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Vergessene Linien – Die Shoah im Comic vor Art Spiegelmans MAUS

Markus Streb promoviert an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zu Jüdischer Selbstbehauptung in Comics über die Shoah. Daneben beschäftigt er sich mit jüdischen Landgemeinden in Hessen sowie populärkulturellen Reflexionen von Antisemitismus.

  1. Pasamonik, Didier; Kotek, Joël (Hg.) (2017): Shoah et bande dessinée. L'image au service de la mémoire. Paris: Denoel Graphic; Frenzel, Martin (2011): Über Maus hinaus. Erfundene und biografische Erinnerung im Genre der Holocaust-Comics. Von Bernie Krigsteins Master Race bis zu Mikael Holmbergs 26. November. Eine international vergleichende Bestandsaufnahme. In: Ralf Palandt (Hg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics. Berlin: Archiv der Jugendkulturen e.V, S. 206–283.
  2. Siehe beispielsweise: Merten, Thomas (2021): Die Shoah im Comic seit 2000. Erinnern zeichnen. Berlin: De Gruyter; Stańczyk, Ewa (Hg.) (2020): Comic Books, Graphic Novels and the Holocaust. Beyond Maus. London: Routledge; Aarons, Victoria (2020): Holocaust Graphic Narratives. Generation, Trauma, and Memory. New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press.
  3. Chapman, Jane L.; Sherif, Adam; Ellin, Dan (2015): Comics, the Holocaust and Hiroshima. London: Palgrave Macmillan UK, S. 13-28.
  4. Streb, Markus (2019): Von Mäusen, Golems und Sündenböcken. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in europäischen und nordamerikanischen Comics der 1940er Jahre. In: Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher (Hg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild – Zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz. Boston MA: De Gruyter Oldenbourg (Europäisch-Jüdische Studien – Beiträge, 37), S. 353-376. 
  5. Wendland, Jörn (2017): Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern. Köln: Böhlau-Verlag.
  6. Frahm, Ole; Hahn, Hans-Joachim; Streb, Markus (2021): Introduction. In: Ole Frahm, Hans-Joachim Hahn und Markus Streb (Hg.): Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics. Wien: Böhlau, S. 11–31. 
  7. Spiegelman, Art (2011): MetaMaus. A Look Inside a Modern Classic, Maus. New York: Pantheon (Penguin Books), S. 200.
  8. Palandt, Ralf (Hg.) (2021): Anne Frank im Comic. Berlin: Ch. A. Bachmann Verlag.
  9. siehe beispielsweise: Chute, Hillary L. (2016): Disaster Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form. Cambridge, Mass: Harvard University Press, S. 158–161.

Art Spiegelmans MAUS gilt bis heute im Allgemeinen sowohl als Meilenstein für das Erzählen komplexer, historischer und/oder persönlicher Themen im Comic, als auch für die Darstellung der Shoah im Besonderen. Oftmals wird Spiegelmans 1986 und 1991 in zwei Teilen in den USA erschienenes Werk als der erste Comic bezeichnet, der sich mit der Ermordung der Jüdinnen und Juden auseinandersetzte. Dabei wird jedoch oft vergessen, dass MAUS unzählige und dabei ganz unterschiedliche Vorläufer hatte.

Darstellungen dessen, was später unter anderem als Holocaust oder Shoah bezeichnet werden sollte, finden sich bereits in zeitgenössischen Comics der frühen 1940er-Jahre und erscheinen in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich und weltweit.

Diese vor MAUS erschienenen Comics haben ganz unterschiedliche Publikationsformate und -kontexte. Sie reichen von zweiseitigen Geschichten in US-amerikanischen Superheld*innencomics, bis zu über 100-seitigen Erzählungen, vor allem in süd- und mittelamerikanischen Biografie-Comics. Von einfachen Seitenstrukturen bis hin zu komplexem Seiten- und Panelaufbau, schwarz/weiß oder verschiedensten Arten der Kolorierung, finden sich ganz unterschiedliche Stile und Erzählweisen.

