Erzählweisen und Imaginationsangebote für das Lernen an und mit Gedenkorten sehr produktiv sein.
Zu bedenken ist dabei, wie stark immersiv die verschiedenen Repräsentationsformen aussehen und ob sie den ethischen Anforderungen, die das Thema mit sich bringt, genügen. Einige Anwendungen verwenden bewusst sehr stark abstrahierte Darstellungsformen, um daran zu erinnern, dass es wichtig ist, die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust einzuhalten.
Insgesamt fehlt es uns momentan auch hier noch an stärker verdichteten Forschungsergebnissen, die uns noch mehr repräsentative Antworten über den Wissensgewinn durch die Nutzung von verschiedenen VR-Formaten Auskunft geben können. Daran arbeiten wir aktuell.
Tobias Ebbrecht-Hartmann:
Ich würde die Möglichkeiten und Folgen digitaler Formen der Erinnerung an den Holocaust nicht überschätzen, weder negativ noch positiv. Die historischen Orte werden auch in Zukunft für diese Auseinandersetzung eine prägende Rolle spielen. Sie können durch virtuelle Simulationen nicht ersetzt werden, vielleicht steigt aber das Interesse an ihnen dadurch sogar noch an. Ich würde digitale Anwendungen in erster Linie als Hilfsmittel sehen, Medien, die uns dabei helfen die Sichtbarkeit dieser Geschichte und ihre Zugänglichkeit noch weiter zu vergrößern. Dabei werden soziale Interaktionen weiterhin eine große Rolle spielen, denn Lernen über die Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit der NS-Verfolgung sind kollektive und kollaborative Prozesse. Da ist Virtual Reality noch nicht besonders weit und ermöglicht solche interpersonalen und kollektiven Lernprozesse bisher nur eingeschränkt. Lernplattformen und Augmented Reality Anwendungen, vor allem wenn sie interaktive und partizipative Elemente beinhalten und Nutzer*innen z.B. erlauben, ihre eigenen Erinnerungen oder von ihnen aufgespürte Quellen, Dokumente und Spuren zu speichern, können aber durchaus zu einer Intensivierung der Auseinandersetzung und des historischen Lernens beitragen.
Für uns bleibt der Mensch im Zentrum, sowohl im Hinblick auf die digital vermittelten Geschichten als auch im Hinblick auf die menschliche Agency in der computergestützten Interaktion. Dabei lässt sich viel von der Expertise und den Erfahrungen an Gedenkstätten und im schulischen Kontext lernen. Methoden der Vermittlung, gerade im Hinblick auf die Arbeit mit Quellen, werden vielleicht sogar noch wichtiger im digitalen Kontext. Und die Förderung des Bewusstseins für die eigenen Handlungen und Entscheidungen wird wahrscheinlich noch zentraler, je mehr wir Teil von Netzwerken mit menschlichen und maschinellen Anteilen werden.
Esther Rachow
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Horizon EU Forschungsprojekt MEMORISE und promoviert zu neuen Paradigmen der Holocaust Education im digitalen Zeitalter am European Forum der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie hat einen MA in Public History der Freien Universität Berlin und langjährige Erfahrung in der Entwicklung von pädagogischen Materialien und Lehrangeboten im Bereich der Holocaust Education und der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit, zuletzt an der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem. Im MEMORISE Projekt befasst sie sich hauptsächlich mit der Evaluation und Entwicklung von digitalen Vermittlungsmethoden und mit der Definition von pädagogischen und ethischen Richtlinien für den Umgang mit dem Holocaust und der NS-Geschichte mit neuen Technologien.
Tobias Ebbrecht-Hartmann
ist Professor für Visual Culture, Medienwissenschaft und German Studies am Department for Communication and Journalism und am DAAD Centre for German Studies der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er hat drei Bücher und zahlreiche Artikel zu Themen der filmischen und digitalen Erinnerung an den Holocaust und andere Gewaltgeschichten veröffentlicht. Im MEMORISE Projekt leitet er den Forschungsschwerpunkt zur Evaluation und Entwicklung von ethischen Prinzipien, pädagogischen Richtlinien und Konzepten zur Arbeit mit sozialen Medien. Er ist außerdem Mit-Initiator der „TikTok Shoah Commemoration & Education Initiative“ und hat zusammen mit Tom Divon eine Studie über die Erinnerung an die Shoah auf TikTok veröffentlicht.
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