Abstract
Wie können Barrieren abgebaut werden, um Geschichtsvermittlung inklusiv zu gestalten? Was ist hierbei zu beachten? Wie können mehr gesellschaftliche Gruppen adressiert werden? Ziel ist es, Barrierefreiheit als Mittel zu gesellschaftlicher Partizipation behinderter Menschen auch in der Geschichtsvermittlung umzusetzen.
Einleitung
Barrierefreiheit und auch das übergeordnete Prinzip der Zugänglichkeit sind am Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgerichtet, also konkret an den individuellen Lebensmöglichkeiten innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen unter Beachtung von Zeit und Ort. Hiermit ist die Frage nach Barrieren gestellt, die einzelne Menschen und auch Gruppen von Menschen in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft in unterschiedlicher Weise behindern. Welche Barrieren bestehen in der Geschichtsvermittlung, wie genau und für wen? Und wie lassen sich diese erkennen und abbauen? Im Folgenden wird vorgeschlagen, zuerst Geschichtsvermittlung für alle, inklusive aller behinderter Menschen, zu konzipieren, dann Barrieren bzw. Lernhindernisse zu erkennen und schließlich über Universal Design für alle eine inklusive Gestaltung zu entwickeln.
1 Relevanz von Barrierefreiheit für die Teilhabe aller Menschen
Barrieren sind nicht an sich bedeutend, sondern nur als etwas, das für alle – und spezifisch für bestimmte Gruppen behinderter Menschen – abzubauen ist. Ziel ist es, sie zu erkennen und so zu verringern oder vollständig aufzulösen, dass Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen an der Gesellschaft teilhaben können.
Begreift man Behinderung nicht als Thema Einiger, sondern als gesellschaftliches Thema, dann betrifft es alle, auch in Form intersektionaler Benachteiligung behinderter Menschen (Charlton 2006, Wansing/Westphal 2014 und 2018). Es ist auch zu beachten, dass alle Menschen innerhalb ihres Lebens eine (chronische) Erkrankung oder Beeinträchtigung erwerben können (WHO & World Bank 2011). Menschen sind somit nur zeitweilig nichtbehindert, wofür in den Disability Studies der Terminus „temporarily or momentarily able-bodied“ geprägt worden ist (Zola 1993, 171). Aus dieser Perspektive sind Beeinträchtigungen keine Ausnahme menschlicher Existenz, sondern üblich, sie können als das Reguläre verstanden werden (Hirschberg & Valentin 2020). Damit ist es entscheidend, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht Barrieren begegnen und durch diese nicht behindert werden (Behinderungsbegriff der BRK, Art. 1 Satz 2).
Barrieren sind daher für alle Mitglieder der Gesellschaft relevant. Ihre Bedeutung schärft sich mit dem Ziel der Barrierefreiheit, was für physische Barrieren und die Sinne (Seh- und Hörsinn) betreffende Barrieren vergleichsweise einfach, für einstellungsbedingte Barrieren komplexer nachzuvollziehen ist, weil sich der Abbau von Vorurteilen und negativen Einstellungen gegenüber behinderten Menschen anders gestaltet (Campbell 2009, Wiedemann/Roßberg 2016).
2 Menschenrechte als Analyse-Instrument und normative Grundlage für Politik
Mit der seit dem 26. März 2009 in Deutschland rechtsverbindlich in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) ist der Staat verpflichtet, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (Art. 1 Uabs. 1 BRK). Zu dieser staatlichen Verpflichtung gehören viele Aufgaben, die aus den Erfahrungen behinderter Menschen resultieren und nun in der BRK in Form mehrerer Grundsätze und Menschenrechtsprinzipien sowie Einzelrechten aufgenommen sind. So sind Barrierefreiheit, Chancengleichheit, Inklusion und Nicht-Diskriminierung als Menschenrechts-Grundsätze ausdrücklich genannt (Art. 3 f, e, c, b BRK), Art. 9 BRK führt aus, was unter Zugänglichkeit (Barrierefreiheit gemäß der BRK-Schattenübersetzung) in umfangreichem Maße zu verstehen ist.
Menschenrechtsverträge sind als Antwort auf strukturelle Unrechtserfahrungen zu verstehen, die Einzelne oder Gruppen von Menschen gemacht haben. Menschenrechte sind nicht selbstverständlich allen gegeben, sondern wurden – wie bei den gruppenbezogenen Menschenrechtsverträgen deutlich – gefordert, erkämpft und schließlich von vielen Akteur*innen unterschiedlicher Professionen, den Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen und den Staatenvertreter*innen bei den Vereinten Nationen verhandelt. Diese Entwicklung wird auch an anderen Menschenrechtsverträgen deutlich. Verallgemeinert formuliert, wurden mit den Menschenrechtsabkommen Anliegen von Befreiungs- oder sozialen Bewegungen aufgegriffen, wie beispielsweise der Arbeiter- oder der Frauenbewegung, des Civil Rights Movement der Afroamerikaner*innen und anderer Antirassismusbewegungen, der Bewegungen für die Rechte von Kindern, des Queer Movements sowie der Behindertenbewegungen unterschiedlicher Länder.