Es lassen sich dennoch Aussagen darüber treffen, was in bestimmten geografischen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten typisch, beziehungsweise atypisch für die Darstellungen der Shoah im Comic war. Ich möchte hier einen Überblick über Erzähllinien und zentrale Motive geben, der allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die idealtypische Einteilung nach Jahrzehnten folgt dabei eher pragmatischen als inhaltlichen Überlegungen und dient der Übersichtlichkeit.

Bisher sind nur wenige solcher Überblicksversuche unternommen worden1, eine umfassende Gesamtdarstellung steht weiterhin aus. Darüber hinaus fehlen, mit wenigen Ausnahmen,  wissenschaftliche Analysen oder Einordnungen der hier erwähnten Comics. Wissenschaftliche Forschung widmet sich im Schwerpunkt vor allem Comics, die nach und unter dem Einfluss von MAUS entstanden sind.2

1940er-Jahre: Zeitgenössische Darstellungen

Das Erscheinen von Action Comics #1 im Juni 1938 in den USA – mit Superman auf dem Cover – markierte den Beginn des so genannten Golden Age of Comic Books und der Etablierung des Comichefts (comic book) als gängige Publikationsform für Comics. Bereits kurze Zeit später bezogen sich viele der Geschichten in diesen Heften auf die politischen Ereignisse in Europa im Allgemeinen und die nationalsozialistischen Verbrechen im Besonderen. Während des Zweiten Weltkriegs fanden sich hunderte Darstellungen Hitlers und anderer prominenter Figuren des Nationalsozialismus vor allem in Superheld*innencomics, dem damals dominierenden Genre. Viel seltener wurden Konzentrationslager als Schauplätze in den Geschichten inszeniert.3 Wiederkehrend waren hier beispielsweise Narrative, in denen männliche Superhelden – zumeist weibliche – Lagerinsass*innen befreiten. In diesen frühen Lagerdarstellungen waren die Insass*innen vor allem Oppositionelle oder Angehörige des Widerstands. Auch in comic strips verschiedener Zeitungen gab es während des Krieges vereinzelt Bezugnahmen auf nationalsozialistische Lager.

Der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden wurde in nordamerikanischen Comics während des Krieges nicht direkt thematisiert. Es finden sich vereinzelt indirekte Bezugnahmen, wie beispielsweise auf dem Cover des im April 1945 veröffentlichten Heftes Captain America #46. Captain America und sein Partner Bucky stoppen hier symbolisch die Vernichtung indem sie Deutsche angreifen, die Leichen in einen brennenden Ofen schieben. Besonders in den Jahren 1943 und 1944 erschienen in den USA und Kanada zahlreiche Comics, die zur Bekämpfung von Antisemitismus entstanden, die Vernichtung der Jüdinnen und Juden aber unerwähnt lassen.4

Während die Shoah in zeitgenössischen Comics in den USA also nicht explizit thematisiert wird, ist sie in bildlichen Zeugnissen von Betroffenen auf vielfältige Weise sichtbar. In den Konzentrationslagern und Ghettos entstanden immer wieder „narrative Bildserien“ (Wendland), die sich erzählerischen und darstellerischen Mitteln des Comics bedienten.5 Eine Vielzahl von ihnen setzt sich mit den Bedingungen der Verfolgung auseinander. Andere sind rein fiktiv, wie beispielsweise die Bilderserien von Ivan Polák über drei Rennfahrer, erschienen in der Theresienstädter Jugendzeitschrift Kamerád, oder in Auschwitz entstandene illustrierte Märchen. Charlotte Salomons Werkzyklus Leben? Oder Theater?, der zwischen 1940 und 1942 entstanden ist, weist comicähnliche Elemente wie die Integration von Text und Bild und die Serialität wiederkehrender Figuren auf. Während Arbeiten von Alfred Kantor, wie das Schwarzheide Album, vergleichsweise bekannt sind, gibt es zahlreiche bisher kaum bekannte Bildserien, wie die von Liesel Felsenthal oder Helga Weissová.

