Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
Tobias Ebbrecht-Hartmann unterrichtet an der Hebräischen Universität in Jerusalem Filmgeschichte, deutsche Kulturgeschichte und Erinnerungskulturgeschichte. Er publiziert zu filmischer und digitaler Erinnerung an den Holocaust sowie den Umgang mit historischem Filmmaterial. Er ist Autor von „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis: Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld, 2011) und Mitglied im Konsortium des internationalen Forschungsprojektes „Visual History of the Holocaust – Rethinking Curation in the Digital Age“.
Als sich die Nachrichten über die steigende Zahl von an COVID-19 Erkrankten im Frühjahr dieses Jahres verbreiteten, sahen sich auch Gedenkstätten und Museen gezwungen, auf die unvorhergesehene Situation zu reagieren. Mitte März 2020 mussten die historischen Orte der NS-Verbrechen ihre Tore für Besucher*innen schließen. Gedenkstätten wie Dachau, Bergen- Belsen, Neuengamme, Sachsenhausen oder Mauthausen waren für mehrere Monate nur eingeschränkt zugänglich. Auch in Israel waren Gedenkorte wie Yad Vashem von den politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus betroffen. Am 15. März schloss man auch in Jerusalem Museum und Außengelände.
Die überraschenden Maßnahmen trafen die Gedenkstätten zu einer Zeit, in der die Planungen für öffentliche Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden und an die Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland bereits weit fortgeschritten waren. 75 Jahre nach Kriegsende war dies vielleicht eine der letzten Gelegenheiten, gemeinsam mit den Überlebenden der NS-Verbrechen zu gedenken und ihren Berichten zuzuhören. In Reaktion auf die Pandemie mussten viele Gedenkstätten also nach alternativen Wegen suchen, um in Zeiten des social distancing ein öffentliches und würdevolles Gedenken zu ermöglichen, während gleichzeitig die ursprünglich an den historischen Orten geplanten Gedenkfeiern auf das kommende Jahr verschoben wurden. In einem nächsten Schritt suchten insbesondere die Kommunikationsabteilungen nach Wegen, um die Orte zumindest virtuell – also online – für Besucher*innen zugänglich zu machen. Und schließlich erforderte die sich rasch verändernde Bildungslandschaft, der schnelle Übergang zu distant learning und remote teaching, neue Wege der Vermittlung.
Digitalisierung war dabei für die Museen und Gedenkstätten kein Neuland. Im Gegenteil. Seit spätestens Mitte der 1990er Jahre engagieren sich viele mit der Erinnerung an den Holocaust betraute Einrichtungen intensiv im Bereich der Digitalisierung. Dies betraf allerdings zunächst vor allem die Archivierung und Bewahrung von historischen Quellen. Dazu zählte die systematische Digitalisierung, Katalogisierung und Zugänglichmachung von Schrift- und Bildbeständen in den Sammlungen von Gedenkstätten, sowie die Digitalisierung bzw. digitale Produktion von Interviews mit Überlebenden, die in den vergangenen Jahren in einer Vielzahl von Online-Archiven zugänglich gemacht wurden.
Aus diesem Engagement entstanden in den vergangenen zehn Jahren wiederum innovative technologische Projekte, die mit den neuen Möglichkeiten virtueller Rekonstruktion arbeiten. Zu nennen sind hier insbesondere das New Dimensions in Testimony Projekt der USC Shoah Foundation, für das überlebende Zeugen mit mehreren Kameras so aufgenommen wurden, dass ihre Antworten später für die interaktive Simulation eines Überlebendengespräches verwendet werden können, sowie die virtuelle Rekonstruktion der Architektur des ehemaligen Lagergeländes in Bergen-Belsen für eine mobile Anwendung vor Ort. Beide Projekte waren mit zahlreichen Fragen und Herausforderungen konfrontiert. So sahen Kritiker*innen in den von der Shoah Foundation produzierten sogenannten „Hologrammen“ von Überlebenden geisterhafte Erscheinungen, die eine Präsenz der Zeug*innen auch dann noch simulieren sollten, wenn diese längst nicht mehr in der Lage sein würden, ihr individuelles Zeugnis abzulegen. Die Zeug*innen würden damit, so die Sorge, zu Avataren und die Erinnerung an die Shoah zum Computerspiel. In der Gedenkstätte Bergen-Belsen entschied man sich daher auch bewusst auf die Rekonstruktion des historischen Lagers zu verzichten und stattdessen eine abstraktere Darstellungsweise zu wählen, in der die Lagertopographie lediglich durch Umrisse erkennbar ist, und virtuell in die gegenwärtige Gedenklandschaft hineinprojiziert wird.
