Liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe des Newsletters!
In wenigen Tagen jährt sich der Beginn des als „Unternehmen Barbarossa“ bezeichneten deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zum 80. Mal. Mit dem als Vernichtungskrieg angelegten Feldzug, der von deutscher Seite mit der Absicht begonnen wurde, ihn noch vor Wintereinbruch zu entscheiden, wurde auch die Schwelle vom Massenmord an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma hin zum Genozid überschritten.
Nur wenige Tage nach dem Überfall begann das systematische Morden, das schließlich einige Monate später in der Etablierung von eigens zur Vernichtung von Juden und Jüdinnen errichteten Lagern, den Mordlagern der sog. „Aktion Reinhard“, mündete. Überrumpelt von der Geschwindigkeit der eingeleiteten Maßnahmen war der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Mordmaschinerie praktisch schutz- und hilflos ausgeliefert. 1.5 Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder fielen den nationalsozialistischen Mordaktionen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zum Opfer – in Wäldern, Tälern und verlassenen Gebäuden, meist nahe ihrer Wohnorte erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die (nicht-jüdische) Bevölkerung wurde aufgrund der Öffentlichkeit der Aktionen Zeuge der Verbrechen, vielerorts beteiligen sich lokale Kollaborateure – mal mehr, mal weniger aktiv – an den Taten.
Während in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Forschungen und Publikationen die Abläufe des Überfalls selbst sowie die ihn begleitenden Mordaktionen und die involvierten Tätergruppen umfassend analysiert und beschrieben haben, fanden jüdische Narrative und Darstellungen dabei selten und meist nur am Rande Eingang in die Betrachtungen. Wir in der Sektion für die deutschsprachigen Länder möchten den Jahrestag deshalb gerne nutzen, um eine jüdische Perspektive auf das „Unternehmen Barbarossa“ zu eröffnen. Wir möchten zeigen, wie jahrhundertealte, pulsierende jüdische Gemeinden innerhalb weniger Tage vollständig zerstört wurden, und wie die wenigen Überlebenden über Jahrzehnte hinweg verzweifelt versuchten, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.
Am 21. Juni wird Orit Margaliot in einem Vortrag die ideologischen Aspekte des Feldzugs herausarbeiten und sich dabei dem Schicksal der sowjetisch-jüdischen Bevölkerung widmen. Der Vortrag bildet den Auftakt zu einem mehrteiligen Vertiefungsseminar, das der Desk für die deutschsprachigen Länder in den kommenden Monaten für seine Graduierten sowie für interessierte Lehrkräfte und Multiplikator*innen anbieten wird. Weitere Infos dazu finden sich unter der Rubrik Neues vom German Desk. Auch die zweite Veranstaltung der Reihe wird sich einem Aspekt des Barbarossa-Feldzuges annähern und dabei, unter anderem, eine jüdische Perspektive auf das Geschehen ermöglichen: Am 28. Juni wird Julian Tsapir unser im letzten Jahr erschienenes Bildungsmaterial präsentieren, das sich mit dem Massaker an der jüdischen Bevölkerung am 27. Juni 1941 befasst, und in dem einige der wenigen überlebenden Juden Bialystoks zu Wort kommen.
Der Fall Bialystok und das in Kooperation mit unserer Partnerinstitution Villa ten Hompel entstandene Material wirft auch ein Schlaglicht auf einen weiteren, bisher weitgehend unbeachteten Aspekt des Barbarossa-Feldzugs: Die aktive Beteiligung deutscher Ordnungspolizisten am Genozid sowie deren praktisch bruchlose Wiedereingliederung in die Gesellschaft und die Reihen der bundesdeutschen Polizei nach 1945.
Diesem Thema widmet sich auch Thomas Köhler (Villa ten Hompel) in seinem Gastbeitrag in diesem Newsletter. In seinem Artikel skizziert er die innerdeutschen militärischen Machtkonstellationen nach dem deutschen Angriff auf Polen und zeigt, dass die Polizei von Beginn an und insbesondere ab dem Überfall auf die Sowjetunion eine Schlüsselfunktion bei der Umsetzung des Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden einnahm.
Wie dieses Thema in der Ausbildung heutiger Polizist*innen bearbeitet wird, beschreibt außerdem Peter Römer, ebenfalls von der Villa ten Hompel, der in seinem Beitrag einen Einblick in die pädagogische Arbeit des Hauses mit Polizeigruppen gibt. Dabei wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der (NS-) Polizeigeschichte für viele Polizeianwärter*innen zwar eine überaus verunsichernde und irritierende – und entsprechend konträr zu den eigentlichen Vermittlungszielen in der Polizeiausbildung liegende – Erfahrung darstellt, diese jedoch von Vielen trotzdem als überaus bereicherndes, selbstreflexives Moment erlebt wird.
Dankenswerterweise hat außerdem Bärbel Hornberger - Lehrerin an der Hedwig-Dohm-Schule Stuttgart – zwei Rezensionen zu der Ausgabe beigesteuert. Sie stellt zum einen das 2021 erschienene Buch „ Diagnose: Judenhass - Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit“ vor, einer Bestandsaufnahme antisemitischer Übergriffe und Einstellungen in Deutschland nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019. Zum anderen befasst sie sich in einer weiteren Rezension mit dem 2020 erschienenen Buch „Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte“ von Jakob Hessing, das sich auf einen Streifzug durch die Geschichte jiddischen Humors begibt und dabei das ironische Potential der jiddischen Sprache, auch und gerade im Angesicht von Verfolgung und Vernichtung, sichtbar macht.
Schließlich steht am Ende des Newsletters ein Überblick über Neuigkeiten aus dem Desk für die deutschsprachigen Länder, über neu entwickelte Materialien und anstehende Termine.
Das Team des German Desk wünscht allen Leser*innen eine erholsame Sommerpause. Wir freuen uns, auch im kommenden Schuljahr mit vielen von euch und Ihnen in Kontakt zu bleiben – sowohl online als auch offline.
Wie immer freuen wir uns über Kommentare und Feedback. (anne.lepper@yadvashem.org.il)
Ihre Anne Lepper
Repräsentantin der Sektion Deutschsprachige Länder
Overseas Education and Training Department
The International School for Holocaust Studies, Yad Vashem
„Kontaminierte Landschaften“ : Die Ordnungspolizei als Holocaust-Akteur nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941
Holocaust-Pädagogik und Polizei
Neues vom German Desk
Jana Vilensky unterstüzt seit Februar 2021 das deutschsprachige Team an der International School for Holocaust Studies. Sie hat an der Bar Ilan Universität in Ramat Gan Israel-Studien und Jüdische Geschichte studiert. Ihren Magisterabschluss in Sinologie und Judaistik machte sie an der Freien Universität in Berlin. Jana lehrte 7 Jahre lang als Hebräisch- und Religionslehrerin an der jüdischen Grundschule in Köln und entwickelte eine Unterrichtsreihe zum Thema Shoah für die älteren...