Die von dem deutschen Juden Horst Rosenthal 1942 während seiner Internierung in Gurs angefertigte Bildserie Mickey au camp de Gurs zeigt eine Verbindung zwischen der Kunst aus den Lagern und bekannten zeitgenössischen Comicfiguren. In dem 13 Seiten umfassenden Heft ist Mickey Mouse auf satirische Weise mit verschiedenen Situationen im Lager Gurs konfrontiert. Zeichnungen und Bildserien wie die von Charlotte Salomon, Alfred Kantor oder Horst Rosenthal dienten später als Inspiration für die Macher*innen von Comics, die solchen Werken dadurch nachträglich zu mehr Sichtbarkeit verhalfen.6

In Europa lassen sich gegen Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit erste explizitere Bezugnahmen auf das Schicksal der Jüdinnen und Juden finden. So zum Beispiel in La Bête est morte! La Guerre mondiale chez les animaux, einem zweiteiligen, über hundertseitigen Comic, der im November 1944 und im Mai 1945 in Frankreich erschien. Darin gibt es durch zwei Panel, die eine Deportation und eine Erschießung zeigen, Hinweise auf die Verbrechen an Jüdinnen und Juden. In den Niederlanden erschienen 1945 zwei etwa 20-seitige Kriegscomics Ons land uit lijden ontzet (dt. Unser Land vom Leiden befreit) und Ooorlogsprentenboek 2e deel (dt. Kriegsbilderbuch 2ter Teil) von Anton van der Valk alias Ton van Tast. Darin wird der Eindruck erweckt, dass in den deutschen Konzentrationslagern nicht zwischen verschiedenen Gefangenengruppen unterschieden wurde und die meisten Menschen wieder freikamen. Deportationen und Massenmord werden hier nicht erwähnt.

Im November 1945 kam es zur ersten Erwähnung jüdischer Opfer in einem US-amerikanischen comic book, die jedoch auf rein textueller Ebene geschieht. Der Erzähler der zweiseitigen Kurzgeschichte „Lest We Forget“ spricht von schrecklichen Stätten in Europa, in denen „Jews and other non-Aryans“ Opfer waren.

Die erste explizite Bezugnahme auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Comic fand sich 1946 in „The Golem“ von Joe Kubert und Bob Bernstein. Sowohl die Thematisierung der mythischen Figur des Golem, als auch die Darstellung eines Rabbiners, der einen deutschen Soldaten vom Dach einer Synagoge stößt, betonen hier die jüdische Selbstbehauptung. Vor allem aber waren, wie bereits in den frühen 1940er-Jahre, die Opfer des Nationalsozialismus meist Widerstandskämpfer*innen oder Oppositionelle beziehungsweise wurden nicht näher beschrieben.

1950er-Jahre: Rächer:innen und Retter

Darstellungstrends der 1940er-Jahre setzten sich in den 1950er-Jahren zunächst fort und Jüdinnen und Juden sind zumeist, wenn sie überhaupt erwähnt werden, Teil einer von vielen nebeneinanderstehenden Opfergruppen. Comics fügen sich hier nahtlos in allgemeine gesellschaftliche und (populär)kulturelle Trends der Zeit ein. In den USA erschienen nur sehr wenige Comics mit expliziten Bezügen zur Shoah. Die Handlungsorte waren überwiegend früh errichtete, beziehungsweise von den westalliierten befreite Lager. Am häufigsten finden sich Bezüge zum Konzentrationslager Dachau.

Ein Stilmittel, das sich auch in den folgenden Jahrzehnten wiederfindet, ist die Verwendung fiktiver Lagernamen wie „Wulfhausen“ in „The Butcher of Wulfhausen“ (Juli 1953) oder die abweichende Schreibweise historischer Lager wie „Auswiescham“ für Auschwitz in „The First Rocket“ (September 1950) oder „Escape from Maidenek“ (April 1952). Bezüge zu Konzentrationslagern tauchen in den späten 1940er- und 1950er-Jahren in unterschiedlichen Genres wie Romance oder War Comics, vor allem aber in Horrorcomics auf.

Die wohl bekannteste dieser frühen Bezugnahmen ist Bernard Krigsteins und Al Feldsteins „Master Race“ (März-April 1955). Der Comic erzählt von der Begegnung eines ehemaligen KZ-Kommandanten mit einem seiner Opfer während des Nationalsozialismus in einer New Yorker U-Bahn der 1950er Jahre. Der Geschichte mit ihrem Rache-Plot wurde, ebenso aufgrund ihrer formalen Gestaltung, wie auch ihrer Thematisierung nationalsozialistischer Verbrechen, viel Aufmerksamkeit zuteil.