Angesichts der durch die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 bedingten Schließungen von Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen, standen solche digitalen Großprojekte allerdings ebenfalls vor dem Problem, dass der Zugang unter Bedingungen der Pandemie nur noch eingeschränkt möglich war. Wie die Gedenkstätten selbst sind auch solche auf VR (Virtual Reality) und AR (Augmented Reality, also erweiterte Wirklichkeit) basierende Projekte ortsgebunden und können somit nur schwer für die Nutzung aus der Entfernung eingesetzt werden.
Neben der Dokumentation und Bewahrung von Zeugnissen verdeutlichen solche Projekte jedoch den Wandel hin zum Einsatz von digitalen Technologien zur Vermittlung, und damit eine Tendenz zu stärkerer Interaktion. Entsprechend hatten viele Gedenkstätten und Museen auch bereits vor Ausbruch der Pandemie ein vielfältiges Angebot von digitalen Formaten entwickelt, die größtenteils auch online zugänglich waren. Neben mehreren Online-Datenbanken bietet Yad Vashem beispielsweise schon lange eine Vielzahl von Online-Ausstellungen an, die sich verschiedenen Themen widmen. Daneben ermöglichen Video-Vorträge, die über den eigenen YouTube-Kanal sowie die Website abrufbar sind, die Vermittlung von Hintergrundinformationen zu historischen Ereignissen, aber auch über methodische Zugänge.
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet bereits seit längerem virtuelle Besuche von nur schwer zugänglichen Bereichen des historischen Lagergeländes an. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ermöglicht Besucher*innen einen ersten Eindruck vom historischen Ort durch die Nutzung einer 360-Grad-Animation des Gedenkstättengeländes. Das Anne Frank Haus in Amsterdam hat das ehemalige Versteck der Familie Frank durch die Online-Animation The Secret Annex zugänglich gemacht und bietet dazu auch eine VR-Version an. Digitale Formate boten also bereits in der Vergangenheit die Möglichkeit, Zugang zu den historischen Orten und dem Thema aus der Entfernung zu schaffen, und wurden entsprechend zur Vorbereitung, aber auch zur ortsungebundenen Vermittlung eingesetzt.
Ein Bereich digitaler Medienkultur wurde allerdings bis zum Ausbruch der COVID-19 Pandemie lediglich unter Vorbehalt für die Vermittlung genutzt. Zwar betreibt die Mehrzahl der Gedenkstätten und Museen seit spätestens Mitte der 2010er Jahre eigene Social-Media-Kanäle, allerdings wurden diese fast ausschließlich als Foren für die Aus- und Vorstellung der historischen Sammlungen sowie die Erinnerung an historische Ereignisse genutzt. So posteten die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Yad Vashem und das US Holocaust Memorial Museum (USHMM) auf Facebook und Instagram bisher vor allem historische Fotografien, die sie durch beigefügte Kommentare kontextualisieren und mit Hilfe von Hashtags auf historische oder aktuelle Ereignisse bzw. bestimmte Trends in den sozialen Netzwerken beziehen. Die Hashtags #OnThisDay oder #OTD bieten beispielsweise die Möglichkeit, auf Ereignisse in der Vergangenheit aufmerksam zu machen und diese in die aktuellen Newsfeeds der Nutzer*innen zu integrieren. Für solche Formen der Aktualisierung bzw. Einbettung des Vergangenen in die gegenwärtige Nutzung von Sozialen Medien, bietet sich insbesondere der Kurznachrichtendienst Twitter an.