Die Beachtung und Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte für behinderte Menschen wurde auch bereits bei der „Bühnenbesetzung der Dortmunder Westfalenhalle zum UNO-Jahr“ 1981 gefordert, als Ausgrenzung kritisiert und Menschenrechtsverletzungen angeprangert wurden: „Keine Reden, keine Aussonderung und keine Menschenrechtsverletzungen!“ (Köbsell 2012, 14f.). Mit diesen Forderungen wurde Partizipation als gesellschaftliche Aufgabe begriffen, was mit der Behindertenrechtskonvention aufgenommen wurde.
Die Äußerungen des Fachausschusses zur BRK bei den Vereinten Nationen, der für das Monitoring des vertragsstaatlichen Handelns verantwortlich ist und die Aufgabe hat, die Auslegung der Konventionsvorschriften zu vereinheitlichen, können dabei als Handlungsleitlinien auch über den juristischen Gebrauch hinaus verwendet werden, um die gesellschaftliche Partizipation behinderter Menschen zu analysieren: Welche Rechte sind umgesetzt und bestehen damit nicht nur passiv, sondern können aktiv ausgeübt und damit gelebt werden? Welche Anforderungen müssen an die Umsetzung gestellt werden und wer ist mit ihr beauftragt? Und was bedeutet dies für die allgemeine Bildungs- und Geschichtsvermittlung insbesondere?
3 Wie können Barrieren als gesellschaftliche Hindernisse erkannt werden?
Durch gesellschaftliche Barrieren sind behinderte Menschen benachteiligt und unterliegen damit Ausschlussprozeduren, die besonders im wirtschaftlichen und sozialen Zusammenspiel wirkmächtig sind (Kronauer 2010). Aus Sicht der Disability Studies ist es unzweifelhaft, dass es die Barrieren und die gesellschaftlichen Benachteiligungen sind, die zu entfernen sind, wie in den Prinzipien der Union of the Physically Impaired against Segregation (UPIAS) auf den Punkt gebracht:
“In our view, it is society which disables physically impaired people. Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society. Disabled people are therefore an oppressed group in society. It follows from this analysis that having low incomes, for example, is only one aspect of our oppression. It is a consequence of our isolation and segregation, in every area of life, such as education, work, mobility, housing, etc. Poverty is one symptom of our oppression, but it is not the cause (UPIAS 1975, 3f.)
Diese Positionierung bildet das Fundament des Sozialen Modells von Behinderung, das von der britischen Behindertenbewegung entwickelt wurde. Mike Oliver, der häufig als Vater des Sozialen Modells bezeichnet wird, fasst als einer der britischen Begründer*innen der Disability Studies zusammen, wie Behinderung in den letzten 100 Jahren konstruiert wurde: Zum einen als medizinisches Problem, das möglichst geheilt oder gelindert, und zum zweiten als soziales Problem, das sozial versorgt werden soll:
“In the past 100 years or so, industrial societies have produced disability first as a medical problem requiring medical intervention and second as a social problem requiring social provision. Research, on the whole, has operated within these frameworks and sought to classify, clarify, map and measure their dimensions” (Oliver 1992, 101). Die von Oliver kritisierte Perspektive auf behinderte Menschen wurde jedoch ergänzt um eine soziale bzw. menschenrechtsbasierte Forschungsperspektive (Hirschberg 2014).
Doch nicht erst mit Entwicklung der BRK seit 2001 und ihrer Verabschiedung durch die Vereinten Nationen Ende 2006, sondern bereits nach den beiden Weltkriegen wurden statt der Beeinträchtigung die gesellschaftlichen Hindernisse in den Mittelpunkt gestellt. Das Bestreben der Wiedereingliederung nach dem zweiten Weltkrieg und die Behindertenrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre als treibende Kraft in den USA sind Faktoren, die zur Entwicklung des Konzepts des Universellen Designs geführt haben (Paul 2010; Frankenstein 2018, 229), was als Universal Design for Learning auch für die Geschichtsdidaktik relevant ist (vgl. Hirschberg/Stobrawe 2022, Hillebrandt et al. 2022). Des Weiteren hat Universelles Design in die Behindertenrechtskonvention Eingang gefunden und dadurch die Orientierung an einem weiten Verständnis von Barrierefreiheit vertieft.
4 Schlussfolgerungen: Reflexion gesellschaftlicher Barrierefreiheit für inklusive Bildungsangebote
Beeinträchtigungen können nicht verhindert werden, eine passende technische oder personelle Assistenz ermöglicht jedoch volle gesellschaftliche Teilhabe.