Mit der Wiederholung von Rache-Plots, besonders in Kriegs- und Horrorcomics, zeichnet sich in den 1950er-Jahren ein erster Trend in den Erzählstrukturen ab. In mehr als einem Dutzend comic books rächen sich –  zumeist männliche – Opfer als Untote an ihren ehemaligen Peinigern. Art Spiegelman bezeichnet die von Gewalt- und Rachephantasien geprägten Horror-Comics der 1950er Jahre insgesamt als Reaktion auf und Reflexion der Shoah. Ausgehend von „Master Race“ sagt er im Gespräch mit der Comicforscherin Hillary Chute: „I came to think that all the EC [Entertaining Comics] horror comics were a secular American Jewish response to Auschwitz [...].”7

Ein wiederkehrendes Motiv in diesen Comics sind Gegenstände, die aus der Haut von Gefangenen hergestellt werden. In einzelnen Geschichten wendet sich dies gegen die vormaligen Peiniger: Sie werden selbst gehäutet und zu Gegenständen wie Lampenschirmen verarbeitet. Gerade solche Erzählungen greifen zum ersten Mal die Tätowierungen von Gefangenen auf. In Geschichten wie „The Heap“ (Januar 1949), „Unwelcome“ (Oktober 1949), „Atrocity Story“ (Juni 1952) oder „City of Slaves“ (März 1953) finden sich ab den späten 1940er Jahren erste und durchaus unterschiedliche Darstellungen von Überlebenden.

Europäische Comics zur Shoah sind für die 1950er Jahre bisher kaum bekannt. Die wenigen Ausnahmen sind jedoch wesentlich expliziter als US-amerikanische Comics. Beispielsweise sind in der französischen Comic Zeitschrift Spirou Anfang Januar 1952 in der Reihe „Les Belles Histoires de l’Oncle Paul” zwei kurze Geschichten erschienen, in denen es um schwedische Hilfe für Jüdinnen und Juden während der Shoah geht. Es dauerte dort jedoch bis in die 1960er Jahre, bis weitere Geschichten erschienen, die exklusiv jüdische Opfer thematisierten.

1960er-Jahre: Biografische Comics über Täter und Opfer

Die 1960er-Jahre bieten Anlass, den Blick von Nordamerika und (West)Europa zu lösen und für Comics aus Mittel- und Südamerika sowie Asien zu weiten. Ab spätestens Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich ein internationaler Trend ab, bei dem Comics, die NS-Verbrechen und Konzentrationslager thematisieren, immer regelmäßiger und fast exklusiv Jüdinnen und Juden als Opfer zeigten. Auch in Israel wurden Mitte des Jahrzehnts zum ersten Mal KZ-Gefangene im Comic erwähnt. In Japan begann in den 1960er-Jahren die Darstellung Anne Franks in asiatischen Comics, die bis heute mehrere Dutzend Beispiele umfasst.8

Besonders der Blick auf Comics aus Mittel- und Südamerika zeigt, dass die Shoah ab den 1960er-Jahren zum festen Repertoire von Comics gehört. Vor allem in Mexiko sind neben mindestens zwei Adaptionen der Geschichte Anne Franks aus den Jahren 1962 und 1967 zahlreiche Comics erschienen, die sich mit Biografien von Tätern auseinandersetzen. Exemplarisch seien hier „Eichmann. El Exterminador de Judíos“ (1961) und ein Comic über Eichmann aus der Reihe Aventuras de la vida real aus dem Jahr 1967 genannt. Bereits im Juli 1960 erschien mit El Caso Eichmann ein argentinischer Comic, auf dessen Cover die Verhaftung Eichmanns durch den Mossad, eine Szene in der deutsche Soldaten auf kniende Männer schießen, sowie eine Swastika und ein Davidstern zu sehen sind. Die Veröffentlichung wenige Wochen nach der Verhaftung Eichmanns durch den Mossad zeigt zudem beispielhaft, dass Comics immer wieder unmittelbar auf gesellschaftliche Ereignisse reagieren, die im Bezug zur Shoah stehen. In amerikanischen Comics der Zeit haben die Verhaftung und der Prozess gegen Eichmann keinen so prominenten Niederschlag gefunden. Es finden sich allerdings deutliche visuelle Anspielungen und die Erwähnung Eichmanns in „The Death of Superman“, einem comic book der Superman Reihe aus dem November 1961.