Das interaktive und partizipative Potential der Portale wurde allerdings nur in Ansätzen genutzt. Vorsichtig waren viele Gedenkstätten und Museen insbesondere aus Sorge vor Missbrauch, Relativierung oder gar Leugnung des Holocaust. Dabei hatten Besucher*innen von Gedenkstätten soziale Netzwerke längst als Medien zur virtuellen Erweiterung persönlicher Besuche entdeckt. Seit Breanna Mitchell am 20. Juni 2014 ihr „Selfie in the Auschwitz Concentration Camp“ auf Twitter postete, ist das Thema „Selfies in Gedenkstätten“ ein in regelmäßigen Abständen wiederkehrender Gegenstand medialer Empörung. Der deutsch-israelische Medienkünstler Shahak Shapira kritisierte diese Praxis in seinem Projekt YOLOCAUST am Beispiel von Selfie-Aufnahmen am Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas in Berlin. Dazu blendete er die Selbstporträts von Besucher*innen in historische Aufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern. Zuletzt sorgte ein Trend auf der aus China stammenden und aufgrund zahlreicher Zensurfälle international in die Kritik geratenen Plattform TikTok für Aufregung. Auf dem vor allem von jugendlichen Nutzer*innen verwendeten Portal kam es zu einer sogenannten „Holocaust Challenge“, in der mehrere Kurzvideos hochgeladen wurden, die aus einer subjektiven Point-of-View (POV) Perspektive die Performance junger Creators zeigte wie sie die Schicksale fiktionaler Opfer des Holocaust nachspielten. Was von vielen als Verunglimpfung und Relativierung gedeutet wurde, verdeutlichte jedoch auch das von den Nutzer*innen selbst ausgehende Interesse, die Erinnerung an den Holocaust zum Teil ihres Alltags in den sozialen Medien zu machen, und diese mit den ästhetischen und narrativen Mitteln dieser Netzwerke, also beispielsweise dem an Video-Zeugnisse erinnernden POV, anderen Nutzer*innen zu vermitteln.
Als Wendepunkt in der Nutzung sozialer Netzwerke für die Weitergabe der Erinnerung an den Holocaust kann daher auch das 2019 auf Instagram veröffentlichte Social-Media-Projekt Eva Stories gelten, das nicht zufällig auf private und institutionell ungebundene Initiatoren zurückgeht. Der israelische Unternehmer Mati Kohavi und seine Tochter Maya hatten dem Projekt das Tagebuch der jungen jüdischen Ungarin Eva Heyman zugrunde gelegt. Auf Basis von Heymans Erfahrung der deutschen Besatzung und Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns wurden mehrere mit Schauspieler*innen und im Look der Instagram Stories aufbereitete Kurzepisoden erstellt. Hashtags, Geo-Location Tags, Emojis und kurze Textüberblendungen ergänzten die ausschließlich mit einem Mobiltelefon und aus der Perspektive von Eva als POV- oder Selfie-Aufnahmen gedrehten Clips. Trotz anfänglicher Skepsis erreichte Eva Stories Millionen von Followern, als die Segmente im Verlauf des israelischen Holocaust Gedenktages 2019 auf Instagram hochgeladen wurden. Die Bedeutung des Projekts zeigte sich dann angesichts der COVID-19 Pandemie und der damit verbundenen Restriktionen, als viele Gedenkstätten und Museen die sozialen Medien als direkten und partizipativen Weg der Kommunikation entdeckten.
Die zahlreichen in den vergangenen Monaten von Gedenkstätten und Museen initiierten digitalen Projekte verdeutlichen daher eine veränderte Nutzung sozialer Netzwerke, aber auch eine vielfältige und oft experimentelle Verwendung digitaler Technologien, insbesondere der leicht zugänglichen und einfach zu handhabenden Smartphone-Kamera. Kurzvideos wurden in verschiedenen Formen und Formaten zu einem sehr effektiven Mittel, (inter-)aktive und partizipative Zugänge zu den historischen Orten und der Erinnerung an den Holocaust aus der Distanz heraus zu ermöglichen.
Für viele Gedenkstätten stellte sich mit dem Beginn der Schließungen im März 2020 zunächst die Frage, wie die geplanten Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung in digitale Formen des Gedenkens übersetzt werden könnten. Auch wenn die meisten KZ-Gedenkstätten sich schnell für eine Verlegung der Gedenkfeiern entschieden, war doch klar, dass auch in Zeiten der Pandemie das Gedenken an den Holocaust öffentlich sichtbar gemacht werden müsste. Dazu boten sich digitale Vermittlungsstrategien an. Zurückgreifen konnten die Gedenkstätten dabei unter anderem auf eine Initiative, die bereits im Vorfeld der Jahrestage und damit vor Ausbruch der Pandemie entwickelt worden war. Unter dem Hashtag #75Befreiung sollten Beiträge auf Twitter, Instagram und Facebook sichtbar gemacht und die Aktivitäten der verschiedenen Institutionen vernetzt werden. Bereits zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar 2020 war dieser Hashtag zum Einsatz gekommen. Mit Hilfe extra eingerichteter Bots konnte die Verbreitung der damit verknüpften Posts noch intensiviert werden. Nach der Schließung der Gedenkstätten und der Absage der Veranstaltungen vor Ort bzw. ihrer Überführung in kleine symbolische im Fernsehen oder durch soziale Netzwerke übertragene Gedenkakte wurde #75Befreiung zu einer Art virtuellem Gedenkort, der die digitalen Gedenkformate verschiedener Gedenkstätten verknüpfte, bündelte und für Nutzer*innen sichtbar und zugänglich machte.
