Daniel Poensgen, Bundesverband RIAS
Der Sozialwissenschaftler Daniel Poensgen promoviert zum Verhältnis von politischer Kultur des Staates und Antisemitismus und arbeitet als wissenschaftlicher Referent des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).
Bei der RIAS handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle: Betroffene und Zeug_innen können ihre Erlebnisse auf der Webseite, aber auch telefonisch, über Social Media oder per E-Mail melden. RIAS dokumentiert die Vorfälle aus Perspektive der Betroffenen und vermittelt bei Bedarf weitere Beratung. Nachdem das Projekt mit RIAS Berlin startete, kooperieren derzeit im Rahmen des Bundesverbandes RIAS Meldestellen aus mehreren Bundesländern miteinander.
Als im Frühjahr 2020 die Zahl der bestätigten Covid-19 Infizierungen in die Höhe schoss und die ersten staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen wurden, war das für viele Menschen in Deutschland mit Ängsten verbunden – Ängste um die eigene Gesundheit, um das Wohlergehen von Freund*innen und Familie, häufig auch um die wirtschaftliche Existenz. Für Jüdinnen und Juden kam eine weitere Sorge hinzu: Würde die Pandemie zu einem Anstieg von Antisemitismus führen?
Bereits im März haben verschiedene regionale Meldestellen für antisemitische Vorfälle, die unter dem Dach des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) miteinander kooperieren, Jüdinnen und Juden gefragt, wie sie die gesellschaftliche Situation rund um die Covid-19 Pandemie wahrnehmen. Dabei berichtete beispielsweise Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, gegenüber der in Düsseldorf angesiedelten Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus SABRA von konkreten antisemitischen Mythen, mit denen sie konfrontiert war:
„…[E]s gibt doch tatsächlich die Aussage, dass Juden den Coronavirus in die Welt gebracht haben, um davon wirtschaftlich zu profitieren! Und ich musste mir schon zweimal anhören, dass angeblich Israelis am Flughafen in China oder in den Lagern der Hersteller von anderen Ländern bestellte und dringend benötigte Mundschutzmasken etc. einfach nach Israel ‚umleiten‘, also stehlen.“
Auch für die Studentin Alexandra Poljak, Vorstandsmitglied im Verband jüdischer Studenten Bayern (VSJB) sei es bereits im Frühjahr 2020 nicht überraschend gewesen, dass es im Rahmen der Pandemie zu einer Zunahme antisemitischer Äußerungen kam, wie sie in einem Gespräch mit RIAS Bayern erklärte:
„Ich finde das gruselig, gleichzeitig wundert es mich nicht. Sobald etwas auftaucht, was den Menschen Angst macht, weil es unklare Folgen hat, suchen sie nach Erklärungen und Schuldigen. Unabhängig davon, ob es diese gibt oder nicht. Als jüdische Person wusste ich bereits von Anfang an, dass Corona antisemitische Verschwörungsmythen mit sich bringen wird.“
Die hier beschriebenen Sorgen waren nicht unbegründet. Ein Blick in die Geschichte von Antijudaismus und Antisemitismus zeigt, dass Jüdinnen und Juden häufig für grassierende Seuchen und ungeklärte Todesfälle innerhalb der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht wurden. Und tatsächlich wurden RIAS schon bald konkrete Vorfälle gemeldet, in denen es zu antisemitischen Aussagen mit Bezug zur Pandemie gekommen war. So ging ein Mann, der eine Kette mit einem Davidsternanhänger sowie einen Jutebeutel mit dem gleichen Motiv trug, im April in Berlin in einem Supermarkt einkaufen. Er bemerkte einen Mann, der ihn eindringlich musterte und dann zu seiner Begleitung sagte: „Die waren das mit dem Virus.“ In einem ähnlichen Fall, ebenso aus Berlin, äußerte die Betroffene gegenüber ihrer Begleitung vor einem Antiquitätengeschäft ihr Bedauern darüber, dass dieses aufgrund der Pandemie geschlossen war. Dies hörte ein vorbeilaufender Mann und sagte: „Der Virus ist doch sowieso nur eine Erfindung der Juden und eigentlich könnte das Geschäft auch öffnen.“ Die Betroffene fragte daraufhin, wie er darauf komme und dass das so nicht stimmen würde. Die Situation eskalierte, bis schließlich der Mann sie als „dreckige Judensau“ und „dreckige Ausländerin“ beschimpfte.