Insgesamt gibt es in US-amerikanischen Comics des Jahrzehnts nur wenige Bezüge zum Schicksal der Jüdinnen und Juden. Wenn, dann handelt es sich vor allem um Kriegs- und Actioncomics des Marvel Verlags. Die Geschichte To Free a Hostage! (August 1965) stellt die erste ausführlichere, wenn auch stark fiktionalisierte und dadurch verfremdete, Bezugnahme auf das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz in nordamerikanischen Comics dar. Der Titelheld Sgt. Fury und sein Team dringen verkleidet in das „Dotschwitz Prizen Campen 13“ ein. Beschreibungen und Darstellungen von Konzentrationslagern wurden ab den 1960er Jahren zunehmend detaillierter. Dennoch dienten sie hier, wie auch noch bis in die 1980er Jahre, vor allem als Hintergrund. Der Fokus liegt häufig auf der Handlung: Heroische (meist männliche) Retter*innen führen einen Auftrag aus, bei dem sie beispielsweise Gefangene befreien müssen.

Mit „The Mad Master of the Murder Maze!“ (Dezember 1969) erschien 1969 eine der ersten Geschichten, in der eine Überlebendenfigur eine prominente Rolle spielt. Auch wird hier zum ersten Mal die Tätowierung eines (ehemaligen) Konzentrationslagergefangenen in Szene gesetzt. Die Zahl der Horrorcomics mit Bezügen zum Nationalsozialismus sinkt in den 1960er-Jahren, nicht zuletzt in Folge gesellschaftlicher Debatten über die Brutalität der Hefte und eine anschließende Selbstzensur der meisten Verlage. Dennoch bleibt die Suche nach Gerechtigkeit mit Hilfe von Rachephantasien dominant, wie in „Experiment in Fear“ (Mai 1967), wo Menschenversuche im Konzentrationslager aufgegriffen werden oder „Reprieve“ (Oktober 1966), wo ein deutscher Täter vor Gericht steht.

In Europa finden sich in den Comics der 1960er-Jahre fast überhaupt keine Bezüge zur Shoah. Eine der wenigen Ausnahmen ist der 1961 in Frankreich erschienene erste Teil von Guy Lebleu - Allô D.M.A., der Martin Bormann im Versteck in Südamerika und die Entführung Adolf Eichmanns thematisiert. Sechs Jahre später erschien in einem französischen Jugendmagazin auf drei Seiten eine der ersten europäischen Comic-Adaptionen der Geschichte Anne Franks mit dem Titel „Le martyre d’une petite juive pendant la guerre. Anne Frank“. Bereits 1962 war ein spanischer Comic mit dem Titel El Diario de Ana Frank“ im Begleitheft zum 1959 veröffentlichten Spielfilm erschienen.

1970er-Jahre: Überlebende und Widerstand

In den 1970er-Jahren kommt es zu einer ersten umfassenden Ausdifferenzierung der dargestellten Motive und Handlungsorte. Neben Konzentrationslagern sind ab jetzt zunehmend Ghettos zentrale Handlungsorte. Auch in den Geschichten dieses Jahrzehnts tauchen fiktionale Lagernamen auf. Dazu zählen: „Totentanz“ in „Totentanz“ (September 1971), „Friehausen“ in „The Liberation“ (Juni 1975) oder „Camp Blucher“ in „Gypsy Shade“ (Oktober 1978).