Damit verbunden waren verschiedene digitale Gedenkinitiativen, die die online verfügbaren Räume nutzten, um digitales Gedenken zu ermöglichen und insbesondere die Stimmen der Überlebenden vernehmbar zu machen. Die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen nutzte beispielsweise #75Befreiung als virtuellen Rahmen für einen digitalen Erinnerungsort, der verschiedene Beiträge zum 75. Jahrestag der Befreiung miteinander verband. Grundlage dafür war die Videoplattform Vimeo. Das insbesondere von Filmemacher*innen und Videokünstler*innen genutzte Portal eröffnete einen angemesseneren Rahmen für digitales Gedenken als die ungleich populärere Plattform YouTube. Zusammengeführt wurden die Beiträge von Gedenkstättenmitarbeiter*innen, Politiker*innen, Vertreter*innen anderer Organisationen und von Überlebenden auf einer eigenen Website, die damit zum Ort des virtuellen Gedenkens wurde. Ergänzt wurden die Videobotschaften noch durch Clips von der in weit kleinerem Rahmen ausgetragenen Gedenkveranstaltung am historischen Ort sowie ursprünglich in anderen Kontexten entstandene Beiträge, wie beispielsweise dem animierten Kurzfilm Am Lagertor. Verbreitet wurden diese und andere Inhalte im Kontext des Jahrestages auch über die Social-Media-Kanäle der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Als Bestandteil eines Online-Jahrestages lud die Stiftung zu einer Teilnahme in „virtuelle Räume der Begegnung und des Austauschs“ ein, „die zu einer ebenso kritischen wie kreativen Beschäftigung mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen“ anregen sollten. Auf diese Weise sollten auch der gemeinschaftliche und der partizipative Charakter des Erinnerns eine Entsprechung in der digitalen Welt finden.
Anders aber als in analogen Gedenkveranstaltungen können sich die Besucher*innen von virtuellen Gedenkorten selbst- und eigenständig durch die verschiedenen Beiträge navigieren. In diesem Sinne ermöglichte die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg eine Form des Online-Gedenkens, das an die Struktur interaktiver Dokumentationen, sogenannter iDocs oder Web-Dokus erinnerte. Über eine Startseite mit einer historischen Fotografie von der Befreiung des Lagers können die User*innen begleitet von der Stimme eines Überlebenden den virtuellen Gedenkort betreten. Von diesem historischen Bild wird dann in eine Panoramaaufnahme des aufgrund der COVID-19-Restriktionen nun verlassenen Gedenkstättengeländes hinüber geblendet. Nach einem kontextualisierenden Text ist es dann möglich, zu einem auf YouTube eingebetteten mehrsprachigen Begrüßungsvideo zu scrollen, bevor sich eine interaktive virtuelle Gedenkwand öffnet, auf der verschiedene Video- und Grußbotschaften, Fotografien und Zitate angeklickt werden können. Auf diese Weise wird es den User*innen ermöglicht, eigenständig Ablauf und Inhalt des Online-Gedenkens zu kuratieren.
Im Vergleich dazu entspricht die Gedenkseite befreiung45.de der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen eher dem Format einer Online-Ausstellung. Sie dokumentiert nicht nur das Gedenken am Jahrestag der Befreiung durch kuratierte Videobotschaften von Überlebenden, der Dokumentation der physischen Gedenkfeier und kurzen Videoporträts der historischen Orte, sondern bietet auch vertiefende Informationen zur Befreiung des Lagers, der Geschichte der Gedenkstätte, Online-Porträts von ehemaligen Häftlingen und Befreiern sowie weiteren historischen Orten, die durch Fotografien, digitale Reproduktionen von Dokumenten und erklärende Texte das Online-Gedenken kontextualisieren. Kernstück des digitalen Gedenkortes ist ein virtuelles Gästebuch, in das User*innen ihre eigenen Botschaften eintragen können.
