Über 150 Schüler*innen der Kölner Elly-Heuss-Knapp-Realschule haben ein beeindruckendes Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus gesetzt. Sie haben insgesamt neun Bilderbücher erstellt, in denen die Geschichten von Überlebenden des Holocaust dargestellt werden.
Als Grundlage für die Texte diente den Schüler*innen das Buch „Wir haben das KZ überlebt“ von Reiner Engelmann. So entstanden mit Unterstützung von den Geschichts-, Deutsch-, Politik- und Kunstlehrer*innen der Schule Bilderbücher über Esther Bejarano, Erna de Vries, Karol Tendera, Eva Mozes Kor und Heinz Hesdörffer. Einige Schüler*innen und Lehrkräfte haben Zeitzeugen sogar persönlich getroffen: Edward Paczkowski im Jahre 2011 in Auschwitz, Rena Rach 2019 im jüdisch-galizischen Museum in Krakau und Penina Katsir im gleichen Jahr in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Penina kam für ihren Vortrag aus ihrer neuen Heimatstadt Jerusalem und verbrachte anschließend einige Stunden mit den Schüler*innen in einem Workshop. Die Auschwitz-Überlebende Philomena Franz, die im Juli 100 Jahre alt wird und ganz in der Nähe der Kölner Realschule wohnt, stand noch im Januar mit Schüler*innen der Geschichts-AG zu Dreharbeiten für einen Spielfilm in der Aula der Schule zur Verfügung.
Auf der Basis dieser Quellen haben die besten Zeichner*innen der Schule die Illustrationen angefertigt. Einige Schüler*innen erhielten in den Ferien eine zeichnerische Sonderförderung in einer Kölner Kunstakademie.
Die Texte sind leicht verständlich, schließlich sind die Bilderbücher von 14-16 jährigen Schüler*innen geschrieben worden, und sie sind zum Lesen für andere Jugendliche gedacht.
So heißt es beispielsweise im Bilderbuch „Esther Bejarano“:
„Kurz nachdem wir in Auschwitz ankamen, bekam ich die Häftlingsnummer 41948 eintätowiert. Eine so hohe Zahl! Wenn das wirklich Registriernummern sind…Wo sind dann die ganzen anderen Menschen? Sind sie etwa alle hier?“
Und in der Überlebensgeschichte von „Rena Rach“:
„Im März 1941 errichteten die Deutschen südlich der Weichsel das Krakauer Ghetto. Dort brachte mich meine Mutter am 12. Mai 1941 zur Welt. Oft klebte sie mir ein Pflaster auf den Mund, damit die SS mich nicht hören konnte. Mein Schreien hätte die genervten Wachen zu ungeahnten Handlungen verleiten können. Mein Vater musste in das KZ Plaszow, in dem der brutale Kommandant Amon Göth sein Unwesen trieb. Später erfuhr meine Mutter, dass er von Schindler auf dessen Liste gesetzt worden war.“
Die Bilderbücher sollen Anregung sein, sich mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust auseinanderzusetzen. Sie enthalten auf insgesamt 34 Seiten neben der Überlebensgeschichte historisches und pädagogisches Begleitmaterial, so dass sie für den Einsatz im Schulunterricht geeignet sind.
Die Materialien umfassen Zeitleisten, Erklärungen wichtiger Begriffe, Hintergrundinformationen, Literatur- und Filmempfehlungen sowie Aufgaben und Anregungen für den Unterricht.
Das pädagogische Begleitmaterial mit unterschiedlichem Anspruchsniveau bietet den Schüler*innen zahlreiche Möglichkeiten zur selbständigen Auseinandersetzung mit dem Thema. Es ist für unterschiedliche Schulformen der Sekundarstufe 1 geeignet und auch für den Unterricht im gemeinsamen Lernen (GL, Inklusion) gedacht. Ebenfalls empfehlenswert ist die Verwendung für Schüler*innen in sogenannten Deutsch-Förderklassen, also Lerngruppen unterschiedlicher Herkunft (zumeist Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Osteuropa, Afrika und aktuell auch aus der Ukraine) und mit Altersunterschieden von bis zu 5 Jahren.
Der inhaltliche Aufbau der Bilderbücher unterliegt folgender Struktur:
1.) Einleitender Teil
- Ein bedeutendes Zitat des Holocaust-Überlebenden ist eingebettet in interessante Schüler*innenäußerungen:
Die Zeitzeugin Philomena Franz: „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich.“
Schülerin: „Ich möchte den Überlebenden Respekt zollen und sie ehren. Ich möchte den Antisemitismus bekämpfen und Verantwortung für eine friedliche Gegenwart und Zukunft übernehmen.“
- Der Schriftsteller Reiner Engelmann stellt in seinem Vorwort klar, dass man durch die aktive Auseinandersetzung mit den Überlebenden der Shoah selbst zum Zeitzeugen wird und somit aus den Gräueln der Vergangenheit die richtigen Rückschlüsse für die Gegenwart und Zukunft ziehen kann. Ein Aspekt, der meines Erachtens durch den russischen Angriffskrieg eine besondere Bedeutung erlangt.
2.) Hauptteil und Informationsmaterial
- Die mit einfachem Text und Zeichnungen illustrierte Geschichte des/der Zeitzeug*in.
- Es sind immer 2 Zeitleisten gut sichtbar auf einer Doppelseite untereinander gestellt: Eine biografische Zeitleiste vom Geburtsjahr des/der Zeitzeug*in bis in die Gegenwart und eine weitere mit wichtigen Daten der deutschen und internationalen Geschichte vom Versailler Vertrag 1919 bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der BRD 1965.