Motive wie Rache und Widerstand treten besonders in den USA in den Vordergrund. Es kommt zu häufigen Darstellung von Figuren wie Golems oder Überlebenden. Mit mehr als 30 veröffentlichten Geschichten in den USA sind die 1970er Jahre ein neuer quantitativer Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der Shoah im Comic. Die meisten Bezüge zur Shoah erschienen in Heften mit Horror-, Abenteuer- oder Kriegscomics. Im Genre der Superhero-Comics tauchen nun immer häufiger Überlebende der Shoah auf, teilweise über mehrere Hefte einer Serie hinweg. So zum Beispiel Anna Kapplebaum, die ab Herbst 1979 in einem Dutzend Captain America Hefte auftritt und für eine Weile zum festen Repertoire der Nebenfiguren zählt.

Ein bis heute wiederkehrendes Motiv, das sich in den 1970er-Jahren im Comic etabliert, ist das der jüdischen Überlebenden als Rächer*innen. Dabei weisen die Comics häufig Parallelen zu den bereits erwähnten Rache-Narrativen in Horror-Comics der 1950er-Jahre auf, doch nun eben mit eindeutig als jüdisch gezeigten Figuren. Bereits im Januar 1970 erscheint mit „A Face in the Crowd“ eine Horror-Geschichte, die die Rache eines jüdischen Konzentrationslager-Überlebenden erzählt. Anders als in den 1950er-Jahren sind es ab jetzt vor allem Überlebende und keine Wiedergänger, die sich rächen. Auch in „Night of the Reaper“, einer Batman-Geschichte die im Dezember 1971 erschien, versucht sich ein jüdischer Überlebender an seinen vormaligen Peinigern zu rächen. Sein Rachewunsch wird dort von den Moralvorstellungen des Superhelden delegitimiert.

Die Veröffentlichungen in den frühen 1970er-Jahren markieren außerdem eine Wende hin zu der Phase, in der nahezu alle Comics, die Bezüge zu Konzentrationslagern aufweisen, auch die jüdische Identität der dargestellten Opfer betonen. Das geschieht nicht nur durch die Erwähnung in Sprechblasen oder Blocktexten, sondern vor allem durch visuelle Marker, wie beispielsweise Davidstern oder Kippa. Geschichten, in denen die Identitäten der Opfer unerwähnt bleiben, finden sich von nun an keine mehr. In „Gypsy Shade“ aus dem Jahr 1978 taucht zudem zum ersten Mal ein Sinto oder Rom als Opfer des Nationalsozialismus auf. Die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen vor Gericht wird darin ebenfalls thematisiert und knüpft damit an Darstellungstrends der 1960er-Jahre an.

In vielen Comics werden Jüdinnen und Juden vor allem als anonyme Masse dargestellt. Sie bilden einen atmosphärischen Hintergrund, vor dem – zumeist männliche – Protagonist*innen einen Auftrag erfüllen müssen. Das Motiv der „damsel in distress“ findet, wie beispielsweise in „Totentanz“ (August-September 1971), häufig Anwendung. Die Comics öffnen jedoch immer wieder Räume für die Darstellung jüdischer Selbstermächtigung und Selbstverteidigung. Auffallend oft wird in den Action- und Kriegscomics der 1970er-Jahre jüdischer Widerstand aufgegriffen. Zum einen geschieht dies durch wiederholte Bezugnahmen auf die Figur des Golem, wie in den Heften 133 und 134 der The Incredible Hulk Reihe oder Geschichten wie „Thou Shalt Not Kill!“ (November 1972), „The Golem Walks Again!“ (August 1976) oder „The Life and Death of Charlie Golem“ (Oktober 1978). Zum anderen aber auch durch die Inszenierung aktiven Widerstands der Betroffenen selbst. Dabei werden Formen des Widerstands durch Jüdinnen thematisiert, wenn auch zumeist eingebettet in Erzählstrukturen, in denen die Passivität weiblicher Figuren weitestgehend betont wird und sie von männlichen „Helden“ wie dem US-Soldaten „Gravedigger“ in einem 1978 erschienen Dreiteiler der Reihe Men of War gerettet werden. Das Heft „Walls of Blood“ (April 1976) der Reihe Blitzkrieg zeigt die Beteiligung von Frauen während des Aufstands im Warschauer Ghetto im April 1943. Die Reihe ist zudem bemerkenswert, weil sie einer der ersten US-amerikanischen Versuche war, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Shoah vornehmlich aus der Perspektive der Täter*innen darzustellen. Einen solchen Versuch stellt auch das erste Kapitel von Osamu Tezukas Apollo‘s Song aus dem Jahr 1970 dar, das im Original den deutschen Titel „Die Blumen und das Leiche“ [sic!]  trägt. Darin ist der Protagonist ein SS-Mann, der das Opfer der Rache einer Jüdin wird.