Das Online-Gedenkprojekt der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stand unter der Überschrift „Was bedeutet der 75. Jahrestag der Befreiung für mich?“ und lud Überlebende, Angehörige und Politiker*innen sowie die Leiter*innen der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme dazu ein, auf diese Frage in kurzen Videos zu antworten. Den Videobotschaften sind Biographien, Transkriptionen und weiterführende Links zu Hintergrundinformationen zu den Personen und den historischen Orten beigefügt, die den virtuellen Gedenkort zu einer Art Online-Archiv werden lassen.
Einen anderen Weg des (inter-) aktiven (Mit-) Gedenkens wählte die israelische Gedenkstätte Yad Vashem. In Ergänzung und Erweiterung der Veranstaltung zum offiziellen israelischen Holocaust Gedenktag, die 2020 vorab auf dem Gelände von Yad Vashem aufgezeichnet und ergänzt um Videobotschaften sowohl im Fernsehen ausgestrahlt als auch auf YouTube gestreamed wurde, konnten Nutzer*innen sozialer Medien unter den Hashtags #RememberingFromHome und #ShoahNames an einer virtuellen Namenslesung teilnehmen. Die mit den privaten Mobiltelefonen aufgezeichneten und auf Instagram oder Facebook hochgeladenen Videos mit den Namen von im Holocaust Ermordeten, wurden dann von der Gedenkstätte zu zwei Filmen zusammengefügt und wiederum über soziale Netzwerke verbreitet. Auf diese Weise konnten die Nutzer*innen aktiv am Gedenken an den Holocaust teilnehmen und die von ihnen genutzten Plattformen in Orte des virtuellen Gedenkens in Zeiten von social distancing transformieren.
Eine ähnliche Form wählte auch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Österreich. Zum Jahrestag der Befreiung im Mai 2020 lud sie Nutzer*innen ein, den Umriss des ikonischen Lagertores auszumalen oder ein eigenes Bild von der Befreiung zu zeichnen bzw. ein Video im Gedenken an die Befreiung zu erstellen. Diese Beiträge fanden sich dann unter einem gemeinsamen Hashtag auf den Social-Media-Kanälen der Gedenkstätte und wurden zu einem Film zusammengeschnitten, der wiederum mit den Followern geteilt wurde. In diesen Formaten zeigen sich neben partizipativen insbesondere auch kreative Elemente, die zum Mitgestalten digitaler Erinnerungsorte einladen.
Neben der Verlagerung des Gedenkens in digitale Umgebungen stand insbesondere die Frage der Zugänglichkeit in Zeiten von Pandemie und Lockdown im Zentrum der Überlegungen. Einige Gedenkstätten begannen bereits sehr schnell auf Grundlage bestehender Social-Media-Konzepte neue Formate zu entwickeln, die der nun stetig wachsenden Community Einblicke in das Gelände und die Geschichte der Gedenkstätten ermöglichen sollten, auch wenn es nicht mehr möglich war, diese physisch zu besuchen. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme reagierte zunächst mit der Umwidmung von geplanten Vorträgen in Online-Lectures und produzierte kurz danach bereits verschiedene Inhalte für die von ihr genutzen sozialen Netzwerke, insbesondere Instagram und Facebook. Iris Groschek, verantwortlich für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Social Media in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung der NS-Verbrechen, berichtet von Livestreams und Chats zu speziellen Themen auf Instagram, die unter dem Hashtag #digitalmemorial gebündelt wurden, von den partizipativen Livestreams #Gegenstandsgeschichten und der Reihe #PrideUntold, einem Instatakeover mit unerzählten Geschichten queerer Häftlinge. Groschek hebt hervor, dass sich die Gedenkstätte angesichts fehlender analoger Besuche für eine schnelle Implementierung digitaler Formate entschieden hatte, die auf das gestiegene Interesse reagieren konnten. Dazu bot sich insbesondere Instagram an, da dort mit einfachen Mitteln dialogische und auch live stattfindende Vermittlungsformate umgesetzt werden konnten.