Die Verpflichtung, Barrieren erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. sie abzubauen und hierbei auch die Prinzipien Universellen Designs umzusetzen, erfordert, Methoden zum Barriereabbau zu kennen: Das sind z.B. Screenreader-taugliche Textformate für sehbehinderte Menschen, Untertitel unter Filmen für hörbehinderte Menschen, Texte in einfacher Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Barrierefreiheit lässt sich besonders dann als Mittel zu gesellschaftlicher Partizipation verstehen, wenn der staatlichen Umsetzungsverpflichtung Rechnung getragen wird und Barrierefreiheit auch im Sinne von Universellem Design geschaffen wird. Eine gesellschaftsorientierte Erhebung von Barrieren ist also möglich und bereits wissenschaftlich fundiert. Hiermit kann die staatliche Verpflichtung umgesetzt werden, Barrieren zu erfassen und abzubauen, damit alle behinderten Menschen an der Gesellschaft vollständig und gleichberechtigt teilhaben und in Würde leben können (Hirschberg & Valentin 2020).
Die Perspektive der Disability Studies bzw. auch von Behindertenrechtsbewegungen wird bisher weniger beachtet als die traditionell starke, individuumsorientierte medizinischer und Gesundheits-Professionen. Der Zugang zu gesellschaftlichen Einrichtungen dient jedoch auch der Ausübung individueller Freiheiten und deren Ermöglichung a priori durch barrierefreie Gestaltungen von Lernorten, Lernobjekten und auch institutionellen Lernbedingungen und Bildungsangeboten ohne Vorurteile, also ohne einstellungsbedingte Barrieren.
Wenn also Barrieren abgebaut werden, ist dies nicht nur für behinderte Gesellschaftsmitglieder, sondern auch für alle anderen als potentiell zukünftig selbst behinderte Menschen nützlich. Dementsprechend ist zu empfehlen, in eine barrierefreie, inklusive Gestaltung von Bildungsangeboten und Bildungsräumen zu investieren, um den Zugang für alle zu ermöglichen.
Literatur
Campbell, Fiona Kumari (2009): Contours of Ableism. The Production of Disability and Abledness, London: palgrave
Charlton, James (2006): The Dimensions of Disability Oppression: An Overview. In: Davis, Lennard (Hg.): The Disability Studies Reader. New York: Taylor & Francis, 217-227
Frankenstein, Arne (2018): Universelles Design und Zugänglichkeit der Arbeitsplätze. In: Wansing, Gudrun/Welti, Felix/Schäfers, Markus (Hg.): Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen. Internationale Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, 227-245
Hillebrandt, Clemens/Schulden, Matthias/Pöchmüller, Viktoria/Hasenbein, Lisa/Sachenbacher, Susanne/Hölzlwimmer, Stefanie/Trautwein, Ulrich/Schreiber, Waltraud (2022): Teilhabe durch historische Kompetenzen. Die KLUG-Konzeption einer evidenzbasierten Lehrkräftebildung für inklusiven Geschichtsunterricht, In: S. 115-130
Hirschberg, Marianne/Valentin, Gesche (2020): Verletzbarkeit als menschliches Charakteristikum. In: Brehme, David/Fuchs, Petra/Köbsell, Sabine/Wesselmann, Carla (Hg.): Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim: Beltz Juventa, 89-95
Hirschberg, Marianne/Stobrawe, Helge (2022): Ein Fortbildungsmodul für eine Inklusive Erwachsenenbildung. Das Projekt INAZ – Ein Mixed-Methods-Ansatz für die Ermittlung von Qualifikationen und Bedarfen in der Alphabetisierung und dem Zweiten Bildungsweg, In: 2022, S. 75-88
Hirschberg, Marianne (2014): Ethische Richtlinien für Forschung und Wissenschaft – Menschenrechtsbasierte Grundlagen gemäß Artikel 31 der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Mührel, Eric & Birgmeier, Bernd (Hg.): Perspektiven sozialpädagogischer Forschung. Methodologien – Arbeitsfeldbezüge – Forschungspraxen. Wiesbaden: VS, 347-380
Köbsell, Swantje (2012): Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst)-Verständnis von Behinderung. Neu-Ulm: AG SPAK
Kronauer, Martin (2010): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt/Main: Campus
Oliver, Michael (1992): Changing the Social Relations of Research Production? In: Disability, Handicap & Society, 7 (2), 101-114
Paul, Catherine (2010): Disability Rights & Universal Design. In: Social Welfare History Project (Abrufdatum: 13.05.2022)
Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) (1975): Fundamental Principles of Disability, London
Wansing, Gudrun/Westphal, Manuela (Hg.) (2014): Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität. Intersektionalität. Wiesbaden: VS
Wansing, Gudrun/Westphal, Manuela (Hg.) (2018): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste. Wiesbaden: Springer VS
Wiedemann, S./Roßberg, K. (2016): Barrierefreiheit für psychisch kranke Menschen, was ist das? In: Psychosoziale Umschau 3, Psychiatrie & Gemeinde, S. 4-5
World Health Organisation & World Bank (2011): The World Report on Disability. New York
Zola, Irving Kenneth (1993): »Self, Identity and the Naming Question: Reflections on the Language of Disability«. In: Social Science and Medicine, 36 (2), S. 167–173