Über ihre erste Begegnung mit Emmi Arbel, einer Frau, die als Kind den Holocaust überlebt hat, schreibt Barbara Yelin: „Sie sprach zu jungen Erwachsenen aus der ganzen Welt. Emmi erzählte ihnen ihre Erinnerungen. Danach war es still im Raum. Und ich begann zu verstehen, was für eine schwere Aufgabe es ist, eine Zeitzeugin zu sein.“
Diese schwere Aufgabe haben Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar, drei Comic Künstler*innen, nun versucht in ihrem Genre zum Ausdruck zu bringen.
Ein Comic über die Erinnerungen von vier Kindern, die den Holocaust überlebt haben, das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Obwohl ich schon lange Comicfan bin und weiß, dass man mit Comics durchaus auch ernsthafte Themen und kulturelle Erkenntnisse quasi im Nebenher transportieren kann, konnte ich Comic und den Holocaust nicht zusammenbringen. Ein riskantes Unternehmen. Umso interessierter war ich an dieser Neuerscheinung des C.H.Beck Verlags.
Zunächst gefielen mir einfach die Zeichnungen von Barbara Yelin genauso gut wie in ihrem Buch „Tagebuch eines Zwangsarbeiters“, in dem sie die Geschichte von Jan Bazuin illustriert hatte, übrigens auch ein Buch des Beck Verlags. Und ebenso begeistert war ich von der Arbeit von Miriam Libicki, die die Erinnerungen von David Schaffner in ein Comic „übertragen“ hat und ebenso von dem Stil von Gilad Seliktar, der sich an das schwierige Unternehmen gemacht hatte, die Erinnerung zweier Brüder, also auch gleich zweier Perspektiven in einem Comic auszudrücken. Alle drei Arbeiten haben mich sehr überzeugt.
Mein anfängliches Misstrauen gegenüber dem Unternehmen schwand vor allem deshalb, weil mir deutlich wurde, dass mit den Bildern noch einmal ganz andere Ausdrucksformen möglich sind, andere Ebenen des Bewusstseins angesprochen werden können als mit Worten oder laufenden Bildern. Die Geschwindigkeit des Zugehens auf die schwierige Thematik des Holocaust erfolgt ganz im jeweiligen Tempo der Betrachter*innen. Während bei der Begegnung durch das gesprochene oder geschriebene Wort oft kein Ausweg vor dem Entsetzen bleibt und dadurch ungewollt manche von einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust abgeschreckt werden, können sich die Leser*innen einer Reflexion langsamer annähern. Zunächst wirken Farbe, Form und Gestaltung eher unbewusst und erst beim wiederholten Anschauen wird deutlich, welchen Gräueltaten die Überlebenden als Kinder ausgesetzt waren und lebenslang bleiben.
Dieser sensible Zugang scheint mir ein unschätzbarer Gewinn zu sein, besonders bei der Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen und/oder Menschen mit Widerständen gegenüber dem Thema Holocaust. Ich denke, Graphic Novels bieten noch einmal in ganz anderer Weise Möglichkeiten, schwierige und traumatische Erfahrungen mitzuteilen, als dies geschriebene und gesprochene Worte oder auch videogestützte Interviews können.
Auf ganz neue und besondere Art und Weise wird darüber hinaus ein Prozess deutlich, der von den Künstler*innen und ihren Gesprächspartner*innen gemeinsam durchlaufen wird. Das Erzählen von Erfahrungen verändert dabei nicht nur diejenigen, die diese Erfahrungen gemacht haben, sondern auch ihre Zuhörer*innen (die Künstler*innen) und, so ist zu vermuten, auch die Leser*innen und Betrachter*innen. Der Lebendigkeit von Erinnerungen wird dadurch besonders Rechnung getragen. Sichtbar gemacht in den gelungenen Darstellungen von Vermischung von Vergangenem mit Gegenwärtigem im Leben dieser Zeug*innen, die den Holocaust als Kinder erlebt haben, nehmen heutige Betrachter*innen – mindestens bruchstückhaft – Anteil an diesen Erinnerungen.
Vorgestellt werden die Erfahrungen und Erinnerungen von Emmi Arbel, David Schaffer und Rolf und Nico Kamp. Sie alle vier überlebten den Holocaust.
Emmi Arbel wurde nach Westerbork, Ravensbrück und Bergen-Belsen deportiert. Sie war viereinhalb Jahre alt, als ihr Leben vom Alltag der Lager, vom Alltag des Todes bestimmt wurde und sie lernen musste durchzuhalten, stark zu sein. Ein Zuckerlöffel ihrer Mutter ist ihr Kleinod bis heute, etwas anderes hat sie nicht von ihr.
David Schaffer entging den Lagern, weil seine Eltern mit ihm untertauchten. Die Befehle der Nazis zu missachten half ihm zu überleben. Er und seine Familie leisteten Widerstand, indem sie sich nicht unter die Herrschaft der Nazis beugten, sondern unter widrigsten Umständen, in den Wäldern, in Scheunen und kleinen Hütten, in Hunger und Kälte den Feinden trotzten.
Rolf und Nico Kamp waren acht und fünf Jahre alt als ihre Odyssee durch dreizehn verschiedene Verstecke begann. Ab 1942 lebten die beiden Brüder bei ihnen völlig unbekannten Menschen, die sie bei sich aufnahmen und – wenn Gefahr drohte – weitervermittelten. Rolf und Nico mussten die deutsche Sprache vermeiden, sich an neue Namen gewöhnen, viele Geheimnisse für sich bewahren und sich immer wieder auf neue Lebenssituationen und neue Menschen einstellen.
Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie überlebten, aber auch, dass die Ereignisse bis ins hohe Alter ihr Leben überschatten. Die Graphic Novels transportieren diese unterschiedlichen Erfahrungen auf sehr einfühlsame Weise. Es verwundert nicht, dass diese vier Personen, die den Holocaust als Kinder überlebt haben, sich mit dieser Darstellungsform ihrer Geschichten gut identifizieren können.
Im Buch von Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Seliktar, Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust (erschienen 2022 im C.H.Beck Verlag München) finden sich aber nicht nur die drei Graphic Novels, sondern im Anhang auch eine gezeichnete Vorstellung der Künstler*innen und ihrer Gespräche über ihre Arbeit, Berichte der vier überlebenden Kinder darüber, wie ihr Leben nach dem Holocaust weiterging und sehr gute, detaillierte Hintergrundberichte über das nationalistische Lagersystem, den Holocaust in Transnistrien und das Überleben in Verstecken. Auch die Motive für das Projekt und die Überlegungen zu seiner Durchführung, sowie die Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, werden beschrieben.
Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Selikta: Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust. Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp. Verlag C.H. Beck, München 2022 (2. Auflage), 176 S. Mit 3 Graphic Novels, einem gezeichneten Anhang und einer Karte, Hardcover.