Ein zentrales Element dieser Aktivitäten waren verschiedene Formen virtueller Besuche der Gedenkstätte und anderer Erinnerungsorte. Dazu gehörten nicht nur Livestreams in den Instagram Stories, die auch später noch auf Instagram-TV (IGTV) dokumentiert werden konnten, sondern auch kleine Formate, die mit kurzen Videos oder Detailaufnahmen mitunter unbekannte oder übersehene Orte auf dem Gedenkstättengelände in den Blick rückten. So porträtierte ein kurzes Video das Lagergefängnis und legte den Blick auf die noch vorhandenen Fundamentfragmente frei. Das Projekt Geschichte liegt im Detail zeigte Detailaufnahmen von Objekten, die die Nutzer*innen durch Wischen über das Display in ihrem jeweiligen Kontext betrachten konnten. Laut Groschek sollten diese Formen virtueller Besuche „die Orte auf dem Gelände ins Digitale übertragen.“ Dabei war es wichtig, „Ernsthaftigkeit und Offenheit auszustrahlen, nicht beliebig zu werden und sehr bewusst den Ort und seine Geschichte(n) zu vermitteln.“
Live-Rundgänge über das Gelände ermöglichen dabei weitergehende Formen der Interaktion, da angelehnt an analoge Gedenkstättenbesuche Fragen gestellt werden können und somit ein Moment von Unmittelbarkeit entsteht. Diese Möglichkeit nutzte auch die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen in einer Reihe von virtuellen Rundgängen auf Instagram. Die User*innen konnten durch die Kommentarfunktion mit den Vermittler*innen auf dem Gelände kommunizieren und diese konnten wiederum durch die direkte Interaktion mit dem aufnehmenden Mobiltelefon auf die spezifischen Besucher*innengruppen reagieren.
Mit etwas Abstand begann auch die KZ-Gedenkstätte Dachau Online-Führungen anzubieten, nachdem zunächst alternative Formate für die abgesagte Befreiungsfeier im Zentrum der Aktivitäten gestanden hatten. Für die Online-Führungen wählte die Gedenkstätte Facebook als Umgebung aus, zum einen, da man dort bereits zuvor aktiv gewesen war, zum anderen aufgrund der einfachen Streamingmöglichkeiten. Steffen Jost, Leiter der Bildungsabteilung an der Gedenkstätte, weist insbesondere auf die Verwendung des Querformates in den Videoaufnahmen der Führungen hin. Damit sollte der Ort in den Mittelpunkt gerückt werden. Der Kommentar der Guides kommt hingegen oft aus dem Off. Die 45 Minuten langen Führungen besuchen weniger bekannte Orte und beleuchten wenig beachtete Aspekte. Der große Zuspruch zu den Online-Rundgängen, das Angebot erreichte im Sommer durchschnittlich 150 Teilnehmer*innen und generierte über 200.000 Klicks auf Facebook, bot eine relativ einfache Möglichkeit zur Produktion von digitalem Content zur Vermittlung von Wissen über die Geschichte des Lagers und der Gedenkstätte für Besucher*innen, die physisch nicht vor Ort sein konnten.
Aus den vielfältigen digitalen Aktivitäten im Bereich der Online-Touren entwickelte sich auch das gemeinsame Projekt #HistoryMatters der drei Gedenkstätten Neuengamme, Dachau und Bergen-Belsen. Mit Hilfe der Videokommunikationsplattform Zoom war es den Teilnehmenden möglich, zeitgleich alle drei Gedenkstätten zu besuchen. Dies ermöglichte auf einzigartige Weise den direkten Vergleich der Lagertopographie und damit ein besseres Verständnis des Systems der Konzentrationslager. Auf diese Weise konnten die Vermittler*innen auch die Geschichten der Orte miteinander verknüpfen. Ein solcher Besuch mehrerer miteinander verbundener aber geographisch entfernter historischer Orte, kann tatsächlich ausschließlich als virtuelle Erfahrung realisiert werden. Durch den Live-Charakter und den dadurch intensivierten Eindruck von Präsenz sowie den interaktiven Charakter der virtuellen Besuche konnte #HistoryMatters die Involvierung der Nutzer*innen sogar noch steigern.