Vom Internet auf die Straße: Antisemitische Dynamiken
Das Ausmaß antisemitischer Vorfälle seit März 2020 war zum einen davon geprägt, dass von Beginn der Pandemie an antisemitisch konnotierte Gerüchte bezüglich der Entstehung des Virus, aber auch bezüglich der staatlichen Maßnahmen zu dessen Eindämmung kursierten. Die mit der Ausbreitung des Virus verbundene gesellschaftliche Krisensituation motivierte Menschen offenbar, sich in der Öffentlichkeit offen antisemitisch zu äußern. Gleichzeitig sorgten staatliche Maßnahmen dafür, dass viele potentielle Möglichkeiten für antisemitische Vorfälle zwischenzeitlich nicht mehr gegeben waren: Weniger Menschen benutzten Züge, Busse oder U-Bahnen, Demonstrationen wurden abgesagt, es gab insgesamt weniger soziale Interaktionen.
Diese zum Teil gegenläufigen Auswirkungen auf die Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Vorfälle schlugen sich in unterschiedlichen Formen antisemitischer Vorfälle nieder. Bereits mit Beginn der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Mitte März beobachtete RIAS antisemitische Äußerungen mit Bezug zu Covid-19 vor allem online, beispielsweise auf Social Media Plattformen. Auch Verschwörungsmythen ohne explizit antisemitische Inhalte, die beispielsweise davon ausgingen, Bill Gates stünde hinter der Pandemie, wurden von Vielen geteilt. Als sich in Folge der staatlichen Maßnahmen auch jüdisches Leben in Deutschland mehr und mehr in den digitalen Raum verlagerte, war dies mit massiven Formen verletzenden Verhaltens verbunden, die sich direkt gegen Jüdinnen und Juden richteten. So dokumentierte der Bundesverband RIAS in den ersten vier Wochen der Kontaktbeschränkungen mindestens sieben Vorfälle, bei denen Videokonferenzen von jüdischen Gemeinden und Institutionen oder Gedenkveranstaltungen gezielt antisemitisch gestört wurden – umgangssprachlich werden diese Störungen in Anlehnung an eine populäre Videokonferenzplattform „Zoombombing“ genannt. So störten beispielsweise am 20. April acht bis zehn Personen ein Abendgebet der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, das auf einer Videokonferenzplattform abgehalten wurde. Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen, als sich die Störenden – einige mit dem Usernamen „Hitler“ – in die Konferenz einwählten und auf Englisch fragten, ob es sich bei den Betroffenen um Juden handle. Der Rabbiner blieb ruhig und beendete den Stream, bevor weitere antisemitische Parolen gerufen werden konnten. Er zeigte die Störung bei der Polizei an. Ähnliche Vorfälle wurden dem Bundesverband RIAS und regionalen Meldestellen aus Düsseldorf, Frankfurt am Main und Berlin bekannt. Doch antisemitische Deutungen der Pandemie manifestierten sich nicht nur online, also zum Beispiel in Chatgruppen und in Sozialen Medien, sondern auch auf einer Vielzahl von Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet. Zwischenzeitlich ließ der Zuspruch zu diesen Demonstrationen nach, um im August in Form einzelner Großereignisse mit tausenden Teilnehmer_innen und einer Vielzahl antisemitischer Äußerungen wieder eine neue Dynamik zu entfalten. RIAS erfasste jedoch seit März auch immer wieder antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Pandemie, die sich auch jenseits des Protestgeschehens ereigneten.