Der Fokus der Erzählperspektive auf Nazi-Protagonist*innen fand sich bis dahin vor allem in Comics aus Latein- und Südamerika, wo in den 1970er-Jahren weiterhin Comics über Täter*innen  der Shoah erschienen. Dabei sind die Texte und Bilder der Cover oft sehr explizit. Beispielsweise wird Heinrich Himmler auf dem Cover eines Comics über ihn aus dem Jahr 1970 im Titel als „Himmler. El Quemador de Judíos“ (etwa: „Verbrenner der Juden“) bezeichnet. Neben der Profilansicht Himmlers sind kaum bekleidete Menschen auf dem Weg in ein Krematorium zu sehen.

Im April 1979 tritt eine Überlebendenfigur in einer Geschichte der britischen Reihe Misty auf, die sich mit düsteren Erzählungen vornehmlich an ein weibliches Publikum richtete. In „Mr. Walenski's Secret“ lüftet die jugendliche Protagonistin das Geheimnis des neuen Nachbarn, Jacob Walenski, der eine Kiste mit seiner Häftlingsuniform aus einem Konzentrationslager und einer Fotografie seiner verschollenen Tochter aufbewahrt. Britische Comics stellen die Shoah in den folgenden Jahrzehnten nur sehr selten dar. Die erfolgreiche Kriegscomic-Reihe Commando etwa, die seit 1961 erscheint und inzwischen mehr als 5000 Titel aufweist, erwähnt zunächst vereinzelt Konzentrationslager beziehungsweise das Warschauer Ghetto, ohne Jüdinnen und Juden dabei hervorzuheben. Erst vor wenigen Jahren wurden Antisemitismus und Vernichtung zum ersten Mal zum Thema.

 

Auch Art Spiegelman, heute einer der renommiertesten Comickünstler, begann Anfang der 1970er-Jahre im Kontext der Underground Comix erste eigene Comics zu schaffen, in denen er Familiengeschichte, Nationalsozialismus beziehungsweise Shoah und Trauma miteinander in Dialog setzte. Im Zentrum von Spiegelmans dreiseitiger Geschichte „Maus“ (1972) wie auch dem zweiseitigen „Prisoner on the Hell Planet“ (1973), der später in Gänze Eingang in MAUS gefunden hat, steht das Überleben seiner Eltern. Sein Schaffen lässt sich also in ein Comic-Jahrzehnt einordnen, in dem Überlebende der Shoah zunehmend und dabei immer facettenreicher sichtbar werden.

Es lässt sich nicht genau sagen, wie viele der oben genannten Beispiele Art Spiegelman gekannt hat, als er an „Maus“ und „Prisoner on the Hell Planet“ arbeitete. Abgesehen von zahlreichen Horror-Comics der 1950er-Jahre, dürften es jedoch nicht allzu viele gewesen sein.9 Die bloße Anzahl der Veröffentlichungen ist auch heute, mit den Möglichkeiten digitaler Recherche und weltweiter Vernetzung, kaum systematisch zu erfassen. Es ist auch nicht immer möglich, die entsprechenden Comics als Originale oder Kopie aufzutreiben. Die hier vorgenommene, wie eingangs bereits von mir erwähnt notwendigerweise lückenhafte Bestandsaufnahme, zeigt aber ganz deutlich, dass auch vor Spiegelmans bahnbrechendem Werk MAUS Millionen Menschen auf der ganzen Welt mit dem Phänomen der Darstellung der Shoah im Comic konfrontiert waren. Darüber hinaus gibt es sicher noch einige weitere Beispiele zu entdecken und eine Vielzahl an ganz unterschiedlichen, teils gelungenen, teils kruden Beispielen (wieder) zu lesen.