Neben neuen Formen des Gedenkens in Zeiten von social distancing und Formaten, die die historischen Orte auch in Zeiten der Schließung bzw. für entfernte Besucher*innen zugänglich machten, stand für Gedenkstätten insbesondere die Frage nach Möglichkeiten digitaler Vermittlung in der Bildungsarbeit im Fokus. Bereits kurz nach der Schließung begann die Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen mit der Produktion kurzer digitaler Videos, in denen Gedenkstättenmitarbeiter*innen und Vermittler*innen verschiedene Aspekte der Geschichte des historischen Ortes und des Gedenkens beleuchteten. Diese wurden unter dem Titel Bildungsarbeit nun digital über einen Zeitraum von mehreren Monaten auf YouTube zugänglich gemacht und über die Website der Gedenkstätte, Instagram und Facebook verbreitet. Die Videos sind auf einfache und zugängliche Art und Weise produziert, sprechen die Zuseher*innen direkt an, integrieren verschiedene historische Quellen und Medien und enthalten auch interaktive Elemente, da zu jedem Video ein digitales Arbeitsblatt online zur Verfügung gestellt wird. Auf diese Weise wurden zwischen März und Juli fünfzig Videos hergestellt. Diese Videos verbindet der gemeinsame Ansatz, zum genauen Hinsehen anzuleiten und somit den Ort und seine Geschichte sichtbar zu machen. Obwohl die Videos den Besuch des Ortes nicht ersetzen können, bieten sie doch Möglichkeiten der Auseinandersetzung aus der Distanz. Entsprechend positiv wurde das Projekt aufgenommen: „Videos in optimaler Länge, gut durchdachte Arbeitsblätter, die einerseits zum Erinnern und Nachdenken und andererseits zum Weiterdenken anregen, eindrucksvolle, auch landschaftliche, Bilder, die dem Erinnerungsort – dem KZ – ein Gesicht geben und die Gedenkstätte vom Abstrakten ins Reale holen. Das ferne Mauthausen ist damit nahe bei uns in Tirol“, schreibt eine Lehrerin in den sozialen Netzwerken über ihre Erfahrung mit dem Angebot. Gerade das Format des digitalen Videos scheint dabei besonders geeignet, diese Konkretisierung der vielschichtigen Geschichte der historischen Orte mit Hilfe filmischer Verfahren und somit auch eine direkte Ansprache zu ermöglichen.
Auch an der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen wurde im Kontext der durch COVID-19 bedingten Schließung eine Reihe von kurzen Videos produziert, die unter dem Titel Perspektiven auf die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Sachsenhausen auf YouTube zugänglich sind. Auch wenn es sich dabei nicht primär um ein digitales Bildungsmaterial handelt und die Kurzvideos zahlreiche Elemente des Formats der virtuellen Besuche aufnehmen, verdeutlicht das Projekt doch viele Grundprinzipien digitaler Vermittlungsarbeit. Die drei- bis fünfminütigen Videos porträtieren einzelne Orte auf dem Gedenkstättengelände und folgen der subjektiven Perspektive der Vermittler*innen. Professionell aufgenommen, besteht ihre Herausforderung in der zeitlichen und räumlichen Beschränkung, was gleichzeitig den Blick über bekannte Narrative hinaus erweitert. Martin Schellenberg, Leiter der pädagogischen Dienste an der Gedenkstätte, sieht in den Videos „herangezoomte Blicke“, die eine „störungsfreie Besichtigung“ erlauben, die es gleichzeitig möglich mache, im Verlauf des Films zu pausieren oder sich das Video noch einmal anzusehen. Thematisch behandeln die filmischen Orts- und Momentaufnahmen wenig bekannte oder schlecht zugängliche Orte, Ikonen sowie kleine und große Objekte. Gezeigt werden Orte der Opfer und der Täter, wobei es gerade bei den Täterthemen wichtig war, die Quellen kritisch zu hinterfragen. Dies wird eindrücklich in einem Beitrag gezeigt, der sich mit dem Fotoalbum eines SS-Wachmannes befasst und Elemente einer visuellen Analyse vor der Kamera demonstriert.