Schoa-Relativierungen und Verschwörungsmythen: Antisemitismus auf Corona-Protesten
Allein im Zeitraum von 17. März bis 17. Juni 2020 wurden dem Bundesverband RIAS 123 Kundgebungen und Demonstrationen mit Bezug zur Covid-19-Pandemie bekannt, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen kam. In 91 Fällen waren auf diesen Versammlungen Stereotype des Post-Schoa-Antisemitismus, also antisemitische Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und die Schoa, in 28 Fällen Stereotype des modernen Antisemitismus, also beispielsweise antisemitische Verschwörungsmythen, verwendet worden. Andere Formen des Antisemitismus kamen eher vereinzelt vor, so dass sich grob zwei dominierende Erscheinungsformen des Antisemitismus identifizieren ließen: Erstens waren fast durchgehend in Reden, auf Plakaten und auf T-Shirts schoarelativierende Vergleiche les- und hörbar. So war zum Beispiel auf T-Shirts ein sogenannter „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“ zu sehen. Bei solchen und ähnlichen Äußerungen handelt es sich um eine antisemitische Selbstviktimisierung: Mit der Selbstinszenierung als Opfer werden die Schoa und der Nationalsozialismus verharmlost, auch die Rolle von Täter_innen und Opfern wird umgekehrt – schließlich handelt es sich bei den meisten Demonstrierenden als Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft um Kinder, Enkel_innen und Urenkel_innen von Täter_innen und Zuschauer_innen im Nationalsozialismus. Diese Relativierung ist nicht nur für Überlebende und ihre Nachkommen unerträglich und verletzend, sie geht auch mit Schuldabwehr und Aggressionen gegen Jüdinnen und Juden einher. Zweitens wurden auf vielen Demonstrationen antisemitische Verschwörungsmythen in Redebeiträgen, auf Kleidungsstücken und Plakaten verbreitet oder auf diese Mythen angespielt. Im Zuge von manichäischen Gut-Böse-Schemata vermuteten Demonstrierende bei vielen Versammlungen gesellschaftliche Prozesse und Krisen als Resultat intendierten Verhaltens kleiner Gruppen und Einzelpersonen. So wurden als Schuldige für die Covid-19-Pandemie unter anderem „Zionisten“, „Rothschild“ oder auch „Soros“ benannt. Noch weiter verbreitet waren jedoch Verschwörungsmythen, die ohne explizite Nennung von Jüdinnen und Juden als Verursacher_innen von Pandemie und Krise auskamen und sich stattdessen beispielsweise gegen Bill Gates, die „Neue Weltordnung (NWO)“ oder „Eliten“ richteten. Derartige, nicht explizit antisemitische Verschwörungsmythen werden von RIAS nicht als antisemitische Vorfälle erfasst.
Dabei fällt auf, dass die Zahl der Versammlungen mit antisemitischen Äußerungen ab Anfang Mai stark stieg und sich auf das ganze Bundesgebiet dezentral verteilte – ab Ende Mai nahm die Zahl der Demonstrationen jedoch wieder deutlich ab. Insofern war die große Zahl von mehreren zehntausend Teilnehmer_innen an einer Reihe von rechtsoffenen Versammlungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie in Berlin im August durchaus überraschend, auch wenn sich bereits im Vorfeld die immensen Mobilisierungsbemühungen der Organisator_innen und unterschiedlicher Akteur_innen der rechtsextremen und rechtspopulistischen Szene abzeichneten. So beteiligten sich an den Demonstrationen Anhänger_innen der AfD, der rechtsextremen Parteien NPD und „Dritter Weg“ sowie Personen aus der Reichsbürger_innen- und Hooligan-Szene. Und auch bei diesem sogenannten „Tag der Freiheit“ Anfang August inszenierten sich Demonstrierende als Opfer, indem sie sich „Judensterne“ mit der Aufschrift „ungeimpft“ anhefteten. Hierbei blieb es jedoch nicht: Ein Teilnehmer trug beispielsweise ein T-Shirt mit der Aufschrift „FCK ZION“, auf der Rückseite des Shirts wurde aufgefordert, die „Protokolle der Weisen von Zion“ zu lesen. Bei den „Protokollen“ handelt es sich um eine antisemitische Fälschung aus dem Jahr 1903, die eine jüdische Weltverschwörung beweisen soll und die bis heute in mehreren Ländern rezipiert wird. Im Rahmen der Demonstrationen am letzten Augustwochenende wurde eine Person, die eine Kippa trug, bedrängt und antisemitisch bedroht: Teilnehmer_innen der Versammlung riefen ihr unter anderem zu: „Ihr denkt, ihr seid die Herrenrasse“, „Ihr macht den Genozid im Mittleren Osten“ und „Setz‘ dir keine Kappe auf und mach hier keinen auf bösen Juden, wenn du angegriffen bist, was ist das für eine ekelige Art.“ Teilnehmer_innen spekulierten offen darüber, dass die Person mit der Kippa lediglich als Teil einer Inszenierung die Demonstration besuchte.
Antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Corona-Pandemie
Der Bundesverband RIAS sowie die mit ihm kooperierenden Meldestellen haben zwischen Mitte März und Mitte Juni – also in den ersten drei Monaten nach Beginn der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – insgesamt 191 antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Pandemie erfasst. Bei einem Großteil dieser Vorfälle handelte es sich um die bereits beschriebenen Demonstrationen, während beispielsweise antisemitische Beleidigungen oder Bedrohungen von Angesicht zu Angesicht auch aufgrund des eingeschränkten öffentlichen Lebens im Vergleich zum Vorjahreszeitraum deutlich zurückgingen. Auffallend ist dennoch, dass es mit der Zunahme des Protestgeschehens gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in der ersten Maihälfte auch zu einer Zunahme von antisemitischen Vorfällen jenseits von Demonstrationen kam: Die These liegt nahe, dass Personen durch den vermeintlichen Erfolg der Demonstrationen dazu motiviert wurden, sich auch andernorts antisemitisch zu äußern. RIAS Bayern berichtete von einem Vorfall, bei dem ein Mann wegen einer Trainingsjacke eines jüdischen Sportvereins als Jude erkannt wurde, als er mit seinem Hund durch den Englischen Garten in München spazierte. Ein Radfahrer blieb unvermittelt neben dem Betroffenen stehen und rief ihm zu: „Ihr jüdischen Schweine seid schuld! Ihr Juden habt das mit dem Corona gemacht! Du jüdischer Dreckskerl!“ Als der Betroffene versuchte den Mann zu konfrontieren, fuhr er davon. Auf seinem T-Shirt war die Aufschrift „Coronaleugner“ und „Impfgegner“ zu lesen.
Mit der Abnahme der Teilnehmer_innenzahlen und der Zahl der Versammlungen in der zweiten Maihälfte ging jedoch auch die Zahl der dem Bundesverband RIAS und den regionalen Meldestellen bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle mit Bezug zur Pandemie deutlich zurück. Ob es nach den Großdemonstrationen im August auch jenseits der Versammlungen wieder zu einem Anstieg der antisemitischen Vorfälle mit Bezug zur Pandemie kam, kann derzeit noch nicht gesagt werden.
Fazit: Antisemitische Dynamiken während der Covid-19 Pandemie?
Die Beobachtungen des Bundesverbandes RIAS und der regionalen Meldestellen, die bei ihm organisiert sind, zeigen, dass es seit Beginn der Pandemie durchaus zu einem Wandel antisemitischer Erscheinungsformen kam. Zwar ist derzeit nicht einfach von einem Anstieg antisemitischer Vorfälle im Frühjahr und Sommer 2020 auszugehen – dazu schränkten die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auch die Möglichkeiten für Viele, sich in der Öffentlichkeit antisemitisch zu äußern, zu stark ein. Dennoch konnte RIAS eine Vielzahl von Protestereignissen beobachten, bei denen sich immer wieder antisemitisch geäußert wurde. Doch es blieb nicht bei Antisemitismus auf Demonstrationen und auf Social Media Plattformen: Jüdinnen und Juden, sofern sie als solche erkannt wurden, waren auch in alltäglichen Situationen beim Einkaufen oder beim Spazierengehen mit antisemitischen Bedrohungen und verletzendem Verhalten konfrontiert. Antisemitismus ist für sie auch in Zeiten der Pandemie eine alltagsprägende Erfahrung.