- Kurze Basisinformationen zu den Hauptverbrechern Hitler, Himmler, Heydrich, Goebbels, Eichmann und Höß.
- Ein Glossar mit der Erläuterung wichtiger Begriffe wie beispielsweise Antisemitismus, „Endlösung der Judenfrage“, SS.
- Hintergrundwissen: Sinti und Roma, das jüdische Ghetto in Krakau, der Holocaust in Rumänien, „Halbjuden“ sowie das KZ Ravensbrück.
3.) Pädagogisches Begleitmaterial mit unterschiedlichem Anspruchsniveau und als Anregung zur unterrichtlichen Arbeit
Einige Beispiele aus dem Buch „Esther Bejarano“:
- Bevor du dich mit der Geschichte beschäftigst: Welche Vorerfahrungen gibt es bei dir und in deiner Familie zum Nationalsozialismus und Holocaust? Was hat die Thematik mit dir zu tun?
- Nachdem du die Geschichte gelesen hast: Wie fühlst du dich nach dem Lesen der Geschichte? Was war Esther damals und was ist ihr heute wichtig? Was würdest du noch gerne über sie erfahren? Welche Dinge würdest du ihr gerne über dein eigenes Leben erzählen? Was ist dir eigentlich in deinem eigenen Leben wichtig?
- Produktionsorientierte Aufgaben zur Vertiefung des Textverständnisses: Esther entdeckt 1972 den NPD-Stand vor ihrer Boutique. Welche Gedanken gingen ihr wohl durch den Kopf? Verfasse einen inneren Monolog.
- Zum Nachdenken und Diskutieren: Besprecht und diskutiert §2, Absatz 2 des NRW-Schulgesetzes („Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung“). Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Demokratie funktioniert?
- Zum Weiterarbeiten: Wie findest du es, in eine Klasse mit Schüler*innen aus verschiedenen Ländern zu gehen? Kennst du jemanden, der aufgrund seiner Herkunft oder Religion gemobbt wird? Warum sind manche Menschen fremdenfeindlich? Was denkst du über politische Parteien, die gegen Migrant*innen, Ausländer*innen und Geflüchtete sind? Begründe deine Aussage.
- Zum Nachdenken und Diskutieren: Zitate der AfD-Politiker Weiland, Gauland und Höcke werden Zitaten der liberalen Politiker Laschet, Maas und Steinmeier gegenübergestellt. Zum Beispiel:
Weidel: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse (…) werden unseren Wohlstand…nicht sichern…Dieses Land wird von Idioten regiert (…)“
Laschet (CDU): „Judenhass, Ausgrenzung und Diskriminierung haben hier keinen Platz! Nicht auf den Straßen, nicht im Internet und nicht auf unseren Schulhöfen - nie wieder! Nie wieder - dies muss in unseren Köpfen tief verankert sein, muss unser aller Handeln und Entscheiden prägen und muss Teil deutscher Staatsräson sein.“
- Der Holocaust in der Musik: Höre dir die Stücke „Die Moorsoldaten“ und „Donna Donna“ an, lies und besprich anschließend die Texte und auch die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte.
- Die Lektüre und Besprechung der Bilderbücher soll Wissen vermitteln und vor allen Dingen auch Neugier bei den Schüler*innen wecken. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust darf sich allerdings nicht nur auf die Wissensvermittlung im Geschichtsunterricht beschränken. Die Kenntnisse der damaligen Gräueltaten müssen zu einer Haltung führen, die sich in Werten wie Nächstenliebe und Übernahme von Verantwortung für eine friedliche Gesellschaft manifestiert.
In einer Zukunft ohne Zeitzeug*innen ist die Weiterführung der Zeugenarbeit ein besonderes Anliegen. Die Bilderbücher sind somit ein Beitrag im Engagement gegen Leugner*innen und Bagatellisierer*innen des Holocaust sowie gegen antisemitisch und rassistisch motivierte, populistische Hetzparolen, die gegenwärtig von einigen Politiker*innen und im Internet propagiert werden. Diese Entwicklungen sind auch international erkennbar. Die in einigen europäischen Ländern erstarkten nationalistisch, rechtsorientierten, europafeindlich und sprachlich aggressiv auftretenden Parteien und Gruppierungen sind eine große Herausforderung für das demokratische Europa. Der aktuelle Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich demonstriert dies eindrücklich.
Nur die Wenigsten hätten sich bis zum 24.02. vorstellen können, dass es in Europa nach Hitlers Überfall auf Polen sogar nochmals zu einem Angriffskrieg kommt. Auch das Vokabular und Elemente der nationalsozialistischen Ideologie kommen wieder zum Vorschein, wenn Putin davon spricht, die Ukraine von Nazis befreien zu wollen.
Wir befinden uns nun in mehrfacher Hinsicht in einer Zeitenwende und sind aufgefordert, in allen relevanten Bereichen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen.
Mit diesen dramatischen Entwicklungen konnten wir bei der Entstehung der Bilderbücher nicht im Entferntesten rechnen.
Die Reihe „Bilderbücher gegen das Vergessen“ wurde 2020 mit dem Margot-Friedländer-Geschichtspreis ausgezeichnet.
Auf der Homepage der Elly-Heuss-Knapp-RS Köln (www.ehk-koeln.de) sind die Bücher verlinkt und somit einsehbar.