Neben Videos, in denen die Orte, historische Bilddokumente oder Objekte im Zentrum stehen, wurden von Gedenkstätten auch digitale Kurzfilme mit Überlebenden für die digitale Vermittlungsarbeit aus der Distanz produziert. Aufgrund der Reiseeinschränkungen und der besonderen Gefährdung durch COVID-19 war es beispielsweise dem kürzlich verstorbenen Überlebenden Zvi Aviram, der die Zeit der Verfolgung im Versteck in Berlin erlebt hatte, im Juni 2020 nicht möglich, zu einem persönlichen Gespräch anlässlich des Anne Frank Tages nach Berlin zu kommen. In Kooperation mit dem Anne Frank Zentrum produzierte die Internationale Schule für Holocaust-Studien in Yad Vashem daher ein zwanzigminütiges Videogespräch mit Aviram, in dem er unter dem Titel Befreiung ist ein großes Wort über seine persönlichen Erinnerungen an seine Schulzeit in Berlin, die Befreiung und sein Leben nach dem Holocaust spricht. Die Interviewerin nimmt dabei stellvertretend die Position der Zuhörer*innen ein, so dass Aviram durch den Film direkt zu seinem virtuellen Publikum spricht. Der Film wurde dann in dem Online-Seminar Weiterleben nach der Shoah – Ansätze zur Vermittlung von 75 Jahre Kriegsende und Befreiung für junge Lernende vom Desk für die deutschsprachigen Länder der Internationalen Schule für Holocaust-Studien und dem Anne Frank Zentrum pädagogisch aufbereitet und in ein Vermittlungskonzept für junge Lernende integriert.
Gerade Soziale Medien bieten Iris Groschek von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zufolge die Möglichkeit für ein niedrigschwelliges Angebot historisch-politischer Bildung. Menschen können ortsunabhängig erreicht und auch in dialogische Formen eingebunden werden. Wichtig ist es dabei, sachlich auf der Basis eines fundierten storytellings zu kommunizieren. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen. Formen des Online-Gedenkens bieten die Möglichkeit, digital unterschiedliche Perspektiven und Quellen zu kuratieren und dabei den Nutzer*innen die Möglichkeit zu geben, sich selbständig durch Videos, Dokumente, Texte und Aufnahmen der historischen Orte zu navigieren. Virtuelle Besuche ermöglichen den Zugang zu Gedenkstätten aus der Entfernung. Sie können einerseits den Blick auf oft übersehene Details, marginalisierte Perspektiven und schwer zugängliche Orte richten, und diese damit sichtbar und wahrnehmbar machen. Zum anderen ermöglichen sie die direkte Mitwirkung durch Chats oder Emoji-Reaktionen im Kontext von Live-Rundgängen. Gerade digitale Videos bieten sich dabei auch im Rahmen der Vermittlung zur Konkretisierung historischer Sachverhalte, zum besseren Verständnis des vielschichtigen Charakters historischer Orte und für Formen eines dialogischen und im besten Falle aktivierenden Austauschs über die physische, aber auch die wachsende historische Entfernung hinweg an. Als Medium der direkten Ansprache, mit Hilfe von Techniken wie dem suchenden Schwenk oder der Detailaufnahme, durch einfache technologische Lösungen wie dem Smartphone und die Möglichkeit der Verbreitung und partizipativen Teilhabe durch soziale Medien, wird die digitale Kamera so zu einem Instrument der Erkundung entfernter Erinnerungen.
Dieser Aufsatz basiert auf einem an der Hebräischen Universität in Jerusalem durchgeführten Forschungsprojekt über die Erinnerung an den Holocaust in Zeiten von COVID-19. Er stützt sich auf die Dokumentation und Analyse von knapp fünfzig Projekten von Museen und Gedenkstätten, die seit März 2020 entwickelt und online zugänglich gemacht wurden, eine Umfrage über den Umgang von Gedenkstätten mit den durch COVID-19 entstandene Herausforderungen und auf im Oktober 2020 geführte Interviews mit Stephanie Bilib (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Gedenkstätte Bergen-Belsen), Iris Groschek (Öffentlichkeit und Social Media, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen), Steffen Jost (Leiter der Bildungsabteilung, KZ-Gedenkstätte Dachau) und Martin Schellenberg (Leiter Pädagogische Dienste und internationale Jugendbegegnungsstätte, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen).
Die Forschung an diesem Projekt wurde durch ein Fellowship des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und dem European Forum der Hebräischen Universität Jerusalem unterstützt, und im Rahmen des Projekts „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ des Horizon 2020 Research and Innovation Programmes der Europäischen Union (Grant Agreement No. 822670) durchgeführt.
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